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Lexikon der Neurowissenschaft: Streß

Streß m [von E stress = Druck, Beanspruchung], ein von Selye entdecktes und (1936) mit diesem Namen bezeichnetes Syndrom vielfältiger physiologischer Anpassungen an unspezifische innere und äußere Reize (Stressoren oder Streßfaktoren; siehe Abb. 1 ; siehe Zusatzinfo ), das im Anfangsstadium als "körperlicher Ausdruck einer allgemeinen Mobilmachung der Verteidigungskräfte im Organismus" (Selye) verstanden wird. Infektionen, Verletzungen, Operationen, emotionale Belastungen (die sowohl positiv als auch negativ betont sein können, z.B. Angst) und Krankheiten aller Art lösen eine Streßreaktionskette aus, innerhalb derer 3 Phasen unterscheidbar sind und die mit einer tiefgreifenden Umstellung im Hormonsystem (Hormone) einhergeht. Für die 3 Phasen – 1) Alarmreaktion, 2) Widerstandsstadium, 3) Erschöpfungsstadium – prägte Selye den Begriff allgemeines Adaptationssyndrom. Während der Alarmreaktion veranlassen Stressoren über das limbische System oder in direkter Wirkung auf den Hypothalamus die Ausschüttung von Corticoliberin, das seinerseits bei der Hypophyse die Abgabe von adrenocorticotropem Hormon (ACTH) auslöst ( siehe Abb. 2 ; Hypothalamus-Hypophysen-System). Unter der Wirkung des ACTH produziert die gleichzeitig vergrößerte Nebenniere Glucocorticoide (vor allem Cortisol), die kurzfristig die schnell verfügbaren Kohlenhydratreserven erhöhen. Glucocorticoide werden daher auch als Streßhormone bezeichnet. Zusammen mit einer Erhöhung des Adrenalin-Spiegels, einer Steigerung des Blutdrucks und Erhöhung der Blutzirkulation sowie einer Kompartimentierung des Blutflusses mit vermehrter Versorgung des Muskels auf Kosten der Eingeweide und der Haut stellt dieses Stadium eine Anpassung an Gefahren mit der Möglichkeit zu schneller Reaktion dar. Unter der Einwirkung von Cortisol wird die zellgebundene Immun-Abwehr (Immunsystem) geschwächt (Psychoneuroimmunologie) und damit die Gefahr von Infektionen erhöht; entzündliche Abwehrmechanismen werden zunächst unterdrückt. Noch Wochen nach einem Streßereignis ist (nach Untersuchungen an Menschen) die Proliferationsrate der T-Lymphocyten vermindert. Aus solchen Befunden resultiert auch die Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Streß (hier verminderte Tumor-Abwehr) und Krebs. Im Stadium der Widerstandsreaktion kommt es zu einer Vermehrung der Mineralocorticoide, die normalerweise durch das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System veranlaßt wird, aber auch eine Spätwirkung ständiger ACTH-Ausschüttung ist. Die Glucocorticoidbildung wird unterdrückt, so daß jetzt Entzündungs-Prozesse auftreten. Solche Anpassungskrankheiten äußern sich als Magen- oder Darmgeschwüre und werden dem psychosomatischen Bereich zugeordnet (z.B. Crohn-Krankheit; psychosomatische Krankheit); ihre eigentlichen Ursachen sind wegen der Vielfalt der Stressoren oft unklar. Schließlich kommt es bei Persistenz des Widerstandsstadiums zum Erschöpfungsstadium, in dem die hormonelle Steuerung zusammenbricht und die Nebennierenrinde atrophiert. Der streßbedingte Tod des Organismus kann dann wiederum im einzelnen vielfältige Ursachen haben. Generell hängt es von Intensität und Dauer der Einwirkung der Stressoren ab, wie weit diese 3 Stadien auftreten, auch sind zahlreiche Einzelheiten dieser meist an Tieren untersuchten Reaktionen noch nicht uneingeschränkt auf den Menschen zu übertragen. Abschließend ist zu bemerken, daß Streßfaktoren und Streß in mäßiger Intensität die Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft des Organismus erhöhen können (Trainingseffekt). posttraumatische Belastungsstörung (Zusatzinfo), Psychoneuroimmunologie; oxidativer Streß.



Streß

Abb. 1: Stressoren im Selyeschen Sinne und die Wirkungen auf die Zielorgane

Streß

Unter Dichtestreß versteht man seelische Belastungen durch zu viele Individuen pro Fläche, die sich sowohl im Verhalten auswirken (bei Tieren, z.B. Jungenvernachlässigung, Aggression, Apathie, Kannibalismus) als auch körperliche Folgen bei zusammengepferchten Tieren zeigen (Ausschüttung von Streßhormonen, Mobilisierung der körpereigenen Reserven für Kampf oder Flucht, Reduktion der Fortpflanzungsaktivität, Entwicklungsverzögerung und Kleinwuchs, Nierenversagen). Mit steigender Personendichte nehmen beim Menschen Kindersterblichkeit, Geschlechtskrankheiten, Tuberkulosefälle, Suizid-Rate, Jugendkriminalität und Geisteskrankheiten zu. Die Personendichte ist aber hier sicher nicht der einzig und nicht der direkt wirksame Faktor. Die Verstädterung z.B. bringt viele Veränderungen mit sich, an die der Mensch evolutionär nicht angepaßt ist. In der persönlichen Begegnung zwischen Individuen werden aufgrund der sozialen Überstimulation, des "cognitive overload", Mechanismen entwickelt, die dazu beitragen, den Streß zu verringern. Der Dichtestreß entsteht dadurch, daß der Mensch genetisch prädisponiert ist, persönliche Bande zu knüpfen. Mit den Mitgliedern einer Kleingruppe ist dies möglich, innerhalb der Vielzahl der täglichen Begegnungen in heutigen städtischen "Supergruppen" jedoch nicht mehr. Um den Begegnungsstreß zu reduzieren, haben sich Mechanismen der Nichtbeachtung entwickelt; zu dem sogenannten "civil inattention" gehört z.B. die Vermeidung von Blickkontakt, von Ansprechen und anderer Kommunikation mit Personen, die die Individualdistanz aufgrund räumlicher Beschränkungen zwangsläufig unterschreiten müssen (z.B. im Fahrstuhl). Proxemik.



Streß

Abb. 2: schematische Darstellung des Streßhormonsystems (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System). Im Hypothalamus produziertes Corticoliberin und Vasopressin stimulieren die Hypophyse zur Freisetzung von ACTH, das seinerseits aus der Nebennierenrinde Cortisol freisetzt. Dieses kann über negative Rückkopplung seine eigene Aktivierung begrenzen.

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