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Sinne: Klickblitze im Dunkeln

Manche blinde Menschen haben die Echoortung für sich entdeckt und trainiert. Wieso sie damit ihre Umgebung tatsächlich "sehen", lässt sich mittels fMRT erforschen.
Ein blindes Kind lernt bei Daniel Kish

Daniel Kish steht vorne in einem Seminarraum der Universität Tübingen und dreht sich langsam um sich selbst. In der Raumecke bemerkt er eine Betonsäule und sagt kichernd: "Dahinter könnte man sich gut verstecken! Aber warum bloß hat man hier eine Säule so dicht an die Wände gebaut?" Er sieht nicht, dass hier nur dünne und keine tragenden Wände verbaut wurden. Denn Kish ist seit seinem 13. Lebensmonat vollständig blind. Auch an die kurze Zeit davor hat er keinerlei visuelle Erinnerung. Trotzdem kann er die Raumlänge abschätzen und weiß, dass die Sitzreihen vor ihm voll gepackt sind mit Menschen. Denn er orientiert sich mit leisen, kurzen Schnalzlauten per Echoortung. Seine Zuhörer müssen dafür nicht einmal besonders still sein, er erkennt trotzdem den Widerschall seiner Klicks, die er immer wieder mit der Zunge ausstößt, und kann sich daraus im Kopf seine Umgebung zusammenbauen.

"Mama, ich kann die Wände sehen!" | Wenn es nach Daniel Kish geht, sollten die Eltern eines blinden Kindes ihm bei einem solchen Ausruf glauben schenken. Denn schon das Echo vom Auftritt der eigenen Füße kann ein Bild der Umgebung im Kopf entstehen lassen. Noch besser geht es mit einem leichten Klicken mit der Zunge. Hier übt Kish mit einem Kind, seinem Gehör und den Echos zu vertrauen.

Zwei Blinde für die Wissenschaft

Für viele Wissenschaftler ist Kish ein Glücksfall, denn kaum ein Blinder hat diese Orientierungstechnik so perfektioniert wie er – und zudem ist er sehr auskunftsfreudig. In Tübingen beantwortet er nun geduldig die Fragen der anwesenden Fledermausforscher. Diese sind froh, einmal nicht nur Verhaltensexperimente mit ihren Tieren machen zu müssen, sondern einen Menschen befragen zu können, wie er per Echoortung die Welt erlebt. Von anderen Arbeitsgruppen wiederum lässt er seine Hirnaktivität in einem funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) untersuchen.

Melvyn Goodale, Direktor des Centre for Brain and Mind an der University of Western Ontario, leitet eine solche Forschungsgruppe. Daniel Kish und der ebenfalls blinde Brian Bushway haben sich für Goodale und seine Kollegen in den unbequemen fMRT gelegt. Bushway hat die Echoorientierung allerdings später gelernt, denn er verlor sein Augenlicht erst in seinem 14. Lebensjahr. So waren es also zwei Versuchspersonen: ein früh erblindeter und ein spät erblindeter Proband. Bei beiden zeigten die fMRT-Bilder eine Hirnaktivität nicht nur im auditiven, sondern auch im visuellen Kortex, sobald sie ihre eigenen Echoortungslaute wieder vorgespielt bekamen [1]. "Unser Gehirn ist äußerst plastisch", sagt Goodale dazu. "Nachdem ein Sinnesreiz ausfällt, machen sich andere Hirnregionen offenbar die frei werdenden Kapazitäten zu Nutze."

Dass ein Hirnareal auf diese Art zum Gastarbeiter für einen anderen Sinnesreiz werden kann, haben schon frühere Studien gezeigt. Bereits letztes Jahr veröffentlichte eine weitere Forschergruppe an der University of Western Ontario eine Studie mit von Geburt an tauben Katzen [2]. Stephen Lomber und seine Kollegen beobachteten bei den gehörlosen Tieren eine schnellere Bewegungserkennung und ein besseres peripheres Sehvermögen. Als die Wissenschaftler gezielt den auditiven Kortex dieser Katzen ausschalteten, indem sie ihn auf rund zehn Grad Celsius abkühlten, verloren sie ihre überragende Sehkraft: In Tests schnitten sie nur noch so gut ab wie ihre normalen Artgenossen.

Bekannt war bereits, dass der visuelle Kortex von Blinden anspringen kann, wenn sie Vibrationen wahrnehmen und Geräusche verarbeiten [3]. Goodales Arbeitsgruppe wollte es jedoch genauer wissen. Die Wissenschaftler ließen daher ihre beiden Probanden Kish und Bushway in freier Natur nacheinander einen Pfahl, ein Auto und einen Baum beklicken. Alle Umgebungs- und Echoortungsgeräusche nahmen sie auf – mit kleinen Mikrofonen, die sie direkt im Gehörgang der blinden Versuchsperson platziert hatten. Als sie Kish und Bushway ihre jeweiligen Tondateien später im Hirnscanner per Kopfhörer vorspielten, war sofort eine starke Aktivität im visuellen Kortex vorhanden. Der Gegenversuch belegte, dass die Blinden dabei den Pfahl förmlich vor sich "sahen": Ihr visueller Kortex reagierte deutlich schwächer, wenn ihnen digital manipulierte Tondateien ohne den feinen Widerhall der Klicklaute vorgespielt wurden. Dagegen zeigte der auditive Kortex bei beiden Dateien genau gleiche Aktivität.

Echoortung eines Betonpfahls in freier Natur

Hintergrundgeräusche, Echoortungsklicks und für das geübte Ohr auch deren Echos sind zu hören.

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Manipulierte Datei ohne Echos

Während der Aufnahme war der Proband still, sodass nur Hintergrundgeräusche aufgenommen wurden. Nachträglich fügten die Forscher die Klicks aus der ersten Datei digital ein – allerdings ohne die dazugehörigen Echos.

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In einem weiteren Kontrollversuch bekamen sehende Vergleichsprobanden die Dateienpaare zu hören. Hier zeigten die Hirnscans in beiden Fällen das gleiche Muster. Tatsächlich gibt der Forscher selbst zu, den Unterschied zwischen den originalen und manipulierten Tondateien nicht hören zu können. Ein untrainierter Mensch müsse üben, um diese minimale Abweichung überhaupt wahrnehmen zu können, so Goodale. Den Kontrollprobanden gelang es zwar nach einer Weile; doch den Unterschied zwischen dem Pfahl, dem Auto und dem Baum hörten auch sie bis zum Ende nicht.

Klicken statt sehen

Daniel Kish überraschen diese Ergebnisse kaum. Er hat die Organisation World Access for the Blind mit begründet, und deren Motto lautet: "Our Vision is Sound" – "Unsere Sehkraft ist der Schall". Kish selbst plädiert schon länger dafür, nicht vom Sehen der Welt zu sprechen, sondern von ihrer Wahrnehmung – unabhängig vom primären Sinneseindruck. Für die Forschung nimmt er auch den lauten, engen fMRT-Scanner in Kauf: "Ich hasse den Scanner. Aber ich habe geübt, das Gefühl zu ertragen", meint Kish dazu, und er kann auch gleich Argumente für seine Überwindung aufzählen: "Ich tue es aus vier Gründen: Geld für unsere Organisation, Werbung wiederum für unsere Organisation, Glaubhaftigkeit für die Echoortung und schließlich den Fortschritt in der Forschung."

Differenzbilder von Scans mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT). | Die Farben zeigen an, welche Hirnareale unterschiedlich auf die beiden Tondateien reagierten. Gelb bedeutet einen starken Unterschied, blau steht für gleich bleibende Hirnaktivität. Bei einem Echoortungsexperten (links) ist deutlich mehr Aktivität im visuellen Kortex zu sehen, wenn Echoortungslaute mit der manipulierten Klangdatei ohne Widerhall verglichen werden. Im Hörareal (links unten) führt dies zu keiner Veränderung, da sich die Geräuschkulissen fast völlig gleichen. Eine Kontrollperson (rechts) bemerkt weder die Echos mit dem visuellen Kortex noch den kaum wahrnehmbaren Lautunterschied.

Die Glaubwürdigkeit ist ihm inzwischen mehrfach wissenschaftlich bestätigt worden. Doch wie das menschliche Gehirn diese Umstrukturierung vornimmt, ist weiterhin unklar. "Wird die Echoortung im visuellen Kortex verarbeitet, einfach weil dort ungenutzter Platz ist", fragt Goodale, "oder weil dieser Kortex an sich für die räumliche Wahrnehmung zuständig ist?" Tatsächlich weiß man, dass der Aufbau des primären visuellen Kortex V1 die Netzhaut abbildet. Im visuellen Kortex steckt also eine Art Bild unserer Umgebung, und, so Goodale weiter, "vielleicht kann das Echoortungssystem davon Gebrauch machen".

Nerven als Wasserleitungen

In Tierversuchen an Hamstern hat man eine Neuzuordnung von Hirnarealen beobachtet, nachdem man operativ den Sehnerv in den auditiven Kortex leitete [4]. Lore Thaler, die an Goodales Studie federführend beteiligt war und inzwischen an der Durham University in Großbritannien lehrt, vergleicht die Situation mit einem Bewässerungssystem: "Wenn man eine Leitung von einem Feld weg- und auf ein anderes hinlenkt, dann verändern sich bald beide Felder." Bekannt sind beispielsweise Verdickungen in Teilen der Großhirnrinde, wenn dort neue Signale hingelangen. Diese können durch zusätzliche Neurone zu Stande kommen, durch eine Vergrößerung der Neurone selbst, durch mehr Nervenverbindungen oder auch durch mehr Glia-, also Hilfszellen, erklärt die Forscherin.

Thalers Vergleich könnte ein weiteres Ergebnis der Studie plausibel machen: Kishs visueller Kortex sprang deutlicher an als der von Bushway. Auch hatte Kish in einem Vorversuch die Position eines frei stehenden Stabs relativ zu seiner eigenen Ausrichtung sehr exakt benennen können: die Abweichung zum tatsächlichen Winkel betrug nur drei Grad. Bei Bushway betrug diese Unsicherheit neun Grad. Eine Erklärung für den Unterschied könnte sein, dass Kish bereits als Kleinkind mit der Echoortung begann – als sein Hirn sich noch leichter an die neuen Umstände anpassen konnte. Eine zweite wäre, dass Bushway absolut gesehen seit weniger Jahren echoortet.

Einig sind sich Forscher und Probanden, dass die Echoortung den Blinden zu einem selbstbestimmten Leben verhilft. Daniel Kish bewegt sich fast wie jeder sehende Mensch. Zur Sicherheit hat er seinen Blindenstock dabei, wenn er wandern geht, doch er kann auch auf einem unbekannten Parkplatz mit dem Fahrrad sicher seinen Weg durch die Autos finden. Über World Access for the Blind ermutigen Kish und Bushway auch andere Blinde, der Orientierung per Gehör zu vertrauen, und sie geben praktische Kurse in Echoortung. In seinem täglichen Leben scheint Kish nichts zu vermissen. Aber dann horcht er doch auf, als die Tübinger Fledermausforscher erwähnen, dass ihre Versuchstiere die Ohren frei bewegen können. "Kleine Glückspilze! Ich würde was dafür geben, meine Ohrmuscheln drehen zu können", sagt Kish auf seine verschmitzte Art.

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