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Warkus' Welt: Wo endet die moralische Pflicht?

Handlungen, die über die moralische Pflicht des Einzelnen hinausgehen, bezeichnet man auch als Supererogation. Das Konzept stürzt Philosophen in ein Dilemma: Am Ende bereute selbst der Mann, der den Begriff prägte, ihn populär gemacht zu haben. Eine Kolumne.
Frau hilft älterer Frau über die Straße
Wer sich supererogatorisch verhält, geht sozusagen die moralische Extrameile. (Symbolbild)
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Wann haben Sie zuletzt einem Fremden über die Straße geholfen? Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen dies als Paradebeispiel für alltägliche Hilfsbereitschaft galt. Der enthusiastische Pfadfinder, der eine alte Dame über die Straße zerrt, obwohl sie diese gar nicht überqueren will, war eine Standardpointe. Inzwischen scheinen Menschen einander seltener über die Straße zu helfen. Vielleicht, weil es mehr abgesenkte Bordsteine und Fußgängerampeln gibt und alte Leute allgemein mobiler sind und besser sehen als früher. Als Beispiel für eine »gute Tat« muss die Szene aber immer noch häufig herhalten. Woran liegt das?

Ich vermute: Das Über-die-Straße-Helfen ist deswegen eine besonders bemerkenswerte Tat, weil es über das moralisch von uns Verlangte hinauszugehen scheint. Wenn ich einen Verletzten auf der Straße liegen sehe, ist es meine (sogar gesetzliche!) Pflicht, ihm zu helfen. Wenn jemand am Straßenrand steht, verpflichtet mich hingegen niemand, meinen Weg zu verlassen und mir ein paar Minuten Zeit zu nehmen, um die Person über die Straße zu bringen. Wenn ich es nicht tue, tut es vielleicht ein anderer Passant, und auch ohne Hilfe schafft es die Person sicher irgendwie auf die andere Straßenseite, nur eben mühsamer. Meine Hilfeleistung ist lobenswert, geht jedoch über das, wozu ich verpflichtet bin, hinaus.

Für diese Art von Handlungen gibt es in der Ethik den Ausdruck »Supererogation«. Er wurde 1958 durch den englischen Philosophen James O. Urmson (1915–2012) geprägt und geht auf ein lateinisches Wort zurück, das so viel bedeutet wie »mehr bezahlen, als man schuldet«. Supererogation lässt sich zum Beispiel definieren als »Handlung, die zu tun moralisch gut ist, die zu unterlassen aber nicht moralisch schlecht ist«.

Supererogation lässt sich nicht besonders trennscharf umreißen

Man könnte nun meinen, damit sei der Fall erledigt. Doch wenn man der Sache nachgeht und versucht, klar und konsequent festzulegen, welche Handlungen supererogatorisch sind, stößt man schnell auf Schwierigkeiten. So ist es sicher lobenswert, wenn sich jemand motiviert sieht, Fremden, die diese Hilfe brauchen, über die Straße zu helfen. Aber wenn ein bestimmtes Handeln allgemein lobenswert ist, ist es dann nicht auch allgemein wünschenswert? Heißt das dann nicht gerade, dass wir moralisch dazu verpflichtet sind? Heißt es nicht, dass man es uns zu Recht vorwerfen kann, wenn wir die wünschenswerte Handlung unterlassen? Wie kann man hier eine Trennlinie ziehen?

Verzichtet man auf die Trennung und akzeptiert, dass absolut jede Handlung, die in einer Situation allgemein wünschenswert ist, eine moralische Pflicht darstellt, dann landen wir bei Ansprüchen, denen nachzukommen für gewöhnliche Menschen schwierig ist. Wir wären nicht nur verpflichtet, gute Menschen zu sein, wir müssten geradezu Heilige sein, wie Urmson es nennt. Wir wären alle – jeder einzelne potenzielle Passant – verpflichtet, dem alten Mann über die Straße zu helfen, allerdings auch, ihn zum Arzt zu begleiten, ihm beim Aufräumen seiner verwahrlosten Wohnung zu helfen, zwischen ihm und seinen mit ihm zerstrittenen Kindern zu vermitteln und so weiter, selbst wenn wir dazu unser Erspartes aufbrauchen und uns viele Stunden sehr unangenehmen Situationen aussetzen müssen.

Ein Gegenargument hierzu besteht darin, dass moralische Verpflichtungen ihre Grenze dort finden, wo uns selbst Schaden entsteht oder unsere rationale Lebensplanung durchbrochen wird. Das macht es aber wenig besser. Ein (kleiner) Schaden entsteht mir auch, wenn ich nur eine minimale Entbehrung habe – die fünf Minuten, die ich brauche, um jemandem über die Straße zu helfen, könnten die fünf Minuten sein, die mir später für den Espresso nach dem Mittagessen fehlen, der mir sonst große Freude bereitet. Umgekehrt wird bei klarerweise verpflichtenden Handlungen erwartet, dass ich Schaden hinnehme: Wenn ich einen Schwerverletzten auf der Straße finde, darf ich ihn nicht liegen lassen, weil ich auf dem Weg zu einem für mein Geschäft wichtigen Kundentermin bin. Die Frage nach der Grenze zur Supererogation löst sich in die Frage danach auf, ob Menschen zu Selbstaufopferung verpflichtet sind und wenn ja, zu wie viel davon.

Andererseits kann man argumentieren, dass supererogatorische Handlungen sich überhaupt nicht durch moralische Wünschbarkeit oder Verpflichtung definieren, sondern ganz und gar das Ergebnis einer Form von Überwindung und Aufopferung sind, die sich herkömmlichen moralischen Maßstäben entzieht. Jemand, der freiwillig und unter Gefahren Schwerkranke pflegt, einen Räuber in flagranti erwischt und aufzuhalten versucht, aber eben auch jemand, der nur eine alte Dame über die Straße bringt, tut dann etwas, das gerade dadurch besonders lobenswert ist, dass man es sich nicht allgemein wünschen kann. Doch ist es nicht so, dass die Welt besser wäre, wenn es mehr Leute gäbe, die genau so etwas täten? Warum soll es dann nicht im Geschäftsbereich der Moral liegen, festzustellen, dass es so etwas wie eine Pflicht dazu gibt? Man hat den Eindruck, dass jede der drei Möglichkeiten, mit Supererogation klarzukommen, uns in die anderen beiden hineinstürzt.

Urmson selbst hat es 1988 bereut, 30 Jahre zuvor die Kategorie der Supererogation populär gemacht zu haben, weil mit ihr viele sehr unterschiedliche Arten von Handlungen in derselben Schublade landen. Wie auch immer man es damit hält: Das Nachdenken über Supererogation ist heute zu einem wichtigen Schauplatz des philosophischen Nachdenkens über Ethik überhaupt geworden.

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