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Eisbohrkerne: Geschichte(n) aus dem Eis

Bohrkerne aus Gletschern sind ein wichtiges Archiv der Erd- und Menschheitsgeschichte – doch das Eis schmilzt. Jetzt sollen Proben für künftige Generationen archiviert werden.
Ein Forscher hält einen Eisbohrkern in die Kamera
Wirtschaftskrisen, Umweltkatastrophen und Kriege: In Gletschereis sind viele Informationen über die Menschheitsgeschichte archiviert. Die Initiative »Ice Memory« will Eisbohrkerne für künftige Generation konservieren.

Mindestens die Hälfte der heute noch existierenden Gletscher könnte bis zum Ende des Jahrhunderts verschwunden sein. Und mit ihnen schmelzen einzigartige Archive für die Wissenschaft, denn in den Eisschichten stecken viele Geschichten, von denen Forscherinnen und Forscher erst manche entschlüsselt haben. Die dort gewonnenen Erkenntnisse reichen von der Entwicklung des Klimas bis hin zum antiken Bergbau. Viele weitere könnten folgen. Doch dazu brauchen Fachleute nicht nur neue Analyseverfahren – vor allem müssen sie das jahrtausendealte Eis, zumindest teilweise, für kommende Generationen erhalten.

So wie die Eisbohrkerne, die ein internationales Team im April 2023 auf dem Holtedahlfonna-Gletscher auf Spitzbergen gewonnen hat. Die Arktis ist dem Klimawandel besonders unterworfen, die Erwärmung verläuft dort fast viermal schneller als im globalen Durchschnitt. Wie zur Bestätigung hatte das Team mit ungewohnt hohen Temperaturen um den Gefrierpunkt und viel Schmelzwasser zu kämpfen. Drei Kerne, zusammengenommen rund 70 Meter lang, wurden in Isolierkisten verpackt und in Kühlhäuser nahe den Forschungslaboren in Frankreich und Italien gebracht. Zwei davon werden für aktuelle Analysen verwendet. Der dritte bleibt unangetastet und soll künftigen Forschenden dienen, wenn sie im Eis des Holtedahlfonna spannende Informationen vermuten, vom Gletscher aber kaum mehr etwas übrig ist.

Um ihn dauerhaft zu sichern, soll der Eisbohrkern in die Antarktis gebracht werden. Dort will die Initiative »Ice Memory« neben der dortigen Forschungsstation Concordia, die Frankreich und Italien gemeinsam betreiben, eine natürliche Kühltruhe einrichten. Mit Schneefräsen sollen dazu zehn Meter tiefe Gräben ausgehoben werden. Auf riesigen luftgefüllten Ballons wird anschließend Schnee für ein Dach verteilt. Der Schnee verfestigt sich zunehmend, bis die Ballons entfernt werden können. Zurück bleibt ein Hohlraum im minus 50 Grad kalten Eis der Zentralantarktis. Ein sicheres Lager, denn politische Unruhen, Anschläge und Naturkatastrophen sind dort kaum zu erwarten, Stromausfälle unbedenklich. In der kommenden Saison 2024/25 sollen die Arbeiten beginnen.

»Die wissenschaftlichen Methoden werden ständig besser. Ich bin sicher, dass es in einem halben Jahrhundert etliche Verfahren gibt, die wir uns heute kaum vorstellen können«Margit Schwikowski, Umweltchemikerin

Und es gibt weitere ähnliche Projekte: Acht Eisbohrkerne – unter anderem aus den Alpen, dem Kaukasus und vom Kilimandscharo – lagern bereits in Kühlhäusern und sollen mit Kühlcontainern via Australien in die Antarktis gebracht werden. Es sind diverse solcher Rettungsbohrungen vorgesehen, sofern die Finanzierung gelingt. Das sei auch deshalb wichtig, weil dem Eis später eventuell noch mehr Erkenntnisse entlockt werden können, so das Ice-Memory-Team: »Die wissenschaftlichen Methoden werden ständig besser«, sagt Umweltchemikerin Margit Schwikowski vom Paul-Scherrer-Institut (PSI) im schweizerischen Villigen. Immer präziser ließen sich chemische Verbindungen messen, selbst kleinste Mengen. »Ich bin sicher, dass es in einem halben Jahrhundert noch etliche Verfahren mehr gibt, die wir uns heute kaum vorstellen können.«

Bereits jetzt liefern Eisanalysen detaillierte Antworten auf Forschungsfragen, etwa der, wie sich Gletscher im Himalaja verändern. Schließlich hängen zwei Milliarden Menschen davon ab, wie viel Niederschlag in dem Hochgebirge fällt, wie viel davon direkt abfließt und wie viel als Schnee und Eis vorübergehend gespeichert wird. Ein Team um Schwikowski hat anhand von Eisbohrkernen gezeigt, dass der Rußeintrag auf die Gletscher während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen hat. »Seit 1975 hat Ruß etwa dreimal stärker zur Gletscherschmelze beigetragen als in der vorindustriellen Zeit«, sagt die Forscherin. Bis zum Jahr 1990 registrierte sie in den Proben von der Westflanke des Mount Everest einen steigenden Rußgehalt, danach verharrte er auf hohem Niveau. »Wir erklären das mit den steigenden Emissionen aus Südasien, die zum Teil durch den sinkenden Schadstoffausstoß in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion kompensiert werden.«

Ruß im Eis verstärkt Gletscherschmelze

Auch einzelne »rußträchtige« Ereignisse sind im Eis gespeichert, wie eine Studie chinesischer Wissenschaftler zeigt. Sie haben Eiskerne aus dem nördlichen Tibet-Plateau untersucht und stellten für die Jahre 1991 und 1992 einen drei- bis vierfach höheren Rußeintrag als gewöhnlich fest. Ihr Verdacht wurde durch eine Transportmodellrechnung bestätigt: Ursache waren die brennenden Ölquellen in Kuweit, die während des Golfkriegs vor 32 Jahren in Brand gesetzt worden waren. Durch den Ruß im Eis sei die Wärmewirkung der Strahlung zwei- bis fünffach höher gewesen als üblich. Daher dürfte in den beiden Jahren besonders viel Schnee und Eis geschmolzen sein.

Schwikowskis Untersuchungen haben gezeigt, dass der Rußgehalt im Schnee im Himalaja übers Jahr stark schwankt. Besonders hoch ist er im Winter und Frühjahr, dann wird er aus Südasien und dem Nahen Osten in das Hochgebirge getragen. Im Sommer ist die Menge gering, weil dann die Partikel vom Monsun rasch aus der Luft herausgewaschen werden. Im Winter jedoch ist der Ruß so bedeutsam, dass er etwa gleich stark zur Gletscherschmelze beiträgt wie die Klimaerwärmung, lautet das Fazit der Forscherin: Je mehr diese Emissionen gesenkt werden, umso deutlicher könne die Gletscherschmelze gebremst werden.

Anhand von Bleiablagerungen im Eis können Forschende außerdem die wirtschaftliche Entwicklung nachvollziehen. Es wird bei der Verarbeitung bestimmter Metalle wie Silber sowie bei der Verbrennung freigesetzt, vom Wind weit übers Land verfrachtet und erreicht so auch die Eisflächen. Ein Team um Joseph McConnell vom Desert Research Institute in Reno (Arizona) hat 13 Kerne aus grönländischen und russischen Gletschern analysiert, die die vergangenen 1500 Jahre repräsentieren. Deutlich erhöhte Bleigehalte interpretieren sie als Phasen des Wirtschaftswachstums, in dem beispielsweise Bergbaugebiete wie im Harz und im Erzgebirge erschlossen wurden. Geringe Gehalte verweisen demnach auf Krisenzeiten, die durch Pestausbrüche, Kriege und Klimaänderungen ausgelöst wurden, schreiben sie im Fachmagazin »PNAS«.

Wirtschaftliche und landschaftliche Entwicklung ist im Eis konserviert

Solche Analysen könnten künftig dank verfeinerten Messmethoden noch detaillierter werden. Manche chemischen Verbindungen können mittlerweile in Konzentrationen von Billionsteln (ppt, parts per trillion), teils Billiardstels (ppq, parts per quadrillion) nachgewiesen werden. Dadurch lässt sich die Probenmenge verringern. Bezogen auf Eisbohrkerne heißt das: Die zeitliche Auflösung wird erhöht, weil nicht mehr Eis aus einigen Jahrhunderten zusammengenommen analysiert wird, sondern lediglich aus einigen Jahrzehnten.

Möglicherweise können eines Tages auch Inhaltsstoffe untersucht werden, deren Gehalt bisher in den Eisproben zu gering war, als dass sie solide Aussagen versprechen. Darauf weist Frank Wilhelms vom Alfred-Wegener-Institut – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven hin. »Denkbar wären beispielsweise die Radioisotope 10-Beryllium oder 81-Krypton«, sagt der Leiter der Abteilung Eisbohrkerne. Sie entstünden in der Atmosphäre, aus ihrer Konzentration ließe sich das Alter der Ablagerung bestimmen. »Noch braucht es dafür große Mengen Eis, doch das ändert sich vielleicht, und mit verbesserter Methodik könnten auch diese Isotope zur Datierung genutzt werden.«

Vielleicht werden noch andere Stoffe spannend, die Forschende bisher nicht genauer erhoben und untersucht haben, wie beispielsweise Tetrafluormethan (CF4). Heute wird es als Kältemittel hergestellt, in vorindustrieller Zeit ist vermutlich nur bei der Verwitterung von Granit entstanden. »Damit wäre es ein guter Proxy, also ein Stellvertreterparameter, um die Landschaftsentwicklung in der Vergangenheit nachvollziehen zu können«, sagt Wilhelms. Am AWI gab es bereits erste Arbeiten dazu, doch CF4 werde bisher nicht routinemäßig mitgemessen, sagt er.

Sollte dieser Proxy etabliert werden, ist es umso wichtiger, dass noch Probenmaterial übrig ist, um darin CF4 oder weitere neue Proxys zu messen. Genau dafür sollen die Eisbohrkerne von Ice Memory aufbewahrt werden. Sie liefern Material für kommende Forschungsfragen und haben einen Vorteil: Sie wurden und werden parallel mit aktuell bearbeiteten Kernen gezogen: Das erleichtert es, Verbindungen zu ziehen zwischen alten und neuen Forschungsdaten.

»Eisbohrkerne sind ein sehr gutes Archiv, um zu überprüfen, wie viel von einem Schadstoff in der Vergangenheit ausgebracht wurde und wie er sich verbreitet hat«Margit Schwikowski, Umweltchemikerin

Spannend könnten ebenso »emerging pollutants« sein, sagt die PSI-Forscherin Schwikowski: Schadstoffe, die sich erst später als solche erweisen. Ein prominentes Beispiel ist DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan), das als Insektizid vielfach eingesetzt wurde, später als wahrscheinlich Krebs erregend eingestuft worden und nun in vielen Ländern verboten ist. »Eisbohrkerne sind ein sehr gutes Archiv, um zu überprüfen, wie viel von einem Schadstoff in der Vergangenheit ausgebracht wurde und wie er sich verbreitet hat.«

Besonders großes Potenzial sieht sie künftig außerdem in der Analyse so genannter Umwelt-DNA. Bruchstücke von Erbmaterial haften an Partikeln und werden mit dem Wind bis auf Gletscher verfrachtet. So ließe sich die Veränderung der Landschaften und Ökosysteme über die Zeit rekonstruieren, sagt die Forscherin. »Während Pollenanalysen nur bestimmte Pflanzen berücksichtigen, kann DNA von verschiedensten Lebewesen stammen, auch von Tieren.« Sie ist robust, kann etwa an Bodenpartikeln überdauern und dann fortgeweht werden. Um die DNA-Bruchstücke zuordnen zu können, braucht es Fragmente mit mindestens 30 Basenpaaren, um sie in Datenbanken abgleichen zu können, sagt Schwikowski. »Sonst wird es zu zufällig.« Auf dem Gebiet der Paläogenetik werden gerade große Fortschritte erzielt. Bis zu zwei Millionen Jahre haben Forscher um Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen bereits in die Vergangenheit geblickt: Unter anderem fanden sie heraus, dass in Grönland einst Rentiere und Mastodonten lebten und Birken wuchsen. In den kommenden Jahrzehnten dürften mit verfeinerten Methoden noch weitaus bessere Ökosystemporträts gelingen.

Neben der angewehten DNA ist auch die von lokalen Mikroorganismen interessant, die im Eis leben. Catherine Larose vom Forschungszentrum CNRS in Lyon erforscht, wie Schwermetalle auf die Mikroben wirken. Diese passen sich genetisch an die unterschiedlichen Bedingungen an: »Wir sehen, dass sie je nach Belastung bestimmte Gene ein- oder ausschalten.« Mittels Eisbohrkernen ließe sich ermitteln, wie hoch beispielsweise die Quecksilberbelastung zu ausgewählten Zeiten war. »Heute stammt es vorrangig aus der Medizin und Industrie, früher wurde es maßgeblich von Vulkanen emittiert«, sagt sie. Die DNA-Analysen könnten so weitere Hinweise auf Umweltveränderungen liefern. Dafür muss das Eis allerdings geschmolzen werden. »Man kann die Probe nur einmal messen«, sagt Larose. »Deshalb ist es unbedingt sinnvoll, weiteres Material für künftige Analysen aufzubewahren.«

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