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Ökologie: Wölfischer Klimapuffer

Hass und Faszination: Kaum ein Tier weckt unterschiedlichere Gefühle als der Wolf. Zudem spielt er eine entscheidende Hauptrolle in der Natur. Und sein von manchen gefürchteter Hunger liefert wohl sogar ein wichtiges Zubrot für ansonsten im Klimawandel bald darbende Zweitverwerter.
Wolf im Winterpelz
Es war einmal ein Land, in dem Wölfe (Canis lupus) von Küste bis Küste streiften. Geheiligt wurde ihr Namen von unzähligen Indianerstämmen. Doch dann kam der weiße Mann, und mit ihm eroberten Rinder und Schafe den Wilden Westen: Der Wolf musste weichen, zu sehr fürchteten die Neusiedler seine Konkurrenz und seinen Appetit. Bis 1930 hatten die entsprechenden Kampagnen zur Freude der Viehzüchter und Jäger ihr Ziel fast erreicht – südlich der kanadischen Grenze war der hündische Beutegreifer quasi ausgerottet.

Je länger sie forschte, desto mehr Anzeichen entdeckte die Wissenschaft aber, dass Wölfe nicht irgendeine Art im Ökosystem darstellen. Vielmehr haben sie eine Schlüsselposition inne, mit der die Gesundheit ihres Lebensraums steht und fällt. Besonders deutlich wurde dies 1995, als nach über sechzig Jahren der Verdammnis wieder erste Rudel im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark neu angesiedelt wurden.

Wolfsjagd | Wapiti-Hirsche sind begehrte Beute für Wölfe. Seit sie 1995 wieder im Yellowstone-Nationalpark eingebürgert wurden, kontrollieren sie auf natürliche Weise den Bestand der Pflanzenfresser. Da sie aber ihre Beute nicht komplett fressen, bleibt immer genügend Aas für Zweitverwerter übrig, die dadurch besser durch den Winter kommen.
Schon bald erkannten die Tiere, dass sie in einer Art Schlaraffenland gelandet waren: Die Region wimmelte nur so von Rothirschen und anderem Wild, das zudem in den Jahrzehnten von Isegrims Abwesenheit seinen natürlichen Fluchtinstinkt verloren hatte. Die Wölfe hatten anfänglich also leichtes Spiel, die überhöhten Bestände etwas zu regulieren. Bald lernte die potenzielle Beute zwar wieder im Angesicht einer hungrigen Meute zu fliehen, dennoch profitierte die Natur des Yellowstones nachhaltig von der Rückkehr des Jägers und der darauf folgenden neuen Scheu der Pflanzenfresser.

Wo lange in den Auen und Wäldern des Parks keine Jungbäume mehr hochkamen, weil dort bevorzugt die Wapitis ästen, sprießen nun neue Pappeln und Weiden. Das lockt wieder den Biber an, dessen Dämme neue Feuchtflächen für Wasservögel und Amphibien schaffen. Die Konkurrenz durch Wölfe reduziert die Zahl der Kojoten, sodass Nagetiere zunehmen können, die wiederum zur leicht zu erbeuteten Kost für die steigende Zahl von Greifvögeln und Rotfüchsen werden.

Wapiti | Ohne Wölfe vermehrten sich die Wapitis im Yellowstone weitgehend ungestört auf eine Populationsgröße, die dem Gleichgewicht ihres Ökosystems abträglich war. So fraßen sie fast jeglichen Jungwuchs von Pappeln und Weiden, sodass diese sich nicht mehr regenerieren konnten. Mit den Wölfen kehrte die Furcht zurück und damit eine veränderte Fraßstrategie. Dadurch konnten sich die Bäume und ihre Lebensräume wieder erholen, was etwa Biber und Singvögel in erhöhter Anzahl zurückbrachte.
Und schließlich sind die Wölfe bei weitem nicht jene ungezügelt und grenzenlos fressenden Fabeltiere der Märchenwelt: Im Gegensatz zu Grizzly-Bären oder Pumas verstecken sie ihre Opfer nicht, um sie gänzlich allein zu verzehren – sie lassen die Kadaver öffentlich für die Resteverwerter liegen. Und damit helfen sie schwächeren Mitgliedern der Fleischfresserzunft wie Raben und Elstern, aber auch Adlern und Bären über den Winter.

Und zudem, so legen zumindest Studien der Forscher Christopher Wilmers von der Universität von Kalifornien in Berkeley und Wayne Getz von der Universität von Pretoria nahe, mildern sie ebenso die negativen Folgen des Klimawandels für die Aasfresser ab.

Die fortschreitende Erderwärmung zeigt sich im Yellowstone ganz so, wie es gängige Modelle zum Klimawandel prognostizieren. Klimamessungen in der Region belegen seit 55 Jahren eine zunehmende Abmilderung der Winter bei gleichzeitiger zeitlicher Verkürzung winterlicher Schneelagen und früherem Frühjahrseinzug. Vorteil Hirsch: Weniger harsche Bedingungen reduzieren die Wapiti-Verluste durch Väterchen Frost um bis zu zwei Drittel, wie Zählungen ergeben haben.

Kojote | Für den Kojoten brachte die Rückkehr des Wolfs Freud und Leid: Zum einen hielten sie der direkten Konkurrenz nicht stand und nahmen an Zahl ab. Andererseits profitieren diese Hundeverwandten von den Aasresten, die die Wölfe übrig lassen. Selbst der Klimawandel bringt die Kojoten dadurch nicht in übermäßige Kalamitäten, da die Wölfe ähnlich viele Kadaver zur Resteverwertung bringen wie ein harter Winter. Gänzlich ohne Canis lupus müsste der Kojote in milden Wintern Hunger leiden und zudem könnte er weniger Nachwuchs zeugen.
Des Hirschen Freud' ist des Aasfressers Leid: Alle Modelle der Wissenschaftler zeigen, dass diese Entwicklung zu gravierenden winterlichen Nahrungsengpässen für ihre Zunft führt. Allenfalls weit und zügig umherstreifende Opportunisten wie die Kolkraben bleiben davon verschont. Fehlt das durch besonders eiserne Fäuste von General Winter erfrierende Wild, sinken der Fortpflanzungserfolg und die Überlebensrate vieler vierfüßiger Aasfresser – ihre Populationen nehmen ab, die von Raben oder Krähen dagegen zu. Die Gewichte in der Resteverwerter-Hierarchie würden sich folglich auf Dauer zu Ungunsten der ebenso Aas nicht verschmähenden Bären und Kojoten verschieben; es sei denn sie passen sich in kürzester Zeit an die veränderten Bedingungen an.

Gerade hier kommen nun aber die Wölfe ins Spiel. Ihr Jagderfolg – ein großes Rudel benötigt etwa einen Hirschen pro Tag – lässt unabhängig vom Klima viel Aas zurück. Die Zahl der Kadaver sinkt somit unter diesem Aspekt nur um elf Prozent, und die Sekundärnutzer müssen dementsprechend keinen Hunger leiden, weil ganzjährig genügend Nahrung vorhanden bleibt.

In Regionen, die Wölfe beheimaten, können diese also den menschengemachten Treibhauseffekt für ihre karnivoren Kompagnons etwas abpuffern und ihnen somit ein Zeitfenster zur Anpassung an die neuen Bedingungen schaffen. Falls der Mensch nicht auch hier erneut zu Lasten der Tiere eingreift: Wölfe, die sich außerhalb des Nationalparks aufhalten, sollen nämlich wieder geschossen werden.

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