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Metzler Philosophen-Lexikon: Kierkegaard, Sören Aabye

Geb. 5. 5. 1813 in Kopenhagen;

gest. 11. 11. 1855 in Kopenhagen

Die anhaltende Faszination, die von K.s schwermütiger Philosophie ausgeht, verdankt sich der Einzigartigkeit des Versuchs, das Leiden an der eigenen melancholischen Befindlichkeit mit Einsichten in wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz zu verbinden. Die Bedeutung seiner Lebensgeschichte ist augenfällig. Bestimmend für K.s Entwicklung mag wohl der religiös begründete Schuldwahn des Vaters gewesen sein. Depressionen hatten den wohlhabenden Großhändler schon früh zum Rückzug ins Privatleben genötigt. Nicht zuletzt auf seine rigiden Bemühungen um eine christlich orientierte Erziehung ist die Übertragung des melancholischen Syndroms auf den Sohn zurückzuführen. Die Pathologie der Schwermut äußert sich bei K. als Kampf um die Erhaltung eines kohärenten Selbst, das sich durch eine so ursprüngliche wie unentrinnbare Abhängigkeit bedroht fühlt und daher den manischen Zwang entwickelt, jede Grenze vorgegebener Ordnungen im Binnenraum unablässiger Reflexion zu übersteigen. Die allgemeine kritische Bedeutsamkeit einer derart narzißtisch geprägten Charakterstruktur tritt in einer geschichtlichen Situation zutage, in der die Prädominanz der gesellschaftlich-kulturellen Systeme über die Individuen offenkundig wurde. Als Manifestation dieser epochalen Tendenz hat K. die Anpassungsbemühungen der christlichen, vor andern der protestantischen Kirchen an die Gewohnheiten und Normen der bürgerlichen Welt begriffen. Innere Disposition und objektiv geschichtliche Lage wirken beim Entschluß des jungen Kandidaten der Theologie zusammen, nach bestandenem Magisterexamen (1841) nicht, wie sonst üblich, in den Kirchendienst einzutreten. Sein Leben ist fortan ausschließlich der schriftstellerischen Arbeit in der erklärten Absicht gewidmet, gegen alle Zeittendenz auf »Innerlichkeit« und »Existenz« aufmerksam zu machen. Die Lösung des Verlöbnisses mit Regine Olsen im Oktober 1841, ein »Bruch«, der – K. zufolge – nichts Geringeres als sein »Gottesverhältnis« begründete, bezeichnet die Zäsur einer Entscheidung gegen die Integration in die bürgerlichen Sphären von Familie und Amt. Das ererbte Vermögen sichert ihm das standesgemäße Auskommen eines patrizischen Privatiers.

Kennzeichnend für die seinerzeit das dänische Geistesleben dominierende Konstellation, in der K. seinen Ort ohne Zögern bestimmt hat, ist der Gegensatz zwischen einem dezidierten Individualismus, wie ihn die Philosophen Frederick Christian Sibbern und Poul Martin Møller verkündeten, und einer vor allem von Johan Ludvig Heiberg, dem Lustspieldichter, kreierten Hegelmode, die im Bereich der Theologie durch die eklektizistischen Bemühungen Hans Lassen Martensens um eine Rekonstruktion der offenbarten Religion im Medium einer »spekulativen Dogmatik« akademisch verfeinert wurde. Gegen die von Martensen repräsentierte religionsphilosophische Position richtet sich K.s polemischer Widerwille. Demgegenüber hat die besonders von Møller gepflegte Emphase einer intellektuellen Aufrichtigkeit kraft antisystematischer Gesinnung auf K.s Denkethos entscheidend gewirkt. Der eigenen Positionsbestimmung kommen theoretische Motive des späten Schelling zu Hilfe, dessen spektakuläre, dann so enttäuschende Vorlesungen sich K. 1841 in Berlin nicht entgehen ließ.

Vornehmlich der gegen Hegel entfaltete Gedanke von der Priorität der »positiven« Existenz vor der begrifflichen Essenz, dem Wesen, hat den kritischen Reflexionen K.s ihr Relief gegeben. Seine Stellung in der Kopenhagener Öffentlichkeit, seit Erscheinen des überraschend umfänglichen Jugendwerkes Entweder..Oder (1843) ohnehin exponiert genug, wird mit den Jahren, die von rastloser schriftstellerischer Tätigkeit ausgefüllt sind, immer prekärer, bis im sog. »Korsarenstreit« (1846), provoziert durch die K. persönlich verletzenden Attacken eines satirischen Journals, die Haltung des befehdeten Autors sich zur stoischen Innerlichkeit eines Märtyrers verhärtet, der dem Hohn der Straße die Stirn bietet. Die Revolutionsereignisse von 1848 erscheinen K. nur wie gewaltsame Manifestationen des ohnehin grassierenden Zeitgeistes subjektfeindlicher Nivellierung. Nach dem Tod von Bischof Mynster, der integren Repräsentationsfigur eines ästhetisch verklärten Staatschristentums, faßt der Philosoph den Entschluß, mit einer Reihe von Artikeln und Flugschriften, die unter dem Leittitel Der Augenblick (1855) firmieren, gegen die Staatskirche und die etablierte Christenheit vorzugehen, die seiner Bußpredigt zufolge das Christentum zugrundegerichtet haben. Der Kampf hat den Höhepunkt erreicht, als K., physisch wie ökonomisch am Ende seiner Kraft, im selben Jahr stirbt. Die Biographie zeigt, daß die Hartnäckigkeit, mit der er auf weltabgewandter Innerlichkeit insistiert, von deren Gegensatz, der Welt der gesellschaftlichen Einrichtungen, dermaßen bestimmt ist, daß sie schließlich revoltierend sich nach außen kehren mußte.

Die für K.s Philosophie charakteristische Begriffssprache hat ihren Ursprung in der Transformation wesentlicher Begriffe der idealistischen Systematik Hegels in Bestimmungen der subjektiven Immanenz des Einzelnen. Zu den historischen Bedingungen der Hegelschen Philosophie gehört jener mit der Konstitution der bürgerlichen Welt einhergehende Prozeß, in dem die Individuen aus traditional begründeten Lebenszusammenhängen freigesetzt werden. Die lebensweltlich erfahrbare Konsequenz dieses Prozesses, der als Entzweiung und Zerrissenheit oft beklagte Gegensatz zwischen der einzelnen Subjektivität und den überindividuellen Institutionen des »objektiven Geistes«, drängte das Hegelsche Denken zur Ausarbeitung eines Begriffes von der Einheit der »Idee«, der die Wesensbestimmung des einzelnen Subjekts als Moment eines durch die Selbstdifferenzierung des »Absoluten« erzeugten Zusammenhangs kategorialer Formen faßt. Solche »Wissenschaft« spekulativer Erkenntnis, deren öffentliches Ansehen späterhin immer mehr unter den Druck der Erfahrung fortschreitenden Sinnentzuges gerät, ruft eine Kritik auf den Plan, die wiederum die handfeste Evidenz der Entzweiung gegen die Versöhnung durch die Spekulation geltend macht. Dies ist der Ausgangspunkt der kritischen Aktivitäten der Linkshegelianer gewesen. K. hat fraglos an dieser Bewegung teil: ihm wird Entzweiung in der Übermacht der institutionellen Gewalten, des »Objektiven« und »Allgemeinen«, sinnfällig. Unter dieser Perspektive erscheint das Vermittlungsprojekt einer Metaphysik des absoluten Geistes illusorisch. Es rechnet im Gegenteil selbst schon zu den Mächten subjektfremder Objektivität. So wird für K. eine Philosophie motiviert, die der epochalen Tendenz des Subjektzerfalls den Appell entgegenhält, in »Innerlichkeit« zu »existieren«, statt in den normierten Funktionen der Gesellschaft aufzugehen.

K. hat dabei die Explikation seines Gegenentwurfs einer Philosophie der Existenz durch eine Stilisierung überformt, die wesentliche Elemente der Gedankenwelt der deutschen Frühromantik entnimmt. In diesem Zusammenhang sind zwei Motive von zentraler Bedeutung: Selbsttätigkeit und Reflexion. Beide Elemente sind Konstituentien der Ironie. Mit ihrer Begründung bei den Romantikern aber ist eine Theorie der Subjektivität verbunden, deren systematisch-idealistisches Begriffsrepertoire K. gleichwohl für die Formulierung einer nichtspekulativen Deutung der Existenz tauglich scheint. Dadurch wird, von aller Polemik unberührt, die Kontinuität mit den Fragestellungen des idealistischen Denkens (seit Fichte) gewahrt. So liegt der systemfeindlichen Attitüde K.s durchaus ein differenziertes System zugrunde. Erst von dessen Direktiven her läßt sich auch die theoretische Tiefenstruktur besonders der Frühwerke erschließen, deren Signatur durch die Darstellungsweisen der literarischen Romantik bestimmt ist.

Das Problem der Konstitution eines freien Selbstverhältnisses stellt das dynamische Element in K.s existenzphilosophischem Denken dar. Dessen lebensgeschichtliche Bedingtheit zeigt sich darin, daß es jene ästhetische Souveränität autonomer Reflexion gewesen ist, in der K. seit seiner Jugend die Unabhängigkeit von der väterlichen Herkunftswelt ebenso wie von den bürgerlichen Mächten des Staates, der Kirche und der Wissenschaft garantiert sah. Unter dem Gesetz dieser narzißtisch gefärbten Haltung schwebender Verweigerung – quälend kommt sie nach dem Bruch mit Regine in monologischen Bewältigungsversuchen der Stadien auf dem Lebensweg (1845) zum Ausdruck – steht alle schriftstellerische Bemühung des Philosophen. Mit durchaus unterschiedlichen Formen jener Selbstbehauptung befaßt sich K. schon in der 1841 erschienenen Magisterabhandlung über den Begriff der Ironie, wo er, in kritischem Anschluß an Hegel, die – eine noch unbestimmte Gestalt von Moralität antizipierende – Sokratische Ironie mit der modernen romantischen kontrastiert. In den Bann hat ihn die einzigartige Erscheinung des Sokrates ihrer verborgenen Innerlichkeit wegen geschlagen. Sie wirkt durch Ironie, die, nachdem sie jedes positive Wissen als Schein entlarvt hat, die direkte Mitteilung etwa einer neuen Doktrin verweigert. Als »existierender Denker« wird Sokrates zum Leitbild. So hat K. das Verfahren der Sokratischen Ironie, von dem durch Vernichtung aller vorgegebenen Sinngehalte der »Anstoß« zur innerlichen Selbsttätigkeit des Schülers ausgehen soll, in seiner literarischen Arbeit zur Kunst der »indirekten Mitteilung« zeitgemäß verfeinert. In ihrem Dienst steht die Verwendung einer Vielzahl von Pseudonymen, die oft genug gegeneinander ausgespielt werden.

Wie sehr K. jedoch, obgleich er die Sokratische Ironie gegen deren moderne Formen ausspielt, dem romantischen Denkstil verhaftet ist, offenbart sein eigentliches Debütwerk. Der Titel Entweder... Oder zeigt die Konfrontation der subjektivistischästhetischen Lebenshaltung mit der »ethischen« an, die den Normen bürgerlicher »Allgemeinheit« verpflichtet ist. Zwar wird, im Wechselspiel der Pseudonyme, das Defizit der alles transzendierenden Momentexistenz des Ästhetikers (und bemühten Idealisten der »Verführung«) aus der Sicht des verantwortungsvollen Daseins des Ethikers angeprangert. Gegenüber der wahren Autonomie des Ethischen, das sich in der Selbstwahl der eigenen Freiheit, der puren Möglichkeit zu wählen, unter gleichzeitiger Rückbindung an die konkrete Bestimmtheit der Person erfüllt, soll sich die Freiheit des Ästhetikers als Illusion enthüllen. Mehr und mehr wird aber deutlich, daß das »Stadium« des Ethischen selbst an einem Mangel krankt, der als »Reue« das Individuum auf das Religiöse verweist. Das Religiöse indessen ist mit Bestimmungen des Ästhetischen behaftet, fixiert es doch eine Sphäre subjektiver Immanenz, die sich – wie das ironische Wesen des Ästhetikers – durch eine permanente Negationsbewegung von der Bindung an Inhalte vorgegebener Wirklichkeit fernhält.

Noch im Erscheinungsjahr von Entweder..Oder – 1843 – entwickelt K. in der philosophischen Novelle Die Wiederholung und, systematisch, in der Schrift Furcht und Zittern jenes als moralisches Skandalon eingeführte Theorem, das die Haltung des Ethikers zugunsten der Ausnahmesituation des Religiösen aufhebt: die Lehre von der »teleologischen Suspension des Ethischen«. Gemeint ist, daß das Verhältnis des Ethikers zum Allgemeinen im absoluten Verhältnis des einzelnen zu Gott außer Kraft gesetzt wird. Die gedankliche Wendung ergibt sich schon aus der Einsicht, daß der Ethiker auf die Rückkehr in die Endlichkeit der konkreten Lebensverhältnisse angewiesen ist, also die kraft seiner Selbstwahl erschlossene Unendlichkeit der Autonomie wieder aufgeben muß. Diese Rückkehr steht nicht mehr in der Macht des autonom Wählenden. Das religionsphilosophische Gedankenspiel hängt offenkundig mit dem Versuch der Bewältigung einer Lebenskrise zusammen. Ausdrücklich wird das Gottesverhältnis nunmehr als die fundierende Beziehung begriffen, die die ersehnte Vermittlung von Endlichem und Unendlichem in ihrer Möglichkeit verbürgt. Allerdings bleibt, solange die Gültigkeit des Gottesverhältnisses in Frage steht, der Glaube an die definitive Rückkehr ins Leben, die »Wiederholung« des Endlichen nach dem Durchgang durch die unendliche Resignation, gleichfalls in der Schwebe. In letzter Instanz wird der Ausfall dieses Vermittlungsereignisses dem Subjekt selbst aufgebürdet. Dessen Existenz soll nun gerade in diesem Widerspruch ihr Wesen haben.

K.s Arbeit der folgenden Jahre konzentriert sich auf die nähere Charakterisierung der existentiellen Widersprüchlichkeit. So bestimmt er in der Schrift über den Begriff Angst (1844) den Menschen als »Synthese von Seele und Leib«, des »Zeitlichen und Ewigen«. Die Synthese wird, wenn das Subjekt (wie vordem der Ethiker) im freien Willensakt sich selbst »ergreift«, als solche überhaupt erst »gesetzt«. Aus den unterschiedlichen Modi des Scheiterns der setzenden Aktivität lassen sich defizitäre Formen des Existierens ableiten. Als Angst findet solches Scheitern den eigentümlichen Ausdruck in einer Situation, in der der Geist als setzendes Prinzip (welches jene Synthese hervorbringen soll) das Subjekt mit dessen Freiheit als unendlicher Möglichkeit zu können konfrontiert. Das Versagen der Freiheit vor ihrer eigenen Möglichkeit bringt das Selbstverständnis des Individuums unter die Herrschaft des »Endlichen«. Der Widerspruch, daß das Verhältnis des Subjekts zum Geist durch die Negation dieses Verhältnisses bestimmt wird, bringt etliche Konfigurationen existentiellen Leidens hervor. Durch eine Pathologie der »Verzweiflung« wird in dem Traktat über die Krankheit zum Tode (1849) die Analyse des Begriffes Angst vertieft. Dort entwickelt K. vor dem Horizont des durchaus affirmativ aufgegriffenen spekulativen Gedankens – ein gelungenes Selbstverhältnis stellt sich erst in der Beziehung zu seiner setzenden Instanz her – seine Lehre von den Krankheiten des Geistes, der sich gegen jene setzende Kraft abzuschließen trachtet. Bezeichnend ist, daß, wie im Spätwerk Fichtes oder bei Friedrich Schleiermacher, die Subjektivitätstheorie als Einführungsdisziplin einer religionsphilosophischen Lehre fungiert. Die verschiedenen Konstellationen gescheiterter Selbstverhältnisse verweisen auf ebenso defizitäre Beziehungen zu der Dimension des »setzenden« Grundes, traditionell gesprochen: zu Gott. Damit hat der dogmatische Begriff der Sünde seine systematische Interpretation gefunden.

K. deutet die Geschichte des Christentums als Prozeß fortschreitender Einbuße an Innerlichkeit, an »leidenschaftlicher Interessiertheit«. Für den existentiellen Denker K. verbindet sich daher die Deutung entfremdeter Formen menschlichen Daseins mit einer sich im Lauf der Jahre steigernden Kritik der institutionell erstarrten Religion. Demgegenüber das genuine Verständnis des Christlichen wiederherzustellen, ist die Intention der theologischen Arbeiten von den Philosophischen Brocken (1844) über die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (1846) bis hin zur predigthaften Einübung im Christentum (1850). Daneben gibt K. eine Vielzahl von »erbaulichen« und »christlichen Reden« heraus, wobei er auf die gewohnte Manier pseudonymer Verfasserschaft verzichtet.

K.s polemische Grundhaltung gegen die, nach einem Wort des jungen Hegel, »Positivität« offizieller Religion überläßt sich der asketischen Bewegung der radikalen Weltverneinung. Solche Abkehr aber resultierte in der urchristlichen Gemeinde aus der Erwartung der Parusie, der Gewißheit der nahen Wiederkunft Christi. Das Ausbleiben der Parusie jedoch verurteilte das Christentum zum Verkehr mit der Welt, zur Geschichtlichkeit. Dagegen richtet sich K.s leidenschaftlicher Protest. Sein geschichtsfeindliches Denken ist auf einen Begriff emphatischer »Gleichzeitigkeit« fixiert, wodurch die geschichtslose Aktualität der Begegnung mit dem Paradox Christi eingefordert werden soll, dem Paradox eines Ewigen, das im Zeitlichen situiert ist.

Nicht nur der Bann des schwermütig frommen Vaterhauses hat K. die Identifikation mit der extremen Gestalt christlicher Religiosität aufgenötigt. Dem Interesse existenzphilosophischer Denkstrategie stellt sich das weltverneinende Ethos ursprünglicher Christlichkeit zugleich als stets gegenwärtiger Appell dar, Innerlichkeit zu steigern. Der Gedanke, daß allein durch den Prozeß der Negation Innerlichkeit sich überhaupt erst bildet, erreicht seine eigentliche Pointe durch die für K.s Anthropologie fundamentale Einsicht, derzufolge der Mensch durch die widersprüchliche Synthesis von Zeitlichem und Ewigem bestimmt ist. Dies bedeutet, daß der religiöse Mensch sich gegen ein Moment seiner eigenen Bestimmung zu wenden hat. Solcher – durchaus asketischen – Wendung widmet die Nachschrift besondere Aufmerksamkeit. Diese nicht einmal im eigentlichen Sinn christliche Frömmigkeit verschließt sich unter den Bedingungen einer Welt, in der das Parusieereignis ausbleibt, in die innere Praxis des Leidens, des »existientiellen Pathos«. Offensichtlich hat K. dieses radikale Verständnis von Religiosität im Interesse der Konstruktion einer transzendenten Sinnsphäre entwickelt, die, leere Dimension unvermittelter Andersheit, das Individuum aus seiner Verfallenheit an die Mächte der modernen Welt ins unveräußerlich Subjektive rettet.

K.s philosophische Entwicklung wird von destruktiv ineinandergreifenden Tendenzen bestimmt: Im selben Maß, wie K. heilsverbürgende Instanzen als vergötzte Manifestationen des »Objektiven« nimmermüde entlarvt, treibt er den »absurden« Anspruch ins Unermeßliche, die Versöhnung des Entgegengesetzten müsse, gerade wider alle Vernunft, doch noch an den Tag kommen. Selbst die Religiosität in ihrer pathetischen Form genügt dem verschärften Kriterium subjektiver, existientieller Wahrheit nicht mehr, verläßt sie sich doch in der Selbstgenügsamkeit der leeren Negationsbewegung auf die »immanent zugrunde liegende Verwandtschaft zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen«. Was die eigentümliche Synthese, die die Existenz des Menschen konstituiert, als deren Grund gewährleistet, soll nicht mehr der Immanenz des religiösen Bewußtseins, sondern der Zeitlichkeit des geschichtlichen Augenblicks überlassen sein: dem Paradox der Gestalt Christi. Gerade die Äußerlichkeit der heilsstiftenden Instanz vertieft die Innerlichkeit des Individuums, da das Subjekt in seiner Immanenz nicht mehr sich von einer unvordenklichen Dimension des Ewigen umschlossen weiß. Im Bereich einer durch Gewißheiten welcher Art auch immer hergestellten Kontinuität zwischen der Existenz als Widerspruch und dem personalen Prinzip ihrer Einheit tut sich, mit Lessing zu reden, der »garstige Graben« auf, der nur durch den »Sprung« des Glaubens überwunden werden kann. Die Anstrengung der Reflexion gilt ihrer Entmächtigung; in solchem Sinn ist auch K.s Methode der indirekten Mitteilung zu verstehen. Er fand sie in der hintergründigen Publikationsstrategie des Reimarus-Editors Lessing schon exemplarisch ausgebildet. Am Ende führt jene Entwicklung, wie die späte Schrift Einübung im Christentum zeigt, zur Dissoziation von Wille und Reflexion in Extreme, denen streng und eindeutig die Sphären von Objektivität und Subjektivität zugeordnet sind. Nicht zuletzt ist damit der christliche Glaube gegen die Errungenschaften der modernen Institutionen des Wissens, gegen philosophische Religionskritik (Ludwig Feuerbach) und philologisch-historische Exegese (David Friedrich Strauß), immunisiert. So ist die Wendung der »Dialektischen Theologie« in diesem Jahrhundert vorbereitet. Schon vor dem Ersten Weltkrieg begünstigten die Strömungen des philosophischen Dezisionismus unter dem Einfluß von Nietzsches Werk die enthusiastische Aufnahme des – uvres von K. Hier entdeckte die moderne Existenzphilosophie das Arsenal ihrer Begriffe und Fragestellungen. Dabei wurde K.s Existenzdeutung des theologischen Horizonts beraubt.

Hennigfeld, Jochem/Stewart, Jon (Hg.): Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit. Berlin/New York 2003. – Theunissen, Michael: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard. Frankfurt am Main 1993. – Ringleben, Joachim: Aneignung. Die spekulative Theologie Sören Kierkegaards. Berlin/New York 1983. – Korff, Friedrich Wilhelm: Der komische Kierkegaard. Stuttgart 1982. – Adorno, Theodor W.: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Tübingen 1933, Frankfurt am Main 1962.

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