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Frauen in der Altsteinzeit: Die Mär vom Matriarchat

Lebten die Menschen einst im Matriarchat? Im Kult der »Großen Göttin«? Eine nüchterne Analyse zeigt, warum der Gedanke so nahe liegt und doch so fern der Wirklichkeit sein dürfte.
Skulptur zweier Frauen der Altsteinzeit
Welche Rolle nahmen Frauen in der altsteinzeitlichen Gesellschaft ein? Welches Wissen tauschten sie unter einander aus? Ihre Vorstellung von Frauen der Altsteinzeit hat die französische Künstlerin Elisabeth Daynes hier modelliert. Genetische Untersuchungen haben inzwischen ergeben, dass Angehörige der europäischen Jäger-und-Sammler-Gruppen sehr wahrscheinlich deutlich dunkelhäutiger waren.

Unterdrückt und misshandelt – oder respektiert und sogar verehrt wie Königinnen oder Göttinnen? Welche gesellschaftliche Stellung Frauen in der Jüngeren Altsteinzeit hatten, darüber kursieren schon seit Langem ganz und gar gegensätzliche Hypothesen. Mal werden Macht und Prestige den Männern zugesprochen, mal heißt es, Frauen hätten beachtlichen sozialen, familiären oder spirituellen Einfluss gehabt. Seit inzwischen 150 Jahren fällt dabei ein Begriff, der auch von Anthropologen und Prähistorikern bemüht wurde und wird: der des Matriarchats. In Europas Jüngerer Altsteinzeit, die vor etwa 43 000 Jahren begann und vor 12 000 Jahren endete, hätten Frauen eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung eingenommen, gestützt auf einen Kult der »Großen Göttin«. In der Öffentlichkeit hat diese Vorstellung einer Frauenherrschaft seit jeher viel Anklang gefunden.

Doch es lohnt sich, einmal genauer hinzusehen: Welche Fakten sprechen überhaupt dafür, dass Frauen in den Jäger-Sammler-Klans des Homo sapiens einen besonderen Stellenwert besaßen oder sogar eine dominante Position? Welche Quellen weiblicher Macht gab es in der Altsteinzeit? Und welche archäologischen Indizien stützen die Idee einer Sonderstellung?

Was sofort ins Auge fällt, ist die Vielzahl an Frauendarstellungen in den Fundstätten der Jüngeren Altsteinzeit, von der Atlantikküste bis nach Sibirien: Gemalt, gezeichnet und graviert zieren sie die Wände von Höhlen oder Felsüberhängen. Hinzu kommt die »tragbare Kunst« in Form von Kleinplastiken aus Elfenbein, Knochen oder Kalkstein. In den ältesten Kulturen dieser Epoche, dem Aurignacien (in Westeuropa vor 43 000 bis 31 000 Jahren) und dem Gravettien (vor 31 000 bis 24 000 Jahren) weisen diese Frauenfigürchen erstaunlich üppige Formen auf. Der Kopf fehlt meistens oder ist von einer Art Netzhaube bedeckt, weder Augen noch Nase oder Lippen sind dargestellt. Umso auffälliger sind sexuelle Merkmale wie Brüste, Bauch, Gesäß und die angedeutete Vulva an den nackten Körpern. Vom französischen Fundort Lespugue über die »Venus vom Hohle Fels« auf der Schwäbischen Alb und die »Venus von Willendorf« in Österreich bis zum russischen Kostjonki folgen alle diese Frauenfigürchen einem einheitlichen Stil, derselben Ästhetik. Es ging ihren Schöpferinnen oder Schöpfern offenbar weniger um anatomische Korrektheit, sondern um ein Spiel mit Formen und Proportionen.

Im daran anschließenden Magdalénien (vor 18 000 bis 12 000 Jahren) bleiben die Darstellungen weiterhin kopflos, doch sie werden schlanker, ihr Hohlkreuz mündet in betonte Hinterbacken. Beispiele sind die »Schamlose Venus« aus Laugerie-Basse und die in einen Kalksteinblock geritzten Profile vom Felsen von Lalinde, beides französische Fundorte. Oder, in Deutschland, die eleganten Prozessionen der »Tänzerinnen« aus dem rheinland-pfälzischen Gönnersdorf, die in Schieferplatten gekratzt wurden. Weitere eindrucksvolle Ritzzeichnungen des Magdaléniens sind die »Frau unter dem Ren« aus Laugerie-Basse und die liegenden »Lasziven« aus La Magdelaine, deren Formen an das Flachrelief der »Drei Grazien« aus Angles-sur-l'Anglin erinnern.

Schon früh kam die These von der matriarchalen »Urgesellschaft« auf

Diese Darstellungen weiblicher Körper ziehen sich durch die gesamte Jüngere Altsteinzeit, was die Idee einer weit verbreiteten Frauendominanz genährt hat. Seit den 1970er Jahren haben vor allem feministische amerikanische Anthropologinnen diese Hypothese ausgebaut und vorgebracht. Aber sie ist in Wahrheit um einiges älter: Als Erster hat sie der Baseler Jurist Johann Jakob Bachofen veröffentlicht (»Das Mutterrecht«, 1861), und die Denkschule des »Kulturellen Evolutionismus« hat sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weiter verbreitet, vor allem im angelsächsischen Sprachraum.

Ab etwa 1920 fand die Hypothese in der Sowjetunion erneuten Zuspruch, um Funde in Kostjonki, Gagarino und Awdejewo an den Ufern des Don zu deuten. Dort traten Siedlungen vom Beginn der Jüngeren Altsteinzeit mit Behausungen aus Mammutknochen und -stoßzähnen zu Tage, deren Architektur und Raumaufteilung rekonstruiert werden konnte. Unter den Behausungen, manchmal auch im Schutt von Abfallgruben, entdeckten die Ausgräber mehrere teils zerbrochene »Venusfigurinen« aus Elfenbein oder Kalkstein. Die Statuetten zeigten die gleichen üppigen Formen wie diejenigen in Westeuropa aus derselben Epoche.

Venus von Willendorf | Die rund 30 000 Jahre alte Darstellung einer üppigen Frau offenbart das Spiel mit Formen und Proportionen, das der Künstler oder die Künstlerin betrieb. Belegen solche Figurinen die Existenz einer dominanten Stellung der Frau?

Nach Ansicht des sowjetischen Prähistorikers Petr Efimenko verkörperten diese Figürchen die herausragende Rolle der Frauen in sozialer, wirtschaftlicher und spiritueller Hinsicht inmitten einer – wie er glaubte – matriarchalen Gesellschaft: »Das in diesen Statuetten fixierte Bild der mütterlichen Frau zeigt deren Rolle in der Gemeinschaft des Jungpaläolithikums. Sie war in einer Person die Herrin von Haus, Hof und Feuerstelle. Darüber hinaus war sie auch die Ahnfrau, der man den Besitz magischer Kräfte zuschrieb, um eine der wichtigsten Aktivitäten zur Nahrungsbeschaffung – nämlich die Jagd – glücken zu lassen.«

Bei dieser Vorstellung hatte der Philosoph und Politaktivist Friedrich Engels Pate gestanden: Er hatte ein ökonomisches Fünf-Stadien-Modell der Menschheitsgeschichte entworfen und deren erstes Stadium »Urgesellschaft« genannt. Efimenko sah die Funde vom Don als Zeugen dieses ersten Stadiums und interpretierte es als Matriarchat. Die Venusfigurinen seien gegen Ende jener Epoche verschwunden, weil da auch das ökonomisch-kulturelle Stadium Nummer eins, die »Urgesellschaft«, zu Ende gewesen sei, war Efimenko überzeugt.

Diese Deutung wurde von russischen Forschern ab etwa 1950 nicht mehr vertreten. Aber ab den 1970er Jahren bekam die Idee eines prähistorischen Matriarchats neuen Zuspruch, diesmal aus Kalifornien: Dort vertrat die Anthropologin Marija Gimbutas bis zu ihrem Tod 1994 die These, die Venusfigürchen bezeugten ein Matriarchat und den Kult der »Großen Mutter«, einer kosmogonischen Gestalt und eines Fruchtbarkeitssymbols. Sie sei von der Jüngeren Altsteinzeit bis zur Bronzezeit in ganz Europa verehrt worden. Die Idee der Großen Göttin sei immer wieder die Grundlage religiöser Kulte gewesen – verknüpft mit matriarchaler Macht, die über die mütterliche Linie weitergegeben wurde.

Dieses Postulat passte hervorragend in die Ideologie radikaler Feministinnen und Feministen in Amerika und Frankreich. Doch sie blieb nicht unwidersprochen: Mehrere Wissenschaftler wiesen die Matriarchatsthese als Wunschvorstellung und bloßes Konstrukt zurück. So schrieb die amerikanische Anthropologin Joan Bamberger Mitte der 1970er Jahre: Da es heutzutage nirgendwo ein Matriarchat gebe und glaubhafte Originalquellen, die von frauendominierten Gesellschaften berichten, vollständig fehlten, sei das nicht mehr als eine unbewiesene Behauptung.

Es fehlt vor allem an: Beweisen

Bamberger weiter: »Das Fehlen jeglicher Beweise hat einige Forscher und populärwissenschaftliche Autoren nicht abgeschreckt, aus dem bloßen gedanklichen Entwurf eines Matriarchats direkt die Daseinsberechtigung für eine neue Sozialordnung abzuleiten, in der Frauen wichtige politische und ökonomische Rollen übernehmen.«

Dieser Schuss konnte aus feministischer Sicht durchaus nach hinten losgehen, wies Bamberger anhand ethnografischer Beispiele scharfsinnig nach: Wer unablässig die Idee eines einstigen urtümlichen Matriarchats heraufbeschwört, erreicht damit womöglich, dass die Forderung nach Gleichberechtigung zu einem buchstäblich gestrigen Thema wird – verbannt in die ferne Vergangenheit. Und mit der unausgesprochenen Folgerung, die heutige Unterdrückung von Frauen durch Männer sei nun mal zeitgemäß und daher in Ordnung.

Funde aus Gönnersdorf | Die Figurinen (in der Vitrine) und Ritzzeichnungen (im Hintergrund), hier bei einer Ausstellung in Mainz, zeigen eine neue Art der Frauendarstellung: Im Magdalénien sind sie zierlicher als in den vorangehenden Epochen, nur das Gesäß ist noch stark überzeichnet.

Eine neue Generation von Feministinnen und Feministen tendiert seit den 1990er Jahren dazu, anstatt über ein Matriarchat zu spekulieren, genauer hinzusehen. Ihnen geht es um eine fundierte Untersuchung der sozialen Stellung und der konkreten Rollen, die die Frauen in den prähistorischen Gesellschaften Westeuropas ausfüllten. Dazu müssen zunächst die Archäologen in Aktion treten und minuziös nach Indizien für Arbeitsteilung und Rollenverteilung der Geschlechter in der Jüngeren Altsteinzeit fahnden.

Ein wichtiger Einflussfaktor, der den Frauen zu allen Zeiten zufiel, ist die Reproduktion mit allem, was dazugehört. Auf das Kinderkriegen und -aufziehen kann keine menschliche Gruppierung verzichten, genauso wenig wie auf das entsprechende Wissen und Können der Frauen. Viele der so genannten Venusfigürchen scheinen Schwangere darzustellen – ein mögliches Indiz für diesen Hintergrund.

Es ist klar, dass die Frauen in prähistorischer Zeit nichts über die biologischen Mechanismen von Befruchtung und Schwangerschaft gewusst haben können. Aber die empirische Beobachtung der Rhythmen und Veränderungen des eigenen Körpers sowie der Vermehrung der Tiere müssen den Frauen ein Grundwissen über Befruchtung, Schwangerschaft und Niederkunft verschafft haben. Sie verfügten wahrscheinlich über ein breites praktisches Wissen: wie man den Beginn einer Schwangerschaft erkennt, wie lange das Austragen eines Babys dauert, wie man den Geburtsvorgang günstig gestaltet, was unmittelbar danach für das Überleben des Neugeborenen wichtig ist, wie man es wickelt und am besten trägt.

Bei allen Fragen rund um Sexualität und Schwangerschaft konnten sie auf die Erfahrungen und das überlieferte Knowhow derer im Klan zurückgreifen, die schon vor ihnen Mütter geworden waren. Das praktische Wissen darüber, wann zum Beispiel die beste Zeit war, um schwanger zu werden, ging Hand in Hand mit Wissen über den Gebrauch von Pflanzen und entsprechenden Zubereitungen wie etwa Salben. Solche Hilfsmittel konnten eine Zeugung begünstigen – oder aber sie verhindern. Für eine Jäger-Sammler-Gruppe im Gravettien, Solutréen oder Magdalénien, in deren Nachbarschaft sich die Eispanzer bedrohlich auftürmten, war es überlebenswichtig, dass Kinder nicht zur Unzeit zur Welt kamen – dann nämlich, wenn es praktisch nichts zu essen gab und die Mütter folglich nicht stillen konnten.

Stützte sich weibliche Macht auf Wissen um die Fortpflanzung?

Wissen und Fertigkeiten in Sachen Fortpflanzungsmanagement konnten eine symbolische und spirituelle Vormachtstellung zur Folge gehabt haben. Mit dem Kinderkriegen sind Glaubensvorstellungen und Werte verknüpft, die von der gesamten Gruppe geteilt werden. Untersuchungen bei Jäger-Sammler-Populationen bestätigen, dass eine Fülle von Symbolen und Ritualen die Schwangerschaft und die Geburt begleitet und dass Fruchtbarkeit und Vererbung in eine eigene Gedankenwelt eingebettet sind.

Die ersten Regelblutungen sind ein markantes Ereignis im Leben eines Mädchens: Es verschafft ihm den Zugang zum Universum des Geschlechtlichen und zu der gehobenen sozialen Stellung, nun selbst Leben schenken zu können. Der Zeitpunkt der Geschlechtsreife wird in den meisten menschlichen Gruppierungen als Enthüllung eines Mysteriums erlebt. Initiationsriten begleiten den Übergang in die Erwachsenenwelt und zur Heiratsfähigkeit. Im Verlauf dieser Riten offenbaren erfahrene Frauen den Heranwachsenden ihr empirisches Wissen über sexuelle Praktiken, Tabus und Vorschriften, über das richtige Timing von Schwangerschaft und Geburt.

Es ist gut vorstellbar, dass sich die Frauen der Altsteinzeit auch auf spirituelle oder magische Kräfte beriefen, wenn es um Fortpflanzung, Mutterschaft und Kinderpflege ging. Archäologische Befunde, nämlich Amulette in großer Zahl, unterstützen diese Hypothese zumindest für die Frauen des Gravettien, Solutréen und Magdalénien. Die Amulette sehen aus wie kopflose Venusfigürchen, die am oberen Ende durchbohrt sind und vermutlich um den Hals getragen wurden. Wahrscheinlich begleiteten Gesänge, Rezitationen, Gesten, rituelle oder magische Praktiken ihren Einsatz – besonders in gefahrvollen Situationen, die eine Frau durchlebte, in erster Linie während Geburten.

Göbekli Tepe | Die Tempel in der heutigen Türkei gelten als die ältesten der Welt. Gebaut wurden sie von Menschen, die als Jäger und Sammler lebten. Neben den Pfeilerkreisen hatten sie auch Häuser errichtet und darin gewohnt.

Eine weitere symbolische Dimension ergab sich wohl aus dem annähernden Gleichklang der Zyklen von Mond und weiblicher Fruchtbarkeit, was den Frauen ein besonderes Bewusstsein für sich wiederholende Zeitabläufe verschaffte – seien es die im eigenen Leben oder die des gesamten Kosmos. In den prähistorischen Gemeinschaften mag das zu verschiedenen Formen der Zeitmessung beigetragen haben, und vermutlich verlieh es nicht nur den Frauen als Individuen, sondern dem Prinzip des Weiblichen insgesamt eine symbolische Kraft.

Wie ethnografische Studien zeigen, hat diese Aura sich in einigen Kulturen bis in die Gegenwart erhalten. Im Glauben an ein Wirken höherer Mächte bei Befruchtung und Geburt wiederum findet sich eine Antwort auf die Frage, ob Mann und Frau (oder auch nur einer der beiden) eine Rolle bei der Fortpflanzung spielen und wenn ja, welche und was das im weiteren Sinne für ihren Platz in der Gesellschaft bedeutet.

Jede Gemeinschaft organisiert ihre Fortpflanzung gemäß der Art ihres Lebensunterhalts, ihrer Bedürfnisse und ihrer Ressourcen. Ethnografische Untersuchungen ergaben, dass Empfängnisverhütung ein zentrales Thema bei Jäger-Sammler-Ethnien darstellt. Bei einer nomadischen Lebensweise haben Frauen ständig schwere Lasten zu schleppen und können sich nicht gleichzeitig noch mehrere Kleinkinder aufbürden. Sie wissen indes, dass während des Stillens die Regelblutung ausbleibt – damit verfügen sie über eine natürliche Art Empfängnisverhütung.

Sammeln liefert den Löwenanteil der täglichen Kalorien – auch in der Nahrungsbeschaffung liegt also eine Quelle weiblicher Macht

Darüber hinaus liegt es oft bei den Müttern, nach einer Geburt die Entscheidung zu treffen, ob das Kind am Leben bleiben soll oder nicht. Kindstötung kann durchaus eine Option sein, bei schwächlichen Kindern, bei allzu rasch aufeinander folgenden Geburten oder wenn Zwillinge kommen – die Wöchnerin würde sonst eine fatale Überbelastung riskieren. In bestimmten Fällen kann aus der gleichen Überlegung heraus auch das Geschlecht des Neugeborenen zu seiner Tötung führen, nämlich wenn es ein Mädchen ist.

Es gibt allerdings auch traditionell lebende Gemeinschaften, in denen die Fortpflanzung generell unter männlicher Kontrolle steht. Dort reguliert ein System aus Geboten, Verboten und Tabus die sexuellen Beziehungen und deren Häufigkeit. Bei Verstößen oder bei Untreue werden vor allem die Frauen bestraft und misshandelt, gelegentlich sogar getötet. Dieses Korsett aus Zwängen, in das die Frauen gepresst werden, sorgt für eine Hierarchisierung der sozialen Rollen zu Gunsten der Männer. Das könnte auch in der Prähistorie so gewesen sein. Wir wissen es nicht.

»Schamanin« | Die Rekonstruktion zeigt, wie die Frau aus einer 9000 Jahre alten Bestattung aus Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt ausgesehen haben könnte. Fachleute gehen davon aus, dass sie als Schamanin tätig war und eine herausgehobene Stellung in ihrer Gruppe innehatte.

Eine weitere Chance auf Einfluss in der Gemeinschaft bot sich den Frauen der Altsteinzeit durch ihren Anteil an der Nahrungsbeschaffung. In Jäger-Sammler-Gemeinschaften spielt das Sammeln, wie schon der Name sagt, eine maßgebliche Rolle. Ethnografische Studien haben nachgewiesen, dass die Frauen in solchen Ethnien meist den Löwenanteil zum Lebensunterhalt beitragen. Sie legen Tag für Tag viele Kilometer zurück, während sie essbare Kräuter, Früchte und Samen sammeln, auch Vogeleier, Kleingetier, Muscheln. Sie gehen auch mit Männern auf die Jagd.

Nur bei arktischen Völkern haben die Ethnografen Jäger-Sammler-Populationen gefunden, die mehr als die Hälfte ihres Kalorienbedarfs über die Jagd decken. Von den gemäßigten bis zu den tropischen Zonen erbringt die Arbeit der Sammlerinnen typischerweise rund 70 Prozent der Nahrung ihrer Gruppe. Sehr wahrscheinlich haben auch in den Klans der Altsteinzeit die weiblichen Mitglieder für mehr als die Hälfte des Lebensunterhalts gesorgt. Darin steckt ebenfalls erhebliches Potenzial für eine Vormachtstellung – für eine »Nahrungsmacht«, wenn man so will.

Spuren einer Arbeitsteilung

Leider lässt sich die Frage, ob auch in der Jüngeren Altsteinzeit die Arbeitsteilung nach Geschlechtern organisiert wurde, archäologisch nur sehr schwer fassen. Unzweideutige Hinweise darauf sind selten. Ein Fund an einem Küstenabschnitt der englischen Grafschaft Lancashire, nahe der Landspitze von Formby, ist ein Beispiel dafür: Bei extremem Niedrigwasser traten dort im Jahr 2006 mehr als 200 fossile menschliche Fußspuren zu Tage, die rund 5000 Jahre alt sind. Forscher konnten die Spuren von Männern, Frauen und Kindern voneinander unterscheiden. Die männlichen Spuren sind tiefer in den damaligen Schlamm eingegraben und zeigen, dass die Männer gerannt sind – sie haben vermutlich Hirsche und Damwild verfolgt, die in derselben Felsplatte ihre inzwischen versteinerten Trittsiegel hinterlassen haben. Die Fußspuren der Frauen und Kinder sind weniger tief und belegen eine langsame Gangart: Diese Gruppenmitglieder haben wohl unterdessen den Strand nach Muscheln und essbaren salzresistenten Pflanzen abgesucht. So konnten alle zum Überleben der Gruppe ihren Beitrag leisten.

Müssten die Frauen der Altsteinzeit durch ihre immens wichtige Sammelarbeit logischerweise Respekt und sozialen Status genossen haben? Keineswegs. Ethnografen haben in Jäger-Sammler-Ethnien der Gegenwart Beispiele für das genaue Gegenteil gefunden: Dass weibliche Gruppenmitglieder hauptsächlich für das – wenig prestigeträchtige – Nahrungssammeln zuständig waren, sorgte dort für eine Abwertung ihres sozialen Status.

Unter Umständen hat ein Nebeneffekt der Nahrungsbeschaffung den Frauen der Altsteinzeit zu hohem Ansehen verholfen. Denn da sie täglich mit dem Pflücken und Sammeln von Pflanzen beschäftigt waren, haben sie automatisch ein breites botanisches Wissen erworben. Es dürfte ihnen das Weben, Korb- und Schnurflechten ermöglicht haben, aber auch die gezielte Beschaffung von Würz- und Heilpflanzen. Darüber hinaus müssen sie exzellente Kennerinnen der jahreszeitlichen Veränderungen in der Pflanzenwelt gewesen sein: vom Keimen über das Wachsen und Blühen bis zur Bildung von Samen. Sie haben erlebt, wie aus zu Boden gefallenen Samen im Jahr danach neue Pflanzen wuchsen und auf welchen Böden dies begünstigt oder behindert wurde.

Eine französisch-türkische Arbeitsgruppe hat 2021 Bohrkerne aus einem See im Südwesten Anatoliens entnommen. Die Leitung hatte Valérie Andrieu-Ponel von der Université d'Aix-Marseille. Die Bohrkerne umfassten lückenlos den Zeitraum von vor 2,3 Millionen Jahren bis heute. Die Forscher fanden in der gesamten Schichtenfolge der Seesedimente sehr große Pollenkörner von wildem Roggen und Weizen – bislang dachte man, in dieser Größe gäbe es sie erst bei Zuchtformen dieser Getreide. Doch Samen von Wildgetreide mit hohem Stärkegehalt sind offenbar bereits mehr als zwei Millionen Jahre vor der Erfindung der Landwirtschaft auf natürliche Weise entstanden.

Wie hätten die Sammlerinnen der Prähistorie diese extrem interessante Nahrungsquelle übersehen sollen? Und von der Beobachtung des Auskeimens solcher Samenkörner bis zum gezielten Sammeln und Aussäen an einem geeigneten Ort ist es nur ein kleiner Schritt.

Eine 19 000 Jahre alte – somit altsteinzeitliche – Fundstätte namens Ohalo II am Ufer des Sees Genezareth, unweit der israelischen Großstadt Haifa, liefert faszinierende Einsichten. Der stark gefallene Wasserspiegel hat dort die unter einer Sandschicht konservierten Überreste eines Dorfs frei gegeben. Die Ausgräber holten in einer der Hütten den zweifellos weltweit am besten erhaltenen Wohnplatz einer altsteinzeitlichen Familie ans Licht. Sie entdeckten unter anderem einen Reibstein für das Mahlen von Getreide sowie rund 90 000 mitunter versteinerte Samen von mehr als 100 verschiedenen Pflanzenarten, die offensichtlich gezielt gesammelt und in die Hütte gebracht worden waren: beispielsweise Wildgetreidekörner von Trespe (einem Süßgras), Hirse und Gerste sowie die Samen von Hülsenfrüchten wie Linse und Kichererbse. Sogar Reste von Feigen und Himbeeren waren nachweisbar.

Die nähere Untersuchung der Körner ergab Anzeichen, dass sie nicht nur sorgfältig ausgewählt worden waren, sondern sogar teils eigens angebaut wurden, um an Getreidemehl zu kommen. Und das viele Jahrtausende vor dem Beginn der Jungsteinzeit, in der Ackerbau und Viehzucht »offiziell« erfunden wurden!

Jagen, sammeln, Getreide anbauen

Weitere Funde weisen in dieselbe Richtung. An der mittelsteinzeitlichen Grabungsstätte Göbekli Tepe in Südostanatolien, die etwa 11 600 bis 10 500 Jahre alt ist, entdeckten Archäologen kürzlich Mahlsteine, steinerne Hohlräume für die Aufbewahrung von Getreidebrei oder Bier sowie Spuren von Bulgur, gekochtem Weizen. Laura Dietrich vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Berlin hat einen der Basalt-Mahlsteine dazu benutzt, um Körner von wildem Dinkel zu zerkleinern. Das Ergebnis war ein grober Grieß, der sowohl zum Breikochen als auch zum Bierbrauen geeignet gewesen wäre. Die Jäger-Sammler-Ethnien von Göbekli Tepe feierten rund um ihre Tempelanlagen – die ältesten der Welt – große Feste, bei denen man Getreideprodukte konsumierte. Wiederum: all dies lange vor Anbruch der Jungsteinzeit. Ein weiteres Beispiel ist die 14 500 Jahre alte jordanische Freilandsiedlung Shubayqa I. Dort fanden sich erhaltene Brotkrumen.

Erst der Umstieg auf von Tieren gezogene landwirtschaftliche Geräte könnte die Vormachtstellung des Mannes zementiert haben

Zusammengenommen verändern diese Entdeckungen das Bild, das man bisher vom Leben in jener fernen Epoche der Menschheitsgeschichte hatte. Die Fundstätte Ohalo II liefert überzeugende Hinweise darauf, dass Gruppen von altsteinzeitlichen Nomaden genau wie etliche Jäger-Sammler-Kulturen der jüngeren Vergangenheit je nach Jahreszeit teilweise sesshaft lebten. So konnten sie die Ressourcen nutzen, die an einem bestimmten Ort besonders reichlich vorhanden waren, etwa Wildgetreide, aus dem man bereits unterschiedliche Lebensmittel herzustellen wusste.

Zweifellos waren Frauen die Ersten, die dies taten – die säten und ernteten, einen Garten bestellten. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die Erfindung von Garten- und Ackerbau – Innovationen, die den Verlauf der menschlichen Evolution radikal verändert haben – das Werk der Frauen war. Dies ist eine noch sehr neue, für viele wahrscheinlich ungewohnte Überlegung. Mit ihrem traditionellen Pflanzenwissen konnten die Frauen bei Anbruch der Jungsteinzeit denn auch als Erste in ihren Gärten mit der Zucht und Auslese von Nutzpflanzen beginnen.

Hölzerne Hacken dürften die ersten landwirtschaftlichen Werkzeuge gewesen sein. Wann Pflüge mit metallenen Pflugscharen aufkamen, zunächst aus Bronze, ist unklar – aber man kann davon ausgehen, dass diese Erfindung für die Frauen den Abstieg von einer relativ gehobenen zu einer niedrigeren sozialen Stellung bedeutete. Denn Landwirtschaft war von nun an in entscheidenden Teilen Männersache, da Zugtiere wie Ochsen, Esel oder Pferde mit hohem Kraftaufwand angeschirrt und über den Acker gelenkt werden mussten.

Vieles wurde jetzt anders. So brach nun eine Epoche an, in der Eroberungskriege und Raubzüge an der Tagesordnung waren. Auch dies ein Gedanke, an den man sich erst gewöhnen muss: Die noch heute verbreitete Unterdrückung der Frauen durch Männer, auch mit Hilfe physischer Gewalt, hat demnach ihren Ursprung in der Entwicklung bestimmter landwirtschaftlicher Techniken.

Als Gegenentwurf dazu attestierten einige Fachleute den Jäger-Sammler-Gesellschaften der Altsteinzeit bereits ein Leben ohne Konflikte oder Gewalt in einer Art von »Goldenem Zeitalter«: Die Natur habe ihre Bedürfnisse im Überfluss befriedigt, und wegen der geringen Bevölkerungsdichte habe es keinen Streit um Territorien und Eigentum gegeben. Auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern sei ausgeglichen und harmonisch gewesen. Erst mit der Jungsteinzeit seien Ungleichheit, Konflikte, Krieg und Totschlag in die Welt gekommen, verursacht durch Sesshaftigkeit, Grundbesitz und die damit verbundene Wirtschaftsform. Und erst seit diesem Umbruch würden Frauen unterdrückt.

Jagen, sammeln, Getreide anbauen – und sogar Krieg führen

Angesichts der aktuellen Faktenlage hat diese Sicht jedoch an Glaubwürdigkeit verloren. Es gibt mittlerweile Indizien für Gewalttätigkeit aus einer Zeit lange vor Anbruch des Neolithikums. Da ist beispielsweise die Fundstätte von Nataruk in Kenia: Vor rund 10 000 Jahren, am Ende der afrikanischen Altsteinzeit, wurde hier bei einem Überfall eine kleine Stammesgruppe vermutlich komplett ausgelöscht. Oder der etwa 12 000 Jahre alte, »Friedhof 117« genannte Grabungsort im ägyptischen Dschebel Sahaba mit seinen vielen Getöteten – in den Skeletten stecken Pfeilspitzen. Oder der 33 000 Jahre alte Schädel mit einer tödlichen Verletzung, der in der Ciclovina-Höhle in Rumänien gefunden wurde.

Also hat es in der Altsteinzeit durchaus Gewaltausbrüche gegeben. Folglich muss man annehmen, dass auch Gewalt gegen Frauen stattfand, zumindest unter bestimmten Umständen oder in bestimmten Gruppen.

Falls es eine herausgehobene Stellung von Frauen in der Jüngeren Altsteinzeit gab, so war sie mit Sicherheit je nach Zeitabschnitt und Region unterschiedlich ausgeprägt. Beispielsweise fanden Archäologen aus der Zeit des Gravettien auf der ganzen Italienischen Halbinsel in Frauenbestattungen durchwegs Körperschmuck und Grabbeigaben. Das legt eigentlich einen hohen realen und symbolischen Status nahe – die Fülle an Frauenfigürchen aus dem Gravettien weist in dieselbe Richtung. Aber auch hier gibt es Gegenstimmen: Einige Prähistoriker sehen in der großen Zahl an altsteinzeitlichen weiblichen Statuetten lediglich den Ausdruck einer komplexen Mythologie, die sich sehr wahrscheinlich um die Entstehung des Lebens drehte.

Am Ende bleibt das nüchterne Fazit: Mögen Frauen in den Klans der Jüngeren Altsteinzeit eine noch so wichtige Rolle bei den Themen Fortpflanzung, Lebensunterhalt und wirtschaftlicher Innovation gespielt haben, mögen sie auch an Aktivitäten und Entscheidungsprozessen beteiligt gewesen sein – ein Nachweis für eine dominante Rolle der Frau ist all dies nicht.

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