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»Canceln«: Canceln - (k)eine Frage der Literatur

Was darf Literatur und was nicht mehr? 13 lesenswerte Essays befassen sich mit Moral, Diskriminierung und Rassismus in Büchern.
Darf man im Netz alles sagen?

Ist Canceln nur ein Modewort des Feuilletons und der Empfindsamen in Universitäten? Seit Monaten werden die gleichen Beispiele hin und her gewendet, seien es Worte, die man nicht mehr sagen oder schreiben darf, der absurde Streit um die Besetzung von Rollen oder die Übersetzung von Gedichten, das Umschreiben von Büchern, die Gefühle verletzen können und die daher »gereinigt« werden sollen. Canceln gleicht einem modernen Pranger, den einige als Shitstorm auf Twitter für falsches Reden erleiden und nicht wagen, dagegenzuhalten.

»Canceln – ein notwendiger Streit« vereinigt 13 durchweg lesenswerte kurze Essays von bekannten Feuilletonisten, Wissenschaftsredakteuren, Literaten und Wissenschaftlern verschiedener Provenienz. Ihre Thesen und Argumente sind so unterschiedlich wie die Medien und Institutionen, für die sie arbeiten. Die Texte sind sachlich, differenziert und fern mancher unnötiger Aufregung, die in den letzten Jahren den Blätterwald aufgewirbelt hat. Das mag dem Umstand zu verdanken sein, dass die Beiträge sich fast ausschließlich mit Literatur befassen.

Nach Ijoma Mangolds Eingangstext könnte man das Buch getrost zur Seite legen. Für ihn ist der ganze Streit vorbei. Inzwischen herrsche Waffengleichheit zwischen den Kontrahenten, den Woken und ihren Kritikern. Was ihn aber geärgert habe, sei die »Identitätspolitik«, die »darauf hingearbeitet« habe, »dass ihre Sicht der Dinge rechtfertigungsfrei als die einzige galt, mit der man nicht als Schurke und ewig gestriger alter weißer Mann dastand«. Er wolle daher demnächst das Wort »woke« aus seinem Vokabular streichen.

Aber es folgen immerhin noch zwölf weitere spannende Texte, so etwa über den Rassismus. Hanna Engelmeier fordert zum Beispiel eine Annäherung an Kleists »Verlobung in St. Domingo« über die »richtigen Fragen«, Asal Dardan seziert minutiös die Vorurteile in Michael Endes »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« und stellt als abschließende Frage nicht, ob man die Erzählung noch lesen dürfe, sondern, weshalb man das wollen würde in einer Gesellschaft, »in der Kinder als Subjekte ernst genommen werden«.

Die Debatte um Rassismus setzt Jürgen Kaube fort mit seiner intensiven Analyse von Shakespeares »Othello« und der Frage des »Blackfacing«. Mit Adornos Bemerkung, dass Kunstwerke wie Schlösser seien, »die sich durch eine Deutung kurz öffnen lassen, um dann sogleich wieder zuzuschnappen«, weist Kaube darauf hin, dass das Stück vom Spielplan zu nehmen der »Anmaßung« gleichkäme, »das Schloss geöffnet und die Rätsel Othellos gelöst zu haben«.

In »Ein jeder übersetzt sich nur selbst?« rekapituliert Daniela Strigl die Possen um die Übersetzungen von Amanda Gormans Gedicht »The Hill We Climb«. Sie geht auf die Debatten in Holland, Spanien et cetera ein und verurteilt in Bezug auf Deutschland, dass der Verlag, um jedem Streit aus dem Weg zu gehen, gleichzeitig auf die Zusammenarbeit von drei Übersetzerinnen gesetzt hat: »So ist die deutsche Übersetzung auf spektakuläre Weise misslungen, weil hier die Ungenauigkeit oder grammatikalische Unkorrektheit nicht der Preis für poetische Schönheit war.« Der deutsche Text sei »weder wortgetreu noch wohlklingend«, er wirke »holprig und stellenweise unbeholfen.«

Den Herausgebern gibt das Wort »Canceln« Rätsel auf. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann arbeitet dagegen in seinem Text die Moralisierung des Gedankens deutlicher heraus – und zwar mit pointierten Worten: »Seit geraumer Zeit wird aufgeräumt und sauber gemacht. Schmutzige Gedanken und Worte werden geächtet, unliebsame Autoren und Wissenschaftler gemobbt, Redner werden am Sprechen gehindert … Und lebenden Autoren werden von immer mehr Verlagen Sensitivity Readers zur Seite gestellt, die dafür sorgen, dass kein falsches Wort das Manuskript verunreinigt.« Für ihn gipfelt die Cancel Culture »als Ressentiment im Gewande der Moral, selbstgefällig und denkfaul, aber machtbewusst«.

Dass nicht alles Canceln ist, was als Canceln erscheint, zeigt Marie Schmidt anhand der Debatte um den Verlagswechsel von Monika Maron. Es herrsche ja Vertragsfreiheit für Verlag und Autorin, und Maron habe ja schnell einen neuen Verlag gefunden. Mit der Interpretation von Marons »Munin oder Chaos im Kopf« (2018) macht Schmidt darauf aufmerksam, dass es um die Art des Lesens gehe: Wenn kulturelle Rechte Redewendungen von Figuren wörtlich nehmen, machen sie Texte zu Pamphleten. Sie verkennen die Ironie und somit die literarische Qualität in Marons Roman, die erst die Autonomie der Kunst herstelle.  

»Nichts ist gecancelt, alles ist möglich. Und ich bin der lebende Beweis.« Mit diesem Satz beschließt auf der Bank vor Astrid Lindgrens Haus sitzend Johann Schneider das Buch um einen notwendigen Streit zur rechten Zeit. Ein Buch, das sich zu lesen wirklich lohnt.

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