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Festkörperphysik: Kommt jetzt das goldene Zeitalter der Supraleiter?

Zurückgezogene Arbeiten, Plagiate, unsaubere Analysen: Die Festkörperphysik machte in den vergangenen Monaten Negativschlagzeilen. Fachleute blicken dennoch optimistisch in die Zukunft.
Supraleiter
Fachleute suchen nach Supraleitern, die bei möglichst hohen Temperaturen funktionieren.

Im November 2023 zog das Fachjournal »Nature« mal wieder eine Veröffentlichung aus dem Bereich der Festkörperphysik zurück. Damit wurde auch die jüngste von drei kürzlich erschienenen Arbeiten zu Raumtemperatur-Supraleitern angezweifelt und widerrufen. Die Forscher hatten darin behauptet, ein Material hergestellt zu haben, das Strom widerstandsfrei leitet, ohne gekühlt werden zu müssen.

Der Widerruf ereignete sich kurz nach dem Hype um den angeblichen Supraleiter LK-99, der im Sommer 2023 für Furore in den sozialen Medien sorgte. Doch trotz dieser Rückschläge sind sich Festkörperphysiker sicher, dass das Gebiet eine Art Renaissance erlebt. »Die Disziplin stirbt nicht aus – im Gegenteil«, sagt etwa die theoretische Physikerin Lilia Boeri von der Universität La Sapienza in Rom. Zum Teil wird der Fortschritt in dem Bereich auch durch die neuen Möglichkeiten von Computersimulationen vorangetrieben, mit denen sich die Existenz und die Eigenschaften von bisher unentdeckten Materialien vorhersagen lassen.

Ein Großteil der Aufregung konzentriert sich auf so genannte Superhydride: wasserstoffreiche Materialien, die bei hohen Temperaturen supraleitend sind, solange sie unter hohem Druck gehalten werden. Im zurückgezogenen »Nature«-Artikel beschrieben die Forschenden ein solches Material, das aus Wasserstoff, Lutetium und Stickstoff besteht. In den vergangenen Jahren wurden aber auch weitere Stoffe entdeckt, die erstaunliche Eigenschaften haben könnten. »Es sieht wirklich so aus, als stünden wir kurz davor, zahlreiche neue Supraleiter zu finden«, sagt der Physiker Paul Canfield von der Iowa State University in Ames.

Supraleitung entsteht generell, so lautet die 1972 mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Theorie, wenn sich Elektronen in einem Festkörper zu »Cooper-Paaren« zusammenschließen. Dadurch können sich viel mehr Elektronen als üblich synchron im Material bewegen und leiten somit Strom, ohne Abwärme zu erzeugen.

»Es sieht wirklich so aus, als stünden wir kurz davor, zahlreiche neue Supraleiter zu finden«Paul Canfield, Physiker

In den zuerst entdeckten Tieftemperatur-Supraleitern bilden sich Cooper-Paare, wenn die Elektronen durch Schwingungen im Material zusammen angestoßen werden: Wie Surfer auf einer Welle reiten sie mit den mechanischen Schwingungen durch das Material, ohne auf Widerstand zu stoßen. Bis Mitte der 2000er Jahre gingen Fachleute davon aus, dass dieser Mechanismus nur bei extrem tiefen Temperaturen von bis zu etwa 40 Kelvin (rund –233 Grad Celsius) stattfinden kann. Supraleiter, die aus einem einzigen Element bestehen, benötigen sogar Temperaturen unterhalb von 10 Kelvin (zirka –263 Grad Celsius), um diese Eigenschaft zu zeigen. Magnesiumdiborid, ein solcher gewöhnlicher Supraleiter, den ein Team unter der Leitung von Jun Akimitsu an der japanischen Universität Okayama im Jahr 2001 entdeckte, stellt mit 39 Kelvin bis heute einen Temperaturrekord auf.

Der theoretische Physiker Neil Ashcroft legte 2004 die Grundlage für Superhydride. Damals sagte er voraus, dass bestimmte Elemente mit Wasserstoff Verbindungen eingehen könnten, die noch bei hohen Temperaturen supraleitend sind. Dafür müsste man sie jedoch unter hohen Druck setzen, damit die Wasserstoffatome eng zusammenrücken.

Nach Ashcrofts Theorie würde die Nähe der Wasserstoffatome die Frequenz der mechanischen Schwingungen erhöhen, wodurch das Material auch bei hohen Temperaturen seine Supraleitfähigkeit behalten könnte. Doch die Sache hat einen Haken: Um überhaupt existieren zu können, müssten einige dieser Stoffe unter einem Druck stehen, der mit dem im Erdkern vergleichbar ist.

Fortschritte bei Hochdruckexperimenten an winzigen Proben in Diamantstempelzellen führten 2015 zu einem Durchbruch, als das Team um den Physiker Mikhail Eremets vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz erstmals Supraleitung im Superhydrid Schwefelwasserstoff nachwies. Seitdem haben Fachleute die Existenz mehrerer anderer supraleitender Materialien aus dieser Familie vorhergesagt – von denen einige nachgewiesen wurden, darunter käfigartige Strukturen auf Kalziumbasis, so genannte Clathrate.

Der bislang »heißeste« Supraleiter ist ein Material namens Lanthandecahydrid, ebenfalls ein Superhydrid, das unter Druck bei Temperaturen von bis zu 250 Kelvin (zirka –23 Grad Celsius) Strom widerstandsfrei leitet.

Fortschritte bei Simulationen

Eremets und andere Fachleute erklären, dass das Zusammenspiel von Theorie, Simulation, Materialsynthese und Experiment die Forschung vorangetrieben hat. Seit Anfang der 2000er Jahre sagen Simulationen recht zuverlässig vorher, ob ein Material mit einer bestimmten Kristallstruktur und chemischen Zusammensetzung ein Supraleiter sein könnte – und bei welchen Temperaturen mit dieser Eigenschaft zu rechnen ist. Der nächste große Fortschritt kam durch Algorithmen, die nicht nur die Eigenschaften eines Materials vorhersagen, sondern auch, welche Stoffe aus vorgegebenen Elementen überhaupt entstehen können. »Bis dahin wussten wir nicht, ob eine Verbindung wirklich existieren kann«, sagt Boeri.

Die 2015 veröffentlichten Laborexperimente, die Schwefelwasserstoff als supraleitend identifizierten, bestätigten die ein Jahr zuvor durchgeführten Computersimulationen. Ohne die rasanten Fortschritte bei der Strukturvorhersage wäre die Entdeckung von wasserstoffreichen Supraleitern »wahrscheinlich erst 100 Jahre später erfolgt«, sagt der Materialwissenschaftler Artem Oganov vom Skolkovo Institute of Science and Technology in Moskau. Seine evolutionären Algorithmen berechnen die atomare Anordnung mit der niedrigsten Energie (und damit der höchsten Wahrscheinlichkeit, stabil zu bleiben) für einen bestimmten Druck.

Simulationen sind besonders wichtig, um das Verhalten von Materialien bei hohem Druck vorherzusagen. Unter diesen Bedingungen werden die Atome so dicht aneinandergedrängt, dass sie nicht nur über ihre Außenelektronen, sondern auch über ihre inneren Elektronen wechselwirken – was die Grundregeln der Chemie über den Haufen wirft. Ein Beispiel dafür ist Lithiumhexahydrid, das nur bei hohem Druck existieren kann. »Jeder, der Chemie studiert hat, würde Ihnen sagen, dass so etwas wie LiH6 nicht stabil sein kann«, sagt die Chemikerin Eva Zurek von der University at Buffalo in New York.

Zeitstrahl: Meilensteine der Supraleitung

1911: Supraleitfähigkeit beobachtet
Der Physiker Heike Kamerlingh Onnes stellt fest, dass der elektrische Widerstand von festem Quecksilber auf null sinkt, sobald eine »Übergangstemperatur« von 3 Kelvin (zirka –270 Grad Celsius) unterschritten wird. In der Folge wurden weitere reine Metalle entdeckt, die alle eine Übergangstemperatur von weniger als 10 Kelvin aufweisen.

1957: Supraleitfähigkeit erklärt
Die theoretischen Physiker John Bardeen, Leon Cooper und John Robert Schrieffer beschreiben einen Mechanismus, heute unter dem Kürzel BCS bekannt, der die Entstehung von Supraleitung erklärt. Stoffe, deren widerstandsfreier Stromtransport sich auf diese Weise erklären lässt, heißen gewöhnliche oder konventionelle Supraleiter.

1986: Entdeckung der Cuprate
Die zwei IBM-Physiker Georg Bednorz und Alexander Müller beobachten, dass ein Material auf Kupferbasis bei 35 Kelvin (zirka –238 Grad Celsius) supraleitend ist. Damit haben sie den ersten Hochtemperatur-Supraleiter gefunden, der sich nicht durch die BCS-Theorie erklären lässt. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche Cuprate entdeckt, von denen manche bei bis zu 133 Kelvin (etwa –140 Grad Celsius) supraleitend sind.

2001: Rekordtemperatur
Jun Akimitsu entdeckt die Supraleitfähigkeit von Magnesiumdiborid. Dessen Übergangstemperatur von 39 Kelvin (etwa –234 Grad Celsius) bleibt bis heute die höchste bekannte Temperatur, bei der ein herkömmlicher Supraleiter bei Umgebungsdruck existieren kann.

2004: Superhydrid-Vorhersage
Neil Ashcroft sagt voraus, dass bestimmte wasserstoffreiche Materialien unter hohem Druck auch bei sehr hohen Temperaturen gemäß der BCS-Theorie Strom widerstandsfrei leiten sollten.

2006: Supraleiter auf Eisenbasis
Ein Team um den Materialwissenschaftler Hideo Hosono entdeckt Supraleitfähigkeit in einem Material aus Eisen, Lanthan und Phosphor. Solche Supraleiter auf Eisenbasis funktionieren über einen einzigartigen, aber noch wenig verstandenen Mechanismus.

2015: Superhydrid-Nachweis
Mikhail Eremets und Kollegen weisen die Supraleitfähigkeit von Schwefelwasserstoff bei 250 Kelvin (zirka –23 Grad Celsius) nach. Für diesen und andere Superhydrid-Supraleiter sind Drücke von mindestens einer Million Atmosphären erforderlich.

2019: Entdeckung von Nickelaten
Der Physiker Harold Hwang und sein Team entdecken eine Klasse von nicht konventionellen Supraleitern auf Nickelbasis.

Auf der Suche nach dem am besten geeigneten Element, das sich mit Wasserstoff zu einem Supraleiter kombinieren lässt, haben Fachleute inzwischen fast das gesamte Periodensystem durchforstet. Sie haben auch begonnen, Verbindungen von mehr als einem Element mit Wasserstoff zu simulieren, was rechnerisch jedoch viel schwieriger ist und Supercomputer erfordert. Die Elemente, die die überzeugendsten Ergebnisse liefern, scheinen Metalle wie Kalzium, Lithium und Lanthan zu sein, sagt Oganov. Einer der besten Stoffe ist offenbar das Schwermetall Actinium. Das zu überprüfen gestaltet sich allerdings schwer, denn Actinium ist extrem selten und hochradioaktiv.

In ihren Simulationen haben Lilia Boeri und andere Fachleute mit mehreren borhaltigen Verbindungen experimentiert. Bei diesen Stoffen liegen die Wasserstoffatome durch ihre Kristallstruktur nahe beieinander. Die Berechnungen deuten darauf hin, dass dieser »chemische Druck« den Bedarf an äußerem Druck verringern könnte und gleichzeitig die hohen Schwingungsfrequenzen des Kristalls beibehält, wodurch Cooper-Paare bei warmen Temperaturen bestehen könnten.

Noch vielversprechender scheinen Strukturen mit kovalenten Bindungen zu sein, die auch ohne hohen Druck hochfrequent schwingen. Die Simulationen von Boeri und ihrem Team ergaben, dass einige Materialien – mit Strukturen, die denen des Supraleiters Magnesiumdiborid ähneln – bei 110 Kelvin (etwa –163 Grad Celsius) supraleitend sein könnten. Das ist zwar noch weit von der Raumtemperatur entfernt, aber warm genug, um auf teure Flüssighelium-Kryogenik zu verzichten. Für diese Stoffe könnten einfachere Kühlsysteme auf Basis von flüssigem Stickstoff genügen.

»Supraleitung bei Umgebungsdruck und Raumtemperatur ist schwer zu erreichen – niemand erwartet, das so schnell zu finden«, sagt Eremets. Aber jeder Fortschritt auf dem Weg zu Supraleitern, die bei Temperaturen von flüssigem Stickstoff funktionieren, sei bereits ein wichtiger Fortschritt, fügt er hinzu.

Unbekannter Mechanismus

Das Interesse an diesen Hochtemperatur-Supraleitern ist in den zurückliegenden Jahren neu erwacht. Bei diesen Materialien entstehen die Cooper-Paare nicht durch mechanische Wellen im Festkörper, sondern durch einen bisher unbekannten Mechanismus. Zu diesen Materialien gehören Cuprate auf Kupfer- und Sauerstoffbasis, die erstmals in den 1980er Jahren entdeckt wurden. Bis zum Aufkommen der Superhydride zählten Cuprate zu den Supraleitern, die bei der mit Abstand höchsten Temperatur funktionieren. Cuprate sind teuer und schwierig zu bearbeiten, haben aber trotzdem technologische Anwendungen gefunden und könnten für künftige Fusionsreaktoren und Teilchenbeschleuniger von entscheidender Bedeutung sein. Auf theoretischer Ebene geben sie aber immer noch Rätsel auf. Das komplexe Verhalten von Elektronen in Cupraten zu verstehen, sehen viele Fachleute als eine der wichtigsten – wenn auch schwer lösbaren – Herausforderungen des Fachgebiets an.

»Es gibt kein physikalisches Prinzip, das Supraleitung bei Raumtemperatur verbietet«Artem Oganov, Materialwissenschaftler

Die Entdeckung einer neuen Klasse von solchen unkonventionellen Supraleitern im Jahr 2019 gibt Anlass zu neuem Optimismus: »Nickelate«, die nicht auf Kupfer, sondern auf Nickel basieren. Die im Sommer 2023 veröffentlichten Ergebnisse des Physikers Kyuho Lee von der Stanford University und seinem Team deuten darauf hin, dass sich Nickelate und Cuprate ähnlich verhalten. Nickelate könnten Fachleuten somit dabei helfen, die Funktionsweise von Cupraten endlich zu verstehen, sagt Lee. »Der Grund für die Suche nach Supraleitfähigkeit in Nickelsystemen bestand darin, einen kupferähnlichen Supraleiter in anderen Materialien zu finden.«

Ob konventionell oder unkonventionell: Einen Supraleiter zu finden, der bei Umgebungsbedingungen (sowohl Druck als auch Temperatur) funktioniert, könnte sich letztlich als unmöglich erweisen. »Man sollte niemals nie sagen«, sagt Ho-Kwang Mao, Direktor des Center for High Pressure Science and Technology Advanced Research in Schanghai, China. »Aber die Chance, solche Materialien zu finden, scheint gering.« Der Materialwissenschaftler Oganov betont jedoch, dass die Durchbrüche bei den Superhydriden ermutigend seien. »Es gibt kein physikalisches Prinzip, das Supraleitung bei Raumtemperatur verbietet.«

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