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Der Mathematische Monatskalender: Elizaweta Litwinowa und der vergebliche Kampf um Gleichberechtigung

Sie war die erste Frau, die regulär in Mathematik promovierte. Doch ihrem beruflichen Werdegang brachte das nicht allzu viel.
Mann und Frau auf einer Wippe in der Wüste
Elizaweta Litwinowa kämpfte darum, wie ihre männlichen Kollegen behandelt zu werden – vergeblich.

1874 erklärte sich die Universität Göttingen als erste europäische Hochschule bereit, eine Frau im Fach Mathematik zu promovieren – allerdings erst auf Drängen von Karl Weierstraß: Auf der Basis von drei umfangreichen Abhandlungen wurde Sofia Kowalewskaja der Doktortitel in absentia verliehen. Die erste Frau, die durch ein reguläres Verfahren (also mit Disputation) in Europa den Doktorgrad im Fach Mathematik erlangte, kam ebenfalls aus Russland: Elizaweta Fedorowna Litwinowa.

In der Nähe von Tula (200 Kilometer südlich von Moskau) geboren, wuchs Elizaweta zusammen mit zwei Geschwistern auf dem Landgut ihres vermögenden Vaters Fjodor Aleksewitsch Iwashkin auf. Zunächst durch Privatlehrer unterrichtet, wechselte sie im Alter von 13 Jahren zum Mariinski-Internat für Mädchen in St. Petersburg. Das Anspruchsniveau des Gymnasiums lag zwar deutlich über dem anderer Bildungseinrichtungen für Mädchen, ließ sich aber kaum mit dem von Schulen für Jungen vergleichen, die auf ein Studium an einer Universität vorbereiteten.

Elizaweta schloss sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die mit dem Gedankengut der Nihilisten sympathisierten: Zum damaligen Zeitpunkt ging es den Nihilisten um Anliegen wie »individuelle Freiheit« und »Bildung für alle«, insbesondere für Mädchen. Sie lehnten die autoritäre Struktur des Staats und die übermächtige Einflussnahme der orthodoxen Kirche ab – erst später radikalisierten sich einige der Nihilisten und strebten den gesellschaftlichen Umsturz durch terroristische Handlungen an.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

Als Elizaweta ihren Eltern gegenüber den Wunsch äußerte, eine Universität zu besuchen, stieß dies auf Ablehnung – ganz abgesehen von der Tatsache, dass Frauen grundsätzlich an russischen Universitäten nicht zugelassen waren. Einige Lehrer, die eine allgemeine Zugangsberechtigung unterstützten, boten in privaten Räumen Vorbereitungskurse für junge Frauen an, darunter auch der Mathematiker Alexander Nikolajewitsch Strannoljubski, der mit besonderem Stolz die Fortschritte seiner ehemaligen Schülerin Sofia Kowalewskaja verfolgte.

An einem der Kurse Strannoljubskis nahm Elizaweta teil, auch nach ihrer Heirat mit Dr. Viktor Litwinow im Jahr 1866. Im darauf folgenden Jahr beteiligte sie sich an einer Petition an Zar Alexander II., die Universitäten auch für Frauen zu öffnen, die – wie zu erwarten – abgelehnt wurde.

Als Sofia Kowalewskaja 1869 zusammen mit ihrem Ehemann Wladimir Kowalewski nach Heidelberg ging, um dort ein Mathematikstudium zu beginnen, ermutigte Strannoljubski auch seine anderen Schülerinnen, das zu tun. Um ins Ausland reisen zu können, brauchte man einen Pass, wofür verheiratete Frauen die Genehmigung ihres Ehemanns benötigten. Viktor Litwinow unterstützte zwar den Besuch der privaten Mathematikkurse, lehnte aber alle darüber hinausgehenden Wünsche seiner Frau ab.

Um an einer russischen Universität studieren zu können, war ein entsprechender Kompetenznachweis erforderlich, den Elizaweta Litwinowa 1870 dank der erfolgreichen Teilnahme an den Vorbereitungskursen erwarb. Im Hinblick auf die Aufnahme eines Studiums war die Lizenz für sie als Frau allerdings nutzlos.

Aufbruch nach Europa

Als Viktor Litwinow zwei Jahre später überraschend starb, war für sie der Weg frei, das Land zu verlassen. Wie zahlreiche andere verheiratete oder verwitwete Frauen reiste Litwinowa in die Schweiz, die Frauen bereits 1840 den Zugang zu den Universitäten geöffnet hatte: Zunächst waren sie dort nur als Hörerinnen zugelassen; ab 1867 konnten sich Frauen immatrikulieren und sogar promoviert werden. Als Erste legte die Russin Nadeschda Suslowa eine Doktorprüfung im Fach Medizin ab.

Anders als die meisten anderen Studentinnen nahm Litwinowa das Mathematikstudium nicht an der Universität in Zürich, sondern an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) auf. In manchen Vorlesungen war sie daher die einzige Frau, was wegen des Verhaltens ihrer Mitstudierenden nicht immer leicht für sie war.

Kaum hatte sie ihr Studium begonnen, wurde ein Dekret des russischen Zaren veröffentlicht: Alle aus Russland stammenden Studierenden müssten bis zum Ende des Jahres 1873 wieder in ihre Heimat zurückkehren; sie könnten dort ihr Studium fortsetzen – auch Frauen, für die der Hochschulzugang ermöglicht werden sollte. Wer diese Anweisung nicht befolgte, sollte künftig vom Staatsdienst ausgeschlossen werden. Der scheinbare Sinneswandel des Zaren erfolgte nicht durch bessere Einsicht oder eine allgemeine Liberalisierung des Staatswesens, sondern allein aus der Befürchtung heraus, dass die vielen im Ausland studierenden Personen eine Revolution vorbereiten könnten.

Eine Entscheidung mit schwer wiegenden Folgen

Litwinowa hielt das Dekret des Zaren für eine leere Drohung. Daher beschloss sie, ihr Studium in der Schweiz fortzusetzen: Unterstützt wurde sie in ihrer Entscheidung durch Hermann Amandus Schwarz, dessen Vorlesungen sie besuchte. Dieser kümmerte sich rührend um sie, lud sie sogar zum Essen in seine Familie ein und gab ihr private Lektionen.

Als Schwarz 1875 einen Ruf nach Göttingen annahm, wechselte Litwinowa zu Ludwig Schläfli an die Universität Bern. Ein Jahr später erwarb sie die allgemeine Hochschulreife (»baccalauréat«), die formale Voraussetzung für ihre Immatrikulation. 1878 legte sie dann bei Schläfli die Doktorprüfung mit dem Prädikat »summa cum laude« ab. Das Thema ihrer Doktorarbeit »Lösung einer Abbildungsaufgabe« hatte ihr noch Schwarz gestellt: Gegeben ist eine Kurve, für deren Punkte gilt, dass das Produkt der Abstände zwischen einem Punkt und zwei festen Punkten (so genannte Brennpunkte) konstant ist. Gesucht ist eine konforme Abbildung, durch welche die beiden Teilflächen der von der Kurve eingeschlossenen Fläche auf eine Kreisfläche abgebildet werden können.

Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums kehrte Litwinowa nach St. Petersburg zurück, wo sie den Behörden ihre erworbenen Qualifikationen vorlegte. Diese blieben jedoch bei den im Dekret angedrohten Konsequenzen: Keine der höheren staatlichen Einrichtungen durfte sie beschäftigen; auch wurde ihr jede Möglichkeit genommen, ihre Abschlüsse neu zu erwerben.

Elizaweta Litwinowa

Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, musste sie sich damit begnügen, untere Klassen in einer privaten Schule zu unterrichten – im Unterschied zu anderen Frauen, die noch rechtzeitig aus der Schweiz zurückgekehrt waren und ihr Studium in Russland abgeschlossen hatten. Die hoch qualifizierte Litwinowa wurde für ihre Unterrichtstätigkeit nur stundenweise bezahlt, ohne jegliche Pensionsansprüche.

Erst nach neun Jahren und wiederholten Bittgängen sowie Antragstellungen von ihren Unterstützern wurde ihr – als erster Frau überhaupt – erlaubt, auch in den oberen Klassen des Prinzessin-Obolenskaja-Gymnasiums zu unterrichten, allerdings weiterhin ohne die Privilegien ihrer männlichen Kollegen. Und so war sie gezwungen, durch zusätzliche Tätigkeiten Geld zu verdienen: Sie verfasste zahlreiche Biografien über Mathematiker und Philosophen, unter anderem Aristoteles, Condorcet, d'Alembert, Euler, Laplace und Lobatschewski.

Im Rahmen ihrer Biografie über Kowalewskaja setzte sie sich mit ihren Selbstzweifeln hinsichtlich ihrer intellektuellen Fähigkeiten und der von Frauen allgemein auseinander – im Unterschied zum Selbstbewusstsein von Männern, bei denen selbst mittelmäßig begabte ihre eigene Kompetenz nur selten in Frage stellen.

Die begnadete Mathematiklehrerin verfasste etwa 70 Beiträge zum Mathematikunterricht und zur Philosophie. Sie engagierte sich für die Rechte der Frauen und nahm 1897 als eine von vier russischen Aktivistinnen an einem internationalen Frauenkongress in Brüssel teil. Im gleichen Jahr nahm die Mathematische Gesellschaft von St. Petersburg sie als Mitglied auf, 1901 auch die Philosophische Gesellschaft. 1911 wurde sie nach Deutschland und nach Frankreich gesandt, um die dort praktizierten Methoden des Geometrieunterrichts kennen zu lernen.

1917 beendete sie ihre Unterrichtstätigkeit und zog zusammen mit ihrer Schwester in die ländliche Umgebung von St. Petersburg. In den Wirren der Oktoberrevolution verlor sich danach von ihr jegliche Spur. Es wird vermutet, dass sie während der verheerenden Hungersnot des Jahres 1919 ums Leben kam.

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