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Linguistik: Wie »gender« darf die Sprache werden?

Studenten und Studentinnen, Studierende, Studentx - in den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche Versuche unternommen worden, die deutsche Sprache so zu verändern, dass sich alle Menschen gleichermaßen von ihr angesprochen fühlen. Doch die Debatte ist noch längst nicht zu Ende.
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Lust auf einen kleinen Selbsttest? Hier die Geschichte: Vater und Sohn sind im Auto unterwegs und werden in einen schweren Autounfall verwickelt. Der Vater stirbt noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Sohn wird, kaum im Krankenhaus angekommen, in den Notfall-Operationssaal gefahren, wo schon die Dienst habenden Chirurgen warten. Als sie sich jedoch über den Jungen beugen, sagt jemand vom Chirurgenteam mit erschrockener Stimme: »Ich kann nicht operieren – das ist mein Sohn.«

Legt man diesen Text Studierenden vor, wenden die häufig spontan ein: »Moment mal – der Vater ist doch tot. Wieso steht der jetzt plötzlich als Chirurg im OP? Ist der andere gar nicht sein leiblicher Vater?« Erst im zweiten Denkschritt ist die Lösung klar: Es gibt mindestens eine Chirurgin im Team, die Mutter des Jungen. Die Sprachwissenschaftlerin Annette Trabold bezeichnet das oben beschriebene Phänomen als prototypisches Denken: »Bilder entstehen vor unserem inneren Auge: Hören wir ›Chirurgen‹, denken wir oft zunächst an Männer, an ›Onkel Doktor‹. ›Arzt‹ als Berufsbezeichnung ist zwar hier nur das so genannte generische Maskulinum, in diesem Fall aber auch Sexus, weil damit automatisch ein Mann verknüpft wird.«

Der Begriff generisches Maskulinum bezeichnet die Verwendung eines maskulinen Substantivs oder Pronomens, wenn das Geschlecht der betreffenden Personen unbekannt oder unwichtig ist – oder wenn Männer und Frauen gleichermaßen gemeint sind. Umgekehrt gibt es auch das generische Femininum. Es begegnet uns häufiger bei Bezeichnungen für Tiere (zum Beispiel »die Spinne« oder »die Katze«), im Bezug auf Menschen aber nur selten.

Spätestens seit den 1970er und 1980er Jahren stellt die feministische Linguistik die gängige Praxis in Frage: Warum eigentlich, so fragten sich Sprachforscherinnen und Medienschaffende, soll das generische Maskulinum als in Stein gemeißelt betrachtet werden? Warum sprechen wir, wenn von einer Berufsgruppe die Rede ist, von »den Ärzten«, »den Lehrern« oder »den Ingenieuren«, obwohl es meist um Menschen beiderlei Geschlechts geht und doch auch die bekannten weiblichen Formen mit der Erweiterung »-in« zur Verfügung stehen?

Verbiegungen der deutschen Sprache?

Sprachpuristen wenden oftmals ein, Bezeichnungen wie »Ärztin« oder »Ingenieurin« mit dem »-in«-Anhängsel seien bereits Verbiegungen der deutschen Sprache. Annette Trabold sagt dagegen: Schon zu Goethes Zeiten habe es die »Müllerin« oder die »Meierin« gegeben. Damals waren das zwar vorrangig Bezeichnungen für die Ehefrau des Müllers oder des Meiereibesitzers. Doch nicht selten führten die Frauen nach dem Tod ihrer Ehemänner deren Geschäfte erfolgreich weiter und arbeiteten somit in deren Beruf. Oder man denke an Berufe, die heute zu 90 Prozent oder mehr von Frauen ausgeübt werden. Ist es nicht absurd, dann das generische Maskulinum zu verwenden und von »den Erziehern« zu sprechen, wenn es doch fast nur Erzieherinnen in Horten und Kindergärten gibt?

Susanne Günthner, Germanistin und Sprachwissenschaftlerin an der Universität Münster, spricht von einer »kodierten Asymmetrie« bei Personenbezeichnungen in der deutschen Sprache: »Die männliche Form markiert ›Männer als Norm‹, die weibliche Form kodiert ›Frauen als Abweichung‹ durch das an die unmarkierte (männliche) Form angehängte ›-in‹.« Ein gutes Beispiel dafür, wie unpassend das manchmal wirken kann, ist die frühere Tamponwerbung der Marke »o.b.«. Ein Satz aus dem Werbespot lautete sinngemäß: »Jeder erlebt seine Tage anders.« Dagegen gab es Protest – denn Tampons benutzen nun einmal ausschließlich Frauen. Der Satz wurde in die weibliche Form geändert.

Die männliche Form markiert »Männer als Norm«, die weibliche Form kodiert »Frauen als Abweichung«
Susanne Günthner, Germanistin und Sprachwissenschaftlerin

Susanne Günthner zieht den Vergleich zur englischen Sprache: Im Englischen verwende man zwar die für beide Geschlechter geltenden Begriffe wie »teacher« oder »doctor«, eine genauere weibliche Form sei jedoch in den meisten Fällen nicht notwendig. »Denn im Englischen kann man problemlos nach ›teacher‹ eine ›she‹ oder ein ›he‹ folgen lassen und somit die Frage nach dem Geschlecht sofort beantworten. Im Deutschen ist dies kaum möglich: Auf ›der Arzt‹, würde man nicht ›sie‹ folgen lassen – das wäre grammatikalisch falsch.«

Nicht immer ist, was grammatikalisch richtig ist, in unserem heutigen, modernen Sprachgebrauch auch sinnvoll. Manches klingt regelrecht merkwürdig: So ist es im Prinzip auch ein Grammatikfehler, von »das Mädchen« zu sprechen und dem im nächsten Haupt- oder Nebensatz ein »sie« statt ein »es« folgen zu lassen. Doch viele Leute machen genau das – weil es sich komisch anhört, von einer eindeutig weiblichen Person mit einem Neutrumpronomen zu sprechen.

Neue Pronomen

Im Chinesischen sei es in solchen Fällen einfacher, sagt Susanne Günthner: Dort werde das Pronomen »ta« für Frauen wie für Männer verwendet. In Schweden treibt man die Gendergerechtigkeit beziehungsweise -neutralität noch etwas weiter: Dort hat man – speziell um auch transsexuelle Menschen zu berücksichtigen – neben den Pronomen »han« (er) und »hon« (sie) das neutrale »hen« neu eingeführt. Aus dem gleichen Grund sollen die Fahrgäste der Londoner U-Bahn ab sofort nicht mehr mit »Good morning, ladies and gentlemen«, sondern mit »Good morning, everyone« begrüßt werden.

»Guten Morgen, alle zusammen!« – so weit ist man bei uns noch nicht im öffentlichen Nahverkehr. In Deutschland haben Sprachwissenschaftler, Journalisten und Verwaltungen aber verschiedene andere Wege ersonnen, Gendergerechtigkeit herzustellen. Während jedoch sprachliche Abwandlungen wie »Doktormutter«, »Begleitprogramm« statt »Damenprogramm«, »Team« statt »Mannschaft« heute selbstverständlich sind, suchen Experten für die gendergerechte Ansprache von Personen und Personengruppen nach wie vor nach der perfekten Lösung. Dem Journalisten Christoph Busch wird die erstmalige Verwendung des großen Binnen-»I« (JournalistInnen, LeserInnen) zugeschrieben. Das war 1981, in Buschs Buch über freie Radios. Mitte der 1980er Jahre fingen auch die Redakteure der Tageszeitung »taz« an, es zu benutzen. Etliche tun es immer noch.

Damals sorgte das große »I« für eine regelrechte Kontroverse, heute regt sich kaum noch jemand darüber auf. Dennoch bleiben die deutsche Sprache und Vorschläge zu deren Modifizierung und Modernisierung ein Minenfeld. Mittlerweile sorgen Gendersternchen (»Bürger*innen«), Unterstriche (»Leser_innen«), die konsequente Benutzung nur der weiblichen Form auf offiziellen Formularen, das »Durchgendern« unter Nennung der weiblichen wie der männlichen Form (»Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«) oder gar der komplette Verzicht auf eine Geschlechterzuweisung, indem man die Endung durch ein »x« ersetzt (»Professx«), für Diskussionsstoff.

Sprachwissenschaftlerin Annette Trabold, die auch Sprecherin des Instituts für Deutsche Sprache ist (das zu diesem Thema aber keine Empfehlung abgibt), sagt: »Ich finde alle Lösungen in Ordnung, die nicht dogmatisch sind, mit der Grammatik vereinbar und vor allem nicht lächerlich wirken. Denn das wäre natürlich der Sache nicht dienlich.« Letzteres trifft in den Augen vieler auf die »x«-Lösung zu – bei manchem weckt das eher Assoziationen zu »Asterix«-Comics als zu ernst gemeinter Gendergerechtigkeit.

Auch mit der Lösung, nur noch die weibliche Form zu benutzen – die Universitäten Leipzig und Potsdam praktizieren dies beispielsweise in offiziellen Formularen –, können sich viele nicht anfreunden. Besser sei es, die weibliche wie die männliche Form zu verwenden, zumal diese Lösung ja auch für die gesprochene (An-)Sprache geeignet sei. Spreche man hingegen von Professorin – wie auch beim großen Binnen-»I« –, höre sich dies so an, als wolle man nur die Frauen ansprechen. In vielen Verwaltungsformularen fehlt aber schlicht der Platz, um immer sowohl die weibliche als auch die männliche Form zu verwenden. Das wiederum führte zu den »*«- und »_«-Lösungen.

Nicht nur inakzeptabel, sondern falsch?

Eine weitere Variante sind die substantivierten Partizipien wie »Studierende«, »Lehrende«, »Mitarbeitende«, deren Verwendung sich durchgesetzt hat, wenn man eine genaue Geschlechterzuweisung ganz vermeiden möchte. Für Peter Eisenberg, Linguist und emeritierter Professor der Universität Potsdam, ist diese Lösung nicht nur inakzeptabel, sondern auch falsch. »Wenn wir das Partizip verwenden, drücken wir damit aus, dass die betreffende Person gerade dabei ist, etwas zu tun. Studierende, Lehrende, Mitarbeitende oder – ganz schlimmes Beispiel – ›LKW-Fahrende‹ sind nicht permanent dabei, zu lehren, zu studieren, mitzuarbeiten oder LKW zu fahren.« Noch gravierender aber sei, sagt Eisenberg, dass durch das substantivierte Partizip sprachliche Fehler entstünden. »Geflüchtete, beispielsweise, sind etwas anderes als Flüchtlinge. Man kann von einem von einer Party Geflüchteten sprechen. Flüchtling hingegen bezeichnet korrekt die aktuellen Lebensumstände eines Menschen, der seine Heimat verlassen musste.« Wenn man diese Regel streng auslegen würde, dann dürfte man zum Beispiel auch nicht mehr »Vorstandsvorsitzende« sagen.

Ebenso furchtbar findet es Eisenberg, deutsches Liedgut zu gendern und etwa dem unverwüstlichen »Abendlied« von Matthias Claudius (»Der Mond ist aufgegangen«) neben den »Brüdern«, die sich niederlegen, auch noch »Schwestern« dazuzudichten und weitere Liedzeilen um der Gendergerechtigkeit willen zu ändern. So geschehen beim Deutschen Kirchentag Ende Mai 2017. Die Hamburger Gruppe »Lesben und Kirche« hatte entsprechende Liederbücher zu den Veranstaltungen verteilt.

Stellen Sie sich eine gegenderte Bibel vor – das ist einfach absurd
Peter Eisenberg, Sprachwissenschaftler

Peter Eisenberg begründet seine Kritik: »Diese Dichtung von Matthias Claudius ist ein Kulturgut. Der Text des Liedes steht auch für die Zeit, in der es entstanden ist. Oder stellen Sie sich eine gegenderte Bibel vor; das ist einfach absurd.« Ebenso abwegig findet Eisenberg den Gedanken, auch anderen Werken der Weltliteratur – von Goethe, Schiller oder Thomas Mann – solche Textänderungen aufzuzwingen. »Diese Texte sind auch in einem historischen Kontext zu betrachten – und der darf nicht verfälscht werden.«

Es ist nicht einfach. Doch ein Blick in die Schweiz zeigt, wie man offenbar zu einem entspannten Umgang mit dem Thema finden kann. In ihrem Leitfaden zur geschlechtergerechten Sprache empfiehlt die Schweizerische Bundeskanzlei, statt dogmatisch doch einfach kreativ zu entscheiden. Dort wo es Texte schwieriger lesbar mache und wo »geschlechterneutral« im sprachlich negativen Sinn »geschlechtslos« wirke, solle gemischt werden dürfen: Statt von »Mitgliedern des Nationalrats« zu sprechen, solle man lieber »Nationalrätinnen und Nationalräte« schreiben. Das klinge persönlicher, da deutlich gemacht wird, dass es sich um eine Gruppe von Männern und Frauen handle. Diese so genannte Paarform könne auch dann gut zum Einsatz kommen, wenn es darum gehe, Geschlechterstereotype aufzubrechen und klarzumachen, dass es sowohl um Männer als auch um Frauen gehe, etwa beim Wort »Alleinerziehende«. Tatsächlich verbindet man mit diesem Ausdruck fast automatisch Frauen, weil die meisten Alleinerziehenden tatsächlich alleinerziehende Mütter sind. Um dieses Klischee zu vermeiden, heißt es in dem Leitfaden, solle in einem Text besser von »alleinerziehenden Müttern und Vätern« die Rede sein.

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  • Quellen
Douglas R. Hofstaedter: Metamagicum. Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur, Stuttgart 1988

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