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News: Im Reich der Laute

Eine Volksweisheit besagt, daß Blinde das Leben meistern, indem sie ihre anderen Sinne und besonders das Gehör schärfen, bis ihre Wahrnehmungsfähigkeit weit über den Leistungen von Sehenden liegt. Jetzt bestätigte eine wissenschaftliche Studie diesen Glauben: Wie die Forscher herausfanden, entwickeln vollkommen blinde Menschen manchmal tatsächlich Fertigkeiten, die Sehenden fehlen.

Die meisten Menschen halten es für völlig unmöglich, ein Geräusch genau zu orten, wenn eines ihrer Ohren plötzlich blockiert wird: Ohne visuelle Anhaltspunkte werden Laute, die von der Seite des blockierten Ohres kommen, nicht korrekt lokalisiert. Menschen jedoch, die an einem Ohr stark schwerhörig sind, schaffen es häufig, dieses Manko zu überwinden. Franco Lepore und seine Kollegen von der Université du Québec à Montréal entdeckten jetzt, daß manche Menschen, die von Geburt an blind sind, Geräusche außergewöhnlich exakt orten können – auch mit nur einem Ohr. Überraschenderweise entdeckten die Forscher aber gleichzeitig, daß Sehbehinderte, die noch über Reste peripheren Sehens verfügen, Geräusche schlechter lokalisieren können als Blinde und Menschen mit einem Sehvermögen von 100 Prozent (Nature vom 17. September).

Wenn beide Ohren unbedeckt waren, konnten sowohl Blinde wie auch Sehende alle Geräusche richtig lokalisieren, und beide Gruppen erledigten diese Aufgabe gleichermaßen erfolgreich. Probanden mit einem Sehrest dagegen fiel es wesentlich schwerer, aus einer Anordnung verschiedener Lautsprecher den herauszufinden, aus dem das Geräusch kam – besonders wenn dieser sich im Zentrum der Lautsprecherphalanx befand, das dem "blinden Fleck" dieser Versuchspersonen entsprach.

Wie erwartet, lokalisierte die sehende Gruppe bei den Tests mit einem abgedeckten Ohr Geräusche, die tatsächlich von ihrer "tauben" Seite kamen, auf der Seite des offenen Ohres. Zusätzlich konnten diese Probanden Laute auch auf ihrer "hörenden" Seite weniger gut orten als gewöhnlich. Die Ergebnisse der Gruppe mit eingeschränktem Sehvermögen waren ähnlich, allerdings orteten diese Versuchspersonen die Geräuschquellen weniger exakt.

Blinde dagegen reagierten auf zwei verschiedene Arten: Etwa bei der Hälfte traten die gleichen Richtungsverzerrungen auf wie bei den Sehenden. Dieser Teil der Gruppe ortete Geräusche, die von der "tauben" Seite ausgingen, auf der gegenüberliegenden. Im Nachhinein stellte sich allerdings heraus, daß auch diese Blinden die Laute von ihrer "tauben" Seite häufig anders wahrgenommen hatten, obwohl sie die Geräusche nicht korrekt lokalisieren konnten. Diesen Klangunterschied bemerkte die sehende Gruppe nicht.

Die andere Hälfte der Blinden vollbrachten die Aufgabe mit nur einem hörenden Ohr beinahe ebenso gut wie mit beiden Ohren. Die Forscher fanden hierfür einige mögliche Erklärungen: Möglicherweise werden bei Menschen, die von Geburt oder früher Kindheit an blind sind, Gehirnareale umgestaltet. Regionen, die normalerweise für die visuelle Abbildung des Raums zuständig sind, könnten dazu benutzt werden, Geräusch-Kartierungen vorzunehmen oder die Fähigkeiten zu verbessern, die für eine solche Abbildng nötig sind.

Menschen mit stark eingeschränktem Sehvermögen meisterten den Versuch vielleicht weniger gut, weil sie sowohl das Sehen wie auch das Hören benutzen müssen, um sich ihre Umgebung räumlich vorzustellen. Das könnte zu einer Verwirrung der Signale im Gehirn führen. Außerdem sind diese Probanden möglicherweise daran gewöhnt, einen Laut zu lokalisieren, indem sie den Kopf bewegen, so daß sie die Geräuschquelle mit ihrem peripheren Sehvermögen erkennen können. Werden sie hieran gehindert, fällt es dieser Gruppe sehr viel schwerer, das Geräusch zu orten.

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