Direkt zum Inhalt

Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie die Stringtheorie den Ruf eines Mathematikers rettete

Als John McKay eine seltsame Verbindung zwischen zwei völlig unterschiedlichen mathematischen Bereichen entdeckte, glaubte ihm kaum jemand. Doch die Stringtheorie und ein eifriger Kollege kamen ihm zu Hilfe.
Mondschein über dunklem Wasser
Als »Mondschein« werden im Englischen scheinbar abstruse Ideen bezeichnet. So auch McKays Beobachtung, dass zwei Bereiche der Mathematik zusammenhängen könnten.

Als der starbesetzte Mystery-Thriller »Number 23« in die Kinos kam, ging ich noch zur Schule. Plötzlich waren viele Leute davon überzeugt, überall auf die Zahl 23 zu treffen. Von einigen Mitschülern vernahm ich immer wieder ein Schaudern, sobald irgendwo in irgendeinem Kontext die 23 auftauchte. Dieser »Numerologie« verfallen manche Leute schnell, denn sobald man vermehrt auf eine bestimmte Sache achtet – etwa eine Zahl – bekommt man das Gefühl, sie übermäßig oft zu sehen.

Der Mathematiker John McKay schien ebenfalls diesem als »Frequenzillusion« oder Baader-Meinhof-Effekt genannten Phänomen verfallen zu sein. Allerdings erblickte er nicht überall die 23. Die Zahl, der er sich verschrieben hatte, lautete: 196 884.

Dass einem eine zweistellige Zahl immer wieder über den Weg läuft, scheint nicht allzu verwunderlich. Doch der sechsstellige Wert 196 884? McKay fiel diese Zahl im Jahr 1978 zufällig auf, als er eine Arbeit aus einem mathematischen Bereich durchsah, der nicht sein Fachgebiet war. Er war in der Geometrie tätig und beschäftigte sich mit der Symmetrie von Figuren. An diesem Tag sah er sich jedoch Ergebnisse aus der Zahlentheorie an, wo es um die Struktur von ganzen Zahlen wie Primzahlen geht. Dabei stieß er auf eine Zahlenfolge, die mit dem Wert 196 884 startete.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

McKay kam diese Zahl bekannt vor. Er hatte zuvor an einer – damals noch hypothetischen – mathematischen Struktur gearbeitet, dem so genannten Monster. Dieses sollte die Symmetrien eines geometrischen Objekts beschreiben, das in 196 883 Dimensionen lebt (nur um eins kleiner als die Zahl 196 884). Und da ein eindimensionaler Punkt ohnehin jede Symmetrie erfüllt, kann das Monster auch dessen symmetrische Eigenschaften beschreiben. So fand McKay die Zahl 196 884 auf »magische Weise« wieder: Er addierte die ersten beiden Dimensionen, in denen es ein Objekt gibt, das die Symmetrie des Monsters befolgt: 196 883 + 1 = 196 884.

»Wenn man einen Haufen verschiedener Zahlen hat, dann werden einige davon zwangsläufig zufällig übereinstimmen«Richard Borcherds, Mathematiker

Klingt das für Sie weit hergeholt? Wenn ja, sind Sie damit nicht allein. Die Fachwelt schenkte dem Ergebnis nur wenig Beachtung. Denn eine Struktur wie das Monster weist etliche Zahlen auf, ebenso wie die Folge aus der Zahlentheorie, die McKay damit in Verbindung brachte. »Wenn man einen Haufen verschiedener Zahlen hat, dann werden einige davon zwangsläufig zufällig übereinstimmen«, sagt der Mathematiker Richard Borcherds, der große Beiträge in dem Gebiet geleistet hat, in einem erklärenden Youtube-Video.

Doch McKay ließ das Gefühl nicht los, dass die beiden extrem unterschiedlichen mathematischen Bereiche der Geometrie und der Zahlentheorie zusammenhängen könnten. Er bedruckte sich sogar T-Shirts mit der Aufschrift »196 883 + 1 = 196 884« und besuchte damit Konferenzen.

Vollkommener Wahnsinn oder ein Geniestreich?

Kurze Zeit später erkannte der Mathematiker John Thompson, dass an McKays Verdacht doch etwas dran sein könnte. Ihm gelang es, die nächsthöhere Dimension, in der ein Objekt die Symmetrien des Monsters befolgt, mit dem nächsten Glied der mysteriösen Zahlenfolge aus der Zahlentheorie in Verbindung zu bringen: Die Dimension beträgt 21 296 876, das Glied der Zahlenfolge lautet 21 493 760. Die Werte weichen zwar voneinander ab – aber wenn man wie zuvor alle Monster-Dimensionen addiert (1 + 196 883 + 21 296 876) ergibt sich das zweite Folgenglied 21 493 760.

An diesem Punkt begann die Mathematikgemeinschaft, neugierig zu werden. Vielleicht hatte McKay ja doch Recht – auch wenn es total absurd klang. Was sollte diese seltsame Struktur, die Symmetrien unvorstellbarer Objekte beschreibt und noch nicht einmal vollständig konstruiert wurde, mit der Zahlentheorie zu tun haben?

»Sie nannten es ›Mondschein‹, weil es so weit hergeholt schien«Don Zagier, Mathematiker

1979 verdichteten sich die Beweise: Auch weitere Zahlen und Dimensionen schienen dem unerwarteten Muster zu folgen. Der Mathematiker John Conway und Simon Norton veröffentlichten schließlich eine Arbeit mit dem Titel »Monstrous Moonshine«, in der sie die Vermutung eines solchen Zusammenhangs zwischen Geometrie und Zahlentheorie darlegen. Mit »Moonshine« bezeichnet man im Englischen verrückte Ideen. »Sie nannten es ›Mondschein‹, weil es so weit hergeholt schien«, sagte der Zahlentheoretiker Don Zagier vom Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn zu »Quanta Magazine«.

Und tatsächlich muss die Hoffnung damals sehr klein gewesen sein, diese Mondschein-Vermutung jemals beweisen zu können. Ganz abgesehen davon, dass es keinen Anhaltspunkt dafür gab, dass die beiden entfernten mathematischen Gebiete zusammenhängen, war noch nicht einmal völlig klar, ob das Monster wirklich existiert.

Das Monster im Mondschein

Das Monster war eine theoretische Vorhersage der Gruppentheorie, einem Bereich der Geometrie, der sich mit den symmetrischen Eigenschaften von Objekten beschäftigt. In den 1970er Jahren begannen Mathematiker, eine Art Periodensystem der Gruppen zu erstellen: Sie wollten die »Atome« der endlichen Symmetrien finden. Demnach lässt sich jede endliche Gruppe durch eine Kombination dieser Atome darstellen. Nach jahrzehntelanger Forschung schienen die Geometer endlich am Ziel. Anders als bei den chemischen Elementen gibt es zwar unendlich viele »endliche einfache Gruppen«, aber sie lassen sich in 18 Kategorien einteilen, die in ihrer Anordnung an das Periodensystem erinnern. Dabei stießen die Fachleute aber auch auf insgesamt 26 Außenseiter, die sich nicht in diese 18 Klassen einfügen.

Symmetrien des Dreiecks | Die Symmetrien eines Dreiecks bilden eine endliche Gruppe.

Der erste solche Vertreter war das »Monster«, das die Mathematiker Bernd Fischer und Robert Griess 1973 vorhergesagt haben. Der Name kommt von der schieren Größe dieser Gruppe – sie enthält mehr als 8·1053 Symmetrien. Zum Vergleich: Die Symmetriegruppe eines 20-seitigen »W20«-Würfels (Ikosaeders) enthält 60 Symmetrien. Das sind 60 mögliche Transformationen (Drehungen oder Spiegelungen), die man vornehmen kann, ohne den W20 zu verändern.

Die sporadischen Gruppen | Einige der sporadischen Gruppen (bunt eingefärbt) hängen zusammen. Die weißen Gruppen gehören zu den Außenseitern der Außenseiter, den so genannten Parias.

Wegen seiner schieren Größe stellte das Monster Mathematikerinnen und Mathematiker vor massive Herausforderungen. »Man ging davon aus, dass es noch ewig dauern würde (wenn überhaupt), um das Monster zu konstruieren. Man dachte, es wäre zwingend ein Computer nötig«, sagt Richard Borcherds. Doch leistungsfähige Rechner haben mit einer Struktur, die aus 8·1053 Elementen besteht, zu kämpfen. Die pessimistische Prognose erwies sich jedoch als falsch. 1980 gelang es Griess – ganz ohne die Hilfe von Computern – das Monster zu konstruieren und damit dessen Existenz zu beweisen.

Eine Sinusfunktion auf Steroiden

Auf der anderen Seite des Mondscheins schien es nicht wirklich einfacher zuzugehen. Zwar geht es in der Zahlentheorie meist um ganze Zahlen, was auf den ersten Blick recht simpel wirkt. Doch um die Zusammenhänge zwischen ihnen zu untersuchen, greifen Fachleute auf komplizierte Konzepte zurück, etwa so genannte Modulformen. Dabei handelt es sich um Funktionen f(z), die extrem symmetrisch sind. Wie bei der Sinusfunktion braucht man nur einen bestimmten Ausschnitt einer Modulform zu kennen, um zu wissen, wie sie überall sonst aussieht. »Modulformen sind so etwas wie trigonometrische Funktionen, aber auf Steroiden«, sagte der Mathematiker Ken Ono gegenüber dem »Quanta Magazine«. Aber: »Es gibt keine einfachen Beispiele für eine Modulform«, macht Borcherds klar.

Modulraum | Beispiel für einen Modulraum

Dennoch spielen sie in der Mathematik eine extrem wichtige Rolle. »Es gibt wahrscheinlich weniger Bereiche der Mathematik, in denen sie keine Anwendung finden, als solche, in denen sie genutzt werden«, meint Zagier. Andrew Wiles nutzte sie zum Beispiel, um den Großen Satz von Fermat zu beweisen und Maryna Viazovska fand damit die dichteste Kugelpackung in acht Raumdimensionen. Da Modulformen aber so kompliziert sind, nähert man sie oft durch ein unendlich langes Polynom an, etwa: \(f(q) = \frac{1}{q} + 19688q + 21493760q^2 + 864299970q^3 + … \). Die Vorfaktoren vor der Variablen q bilden dabei aus zahlentheoretischer Sicht eine Zahlenfolge mit interessanten Eigenschaften. Diese Zahlenfolge hatte McKay mit dem Monster in Verbindung gebracht.

Ein überraschendes Bindeglied

In den 1980er Jahren hörte Borcherds erstmals von der Mondschein-Vermutung. »Das hat mich völlig umgehauen«, erinnert er sich in einem Interview mit dem Youtuber Curt Jaimungal. Er habe damals in einer Vorlesung von Conway gesessen und erfahren, dass die Zahlentheorie und die Gruppentheorie auf mysteriöse Weise zusammenhängen könnten. Das Thema ließ ihn nicht mehr los. Er begann, nach der vermuteten Verbindung zu suchen – und wurde fündig: 1992 veröffentlichte er sein bahnbrechendes Ergebnis, für das er sechs Jahre später die Fields-Medaille bekommen sollte, eine der höchsten Auszeichnungen der Mathematik. Sein Ergebnis: Ein hochspekulativer Bereich der Physik, die Stringtheorie, liefert offenbar das fehlende Puzzleteil zwischen dem Monster und der Zahlenfolge.

Die Stringtheorie versucht, die vier Grundkräfte der Physik (Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft sowie die Gravitation) miteinander zu vereinen. Anstatt dafür wie in herkömmlichen Theorien auf Teilchen oder Wellen zu setzen, aus denen die Grundbausteine des Universums bestehen sollen, spekuliert die Stringtheorie mit eindimensionalen Gebilden: Winzige, hauchdünne Fäden schwingen demnach wie die Saiten eines Instruments und erzeugen damit die bekannten Teilchen und Wechselwirkungen, die wir im Universum wahrnehmen.

Borcherds wusste, dass die Stringtheorie auf vielen mathematischen Prinzipien beruht, die mit Symmetrien zusammenhängen. Wie sich herausstellt, spielen darin auch die Modulformen eine Rolle: Wenn die winzigen Fäden geschlossen sind und sich wabernd durch die Raumzeit bewegen, bildet ihre Spur einen zweidimensionalen Schlauch. Dieser besitzt dieselbe Symmetrie wie Modulformen – unabhängig davon, wie der Faden schwingt.

Die Art der Stringtheorie, die Borcherds untersuchte, lässt sich nur in 25 Raumdimensionen mathematisch formulieren. Da unsere Welt jedoch nur aus drei sichtbaren Raumdimensionen besteht, nehmen Stringtheoretiker an, dass die übrigen 22 Dimensionen winzig klein aufgerollt sind, etwa als Kugel oder als donutförmiger Torus. Allerdings hängt die Physik von dieser genauen Form ab: Eine Stringtheorie, in der die Dimensionen als Zylinder aufgerollt sind, liefert andere Vorhersagen als eine, bei der sie eine Kugel formen. Um die Teilchen und ihre Wechselwirkungen passend zu unserer Welt zu beschreiben, müssen Physiker in ihren Berechnungen die richtige »Kompaktifizierung« finden.

Borcherds war er an den mathematischen Eigenschaften des Modells interessiert und nicht an einer physikalischen Theorie, die unsere Welt beschreibt

Borcherds rollte hingegen 24 Dimensionen zu einer 24-dimensionalen Donutoberfläche auf und entdeckte so, dass die dazugehörige Stringtheorie die Symmetrie des Monsters besitzt. Dass dabei nur eine freie Raumdimension übrig bleibt, störte ihn nicht weiter. Schließlich war er an den mathematischen Eigenschaften des Modells interessiert und nicht an einer physikalischen Theorie, die unsere Welt beschreibt.

In dieser konstruierten Welt schwingen die Fäden entlang des 24-dimensionalen Donuts. Die Dimensionen des Monsters zählen alle Möglichkeiten, mit denen ein Faden bei einer bestimmten Energie vibrieren kann. Bei niedrigster Energie schwingt er also nur auf eine Art, bei der nächsthöheren Energie gibt es bereits 196 883 verschiedene Möglichkeiten. Und die Spur, die der Faden dabei hinterlässt, besitzt die Symmetrie einer Modulform.

Damit hatte Borcherds den Zusammenhang zwischen der Monstergruppe und einer Modulform bewiesen. Und es sollte nicht der einzige solche Fall bleiben: Inzwischen konnten Mathematikerinnen und Mathematiker weitere endliche Gruppen mit anderen Modulformen in Verbindung bringen – und auch dort übernimmt die Stringtheorie die Rolle als Verbindungsglied. Selbst wenn sich also herausstellen sollte, dass die spekulative Theorie nicht geeignet ist, unsere reale Welt zu beschreiben, so hilft sie doch dabei, ganz neue mathematische Welten zu entdecken.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.