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Atomanlage Majak: Strahlender Leuchtturm

Tschernobyl ist allen ein Begriff: Die schreckliche Nachricht über das Reaktorunglück ging 1986 um die ganze Welt. Doch schon fast 30 Jahre früher hatte sich der schwerste atomare Unfall aller Zeiten ereignet - in einem Ort, der auf keiner Landkarte existierte.
In der Sperrzone von Kysthym

Am 29. September 1957 um 12.20 Uhr deutscher Zeit schleuderten radioaktive Partikel bis zu tausend Meter hoch in die Luft und verteilten sich auf umliegende Siedlungen, Wiesen und Wälder nahe Kysthym, einem Ort am Rande des Urals – insgesamt verseuchten sie ein Gebiet von zehn bis vierzig Kilometer Breite und dreihundert Kilometer Länge. Die freigesetzte Radioaktivität überstieg sogar die von dem Reaktorunfall in Tschernobyl.

Doch die Welt sollte nichts davon erfahren. Gerüchte und Spekulationen zu dem Unfall gab es in der westlichen Welt bereits seit 1976, als der sowjetische Biochemiker und Dissident Schores Alexandrowitsch Medwedew, der 1973 aus der Sowjetunion ausgebürgert wurde, seine Recherchen in der Zeitschrift New Scientist und drei Jahre später in seinem Buch "Nuclear Disaster in the Urals" veröffentlicht hatte. Er glaubte fest daran, dass zwischen Herbst 1957 und Sommer 1958 ein riesiger Unfall am Rande des Urals stattfand.

Leider machte er einen entscheidenden Fehler: Er schrieb von einer nuklearen Explosion. Physikalisch war eine Kettenreaktion allerdings auszuschließen und damit erschien er – zur Zufriedenheit der Atomlobby – unglaubwürdig. Erst im Juni 1989 gab der damalige stellvertretende Minister den Unfall offiziell bekannt. Die Weltöffentlichkeit erfuhr einige Monate später anlässlich einer Tagung der Internationalen Atomenergieorganisation von den Hintergründen und dem Ausmaß der Katastrophe.

Kalte Träume

Nach der schockierenden Machtdemonstration der USA, die 1945 in Form zweier Atombomben in Japan niederging, und inmitten des Kalten Krieges wollte Stalin so schnell nur irgend möglich mit den Amerikanern gleichziehen. So ordnete er im südlichen Ural den Bau von Produktionsstätten für waffenfähiges Plutonium an – unter ihnen auch die weltweit größte Atomanlage: Majak (russ.: Leuchtturm). Ende der 1940er Jahre nahm das Werk den Betrieb auf und erfüllte bereits 1949 Stalins Traum – die Sowjetunion zündete ihre erste Atombombe.

Am Tatort | Rund neunzig Prozent der Radioaktivität schlugen sich nach der Explosion auf dem Betriebsgelände von Majak nieder, zehn Prozent wurden als Radioaktivitätsfahne mit dem Wind in Nord-Ost Richtung zwischen Jekaterinenburg und Cheljabinsk verteilt.

Auf einem Gelände, das auf keiner Landkarte verzeichnet war, extrahierten Arbeiter das radioaktive Schwermetall aus Brennstäben. Bei dem Verfahren blieb eine hochradioaktive Flüssigkeit zurück, die hauptsächlich Caesium-137 und Strontium-90 enthielt. Abgefüllt in zylindrischen Behältern aus Stahl mit einem Volumen von jeweils zirka 250 Kubikmetern lagerte sie in einer Fassung aus Eisenbeton unter der Erde.

Da beim Zerfall der Nuklide enorme Mengen an Wärme entstand, mussten die Behälter ständig gekühlt werden. Doch dieser Notwendigkeit wurde mindestens einmal nicht nachgekommen: Die Flüssigkeit verdampfte darauf, und die enthaltenen hochexplosiven Nitratsalze sammelten sich an. Die Folge war eine gigantische chemische Explosion – vor nun genau fünfzig Jahren. Kühlsystem, Lüftung, Kontrollgeräte und elektrische Versorgung fielen aus und so waren, wenn auch nicht direkt, die anderen Behälter für längere Zeit gefährdet. Zumindest dies konnte verhindert werden.

Verseuchte Gebiete

Trotz des Unfalls lief die Produktion in Majak weiter. Das Personal des Betriebes dekontaminierte in den ersten Tagen Häuser, Straßen, Autos und vieles mehr in der Stadt und trug große Flächen ab. Außerhalb von Osjorsk wurden 1100 Bewohner, deren Wohnort bis zu 25 Kilometer von der Unfallstelle entfernt war, innerhalb von zwei Wochen, beginnend am zweiten Tag nach der Explosion, evakuiert.

Die betroffenen Orte ließ die Regierung nach deren Räumung sofort zerstören. Innerhalb der nächsten zwei Jahre siedelte sie 24 weitere Orte mit rund 13 000 Bewohnern um. Insgesamt galten rund tausend Quadratkilometer offiziell als belastete Gebiete, der langfristige Aufenthalt sowie jeglicher Verzehr von Nahrungsmitteln aus dieser Gegend waren untersagt.

Eigens dafür gegründet, sollten medizinische und radioökologische Einrichtungen die Belastung der Lebensmittel und den Gesundheitszustand der Bevölkerung überprüfen und erforschen, wie sich radioaktive Substanzen in Pflanzen und Tieren ausbreiten. Ihre Ergebnisse blieben aber entweder geheim oder zumindest verschlüsselt. Obwohl es viele Gerüchte zu den Folgen des Unfalls auf die Bevölkerung gibt, weist die damalige und heutige Betreiberin die Produktionsanlage Majak wieder und wieder darauf hin, dass es keine direkten Personenschäden gab.

Geschlossene Stadt

Die Vorwürfe der Kritiker begrenzen sich allerdings nicht auf die Explosion von 1957. Schon in den Jahren zwischen 1949 und 1956 hat der Betrieb radioaktive Abwässer und Abfälle bedenkenlos und unkontrolliert in den Fluss Tetscha geleitet. Wasser, Ufer und Sedimente sind dadurch verseucht und mit ihm auch die Menschen und Tiere, die auf die kontaminierte Nahrung und Wasser aus ihm angewiesen sind. Erst als zahlreiche Menschen erkrankten, evakuierte die Regierung teilweise Gebiete und sprach Verbote in Umgang mit Fluss und angrenzenden Gebieten aus – ohne dabei die wahre Ursache zu nennen.

Heute umfasst die Sperrzone noch rund 150 Quadratkilometer – 15 Prozent der ursprünglichen Fläche. Bei Majak sind derzeit etwa 14 000 Menschen aus der Kleinstadt Osjorsk beschäftigt – sie gehört, wie einige andere Städte in Russland, zu den so genannten geschlossen Städten: Die Bevölkerung kann zwar ungehindert ein- und ausreisen, Besucher dürfen jedoch nur mit besonderen Genehmigungen hinein. Die Arbeiter bereiten Brennstäbe verschiedener russischer Reaktortypen auf und verglasen sie. Zwei der sechs Reaktoren werden zur Produktion von Radioisotopen für Forschung und Industrie genutzt.

Inzwischen kooperieren der Betreiber Majak und das strahlenmedizinische Zentrum von Osjorsk auf den Gebieten Anlagensicherheit, Dekontamination und Strahlenrisikoforschung mit westlichen Forschungseinrichtungen, wie dem deutschen Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit. Im Rahmen internationaler Projekte wollen sie das Strahlenrisiko der Mitarbeiter von Majak und der Bevölkerung von Osjorsk abschätzen.

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