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Darwin und Evolution: Kreationismus auf dem Vormarsch in Europa

Kreationisten lehnen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Evolution ab. Bisher gab es ihre Bewegung primär in den USA, doch langsam breitet sich ihr Gedankengut auch auf unserer Seite des Atlantiks aus.
Charles Darwin

"Einfach unglaublich!" Mit hochrotem Kopf und sichtlich erregt schritt der knapp über 60-Jährige auf eine Person zu – eine aus Silikon geformte, hyperrealistische Rekonstruktion von Lucy, dem weltweit bekanntesten und 3,2 Millionen Jahre alten Australopithecus afarensis. Nach ein paar Minuten völligen Durcheinanders war klar, dass der Mann in einer anderen, biblischen Zeitrechnung lebte – für ihn dauerte die Erdgeschichte erst 6000 Jahre lang. Aber er störte sich in erster Linie nicht an Lucys evolutionärem Alter – er entrüstete sich mehr über ihren nackten Körper. "Sie müssen sie unbedingt bedecken! Das ist ja schon fast so schlimm wie am Strand!"

Lucy steht auf der Evolutionstreppe in der zentralen Halle des Prähistorischen Museums Moesgaard in Dänemark und ist wahrlich einer der Stars hier: Die neue Attraktion ließ die Besucherzahlen des Museums schon im ersten Jahr von 10 000 auf 500 000 in die Höhe schnellen. Bei der wissenschaftlichen Rekonstruktion wurde besonders darauf geachtet, eine individuelle Person darzustellen und nicht nur einen in der Evolution weit entfernten Vorfahren des heutigen Menschen. Und da steht sie nun – dunkelhäutig und wild, einen Meter groß und mit selbstsicherer Ausstrahlung. Der aufgebrachte Besucher war Anhänger der Kreationisten und erkannte noch nicht einmal den Affen in ihr – er sah nur ihren nackten Körper. Die Vorgeschichte bedeutete ihm viel weniger als die Moral, und die Ausstellung tat das ihr Übriges.

Wir haben schon unsere Erfahrungen mit etlichen Kreationisten gemacht. Dazu gehören ganz unterschiedliche Menschen verschiedenster Religionsgemeinschaften. Sie leben in den Städten genauso wie auf dem Land; manche sind sehr gebildet und gehören zum Establishment, manche nicht. Teils sind sie in Gruppen organisiert und finanziell gut ausgestattet, teils nicht. Viele haben sich einer bestimmten Sache verschrieben – etliche fühlen sich als Missionare und wollen die Lehre von der göttlichen Schöpfung als Gegenpol zur Evolution verbreiten, andere bleiben eher für sich. Und trotz all der Unterschiede haben sie eines gemeinsam: Sie sind alle Europäer.

Kreationisten als Teil der religiösen Elite in Russland

Bisher galt der Kreationismus lediglich als US-amerikanisches Phänomen – diese Zeiten sind aber definitiv vorbei. Die Bewegung stammt zwar aus den USA, breitet sich aber gerade weltweit aus. In Europa gibt es bisher keine organisierte Gemeinschaft; die einzelnen Gruppierungen unterscheiden sich noch stark von Land zu Land. So kann die Bewegung in kleineren, lokalen Religionsgemeinschaften identitätsstiftend wirken, insgesamt aber wenig Einfluss haben – beispielsweise in Skandinavien. Andernorts leben die Anhänger in einer gut organisierten Subkultur – etwa in den Niederlanden. Und mancherorts sind sie Teil der religiösen Eliten mit beträchtlicher politischer Macht – das beste Beispiel hierfür ist Russland.

Lucys Knochen | Kein Skelettfund aus der Menschheitsgeschichte ist bekannter als der Australopithecus Lucy. Neben ihrer Unterart A. afarensis existierten zeitgleich noch weitere Australopithecinen, manche davon hatten einen grazilen, andere einen robusten Körperbau.

Auch wenn ihre Zahl in Europa und ihr Einfluss in den Schulen und lokalen Behörden stetig wuchsen, so blieben doch die meisten Kreationisten unerkannt und bereiteten keine größeren Probleme. Zumindest nicht bis vor etwa zehn Jahren, als der Europarat offen vor dem Aufkommen des Kreationismus warnte und die mögliche Bedrohung für das Bildungssystem verdeutlichte. Damit wurde die Bewegung erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt; eine Debatte war angeregt. In ganz Europa wurde mit Hilfe von Umfragen nach der öffentlichen Meinung geforscht; in der Türkei wurde das Ergebnis einiger Umfragen im Internet sogar von Anhängern beeinflusst. Außerdem wurden Bücher, Pamphlete und Websites veröffentlicht, und die Medien begannen sich für das Phänomen zu interessieren.

Der investigative Journalismus versuchte endlich zu verstehen, wer die Kreationisten eigentlich sind und was sie wollen. Laut ihren Untersuchungen ritten die meisten nur auf dem Streit über Evolution und Schöpfung herum, wobei Darwin in die eine Ecke und Gott in die andere Ecke gesteckt würden, um dann beim nächsten Läuten der Glocke einmal kurz aufzutauchen. Doch den europäischen Journalisten waren die Tricks der amerikanischen Kreationisten noch nicht bekannt, und sie verfielen zu häufig in Standardaussagen über eine ausgewogene Sicht der Dinge und den Versuch, alles von zwei Seiten zu betrachten. Neue Titelstorys und Kommentare beschrieben die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Religion als eine Frage der persönlichen Präferenz. Und wenn diese fehlte, verhalfen sie den Kreationisten zu einer Debatte und verschafften ihnen damit Gehör in der Öffentlichkeit.

Kreationisten hatten leichten Zugang zu Medien

Im Jahr 2009 wurde Charles Darwin gleich doppelt geehrt – der 200. Geburtstag des Vaters der modernen Evolutionstheorie und der 150. Jahrestag der Veröffentlichung seines Werkes "On the Origin of Species" (Über die Entstehung der Arten) standen an. So bekam die Bewegung durch eine massiv gesteigerte Berichterstattung unerwarteten Rückenwind. Über Darwins Geburtstag wurde überall mit Hinweis auf den Streit zwischen Wissenschaft und Religion berichtet, und selbst zu den Mainstream-Medien hatten die Kreationisten auf einmal leichten Zugang. Doch viel wichtiger für sie war das Aufkommen der sozialen Netzwerke und die Möglichkeit, schnell und einfach Webseiten zu erstellen, auf denen nun viel mehr Material zur Verfügung gestellt werden konnte. Dabei entstanden auch neue Plattformen zur Kommunikation zwischen den eigenen Anhängern. So manches Mal wurden sogar Anstrengungen über die großen Religionen hinweg gefordert, sozusagen als gemeinsame Sache gegen den Atheismus.

Nur wenige Wissenschaftler haben das alles kommen gesehen. Ausgerechnet im Darwin-Jahr standen der kreationistischen Bewegung mehr Finanzmittel für ihre antievolutionistischen Aktivitäten zur Verfügung, als der Wissenschaft für ihre Darstellung der Evolution. Viele der Kampagnen waren professionell durchgeführt und schindeten Eindruck. Auch wenn die Evolutionstheorie in der europäischen Bevölkerung weithin akzeptiert war, einmal abgesehen von der Türkei, zeigen doch immer mehr Berichte und Umfragen, wie die öffentliche Meinung langsam zu schwanken beginnt.

Blick in den Spiegel | Was tun gegen den wachsenden Kreationismus? Die Wissenschaftler empfehlen Aufklärung und publikumswirksame Ausstellungen. Wie hier im "Paläon" in Schöningen, wo man den Schädel eines Homo heidelbergensis und die Rekonstruktion des Gesichts daraus ansehen kann.

Inzwischen ist klar, dass man dem Kreationismus nicht mit wissenschaftlichen Methoden, sondern mit den Mitteln der Politik begegnen muss. Es reicht nicht aus, unzählige Beweise und Argumente zur Unterstützung der Evolutionstheorie aufzuzählen; man muss auf all jenen Plattformen aktiv werden, auf denen sich die Kreationisten schon länger versammeln. Das bedeutet auch, öffentliche Vorträge zu halten, Kolumnen und Artikel in den gängigen Zeitschriften und Zeitungen zu schreiben, im Fernsehen und Radio zu diskutieren, Webseiten mit Berichten und Analysen zur Evolution einzustellen und zu pflegen sowie ansprechende Ausstellungen anzubieten.

Viele interpretieren die Evolution falsch

Wo der Kreationismus langsam Einzug in das Bildungssystem findet, beschränken sich die Forscher inzwischen nicht mehr nur auf Kommentare in lokalen Zeitungen, sondern organisieren regelrechte Gegenaktionen. Als der serbische Bildungsminister beispielsweise das Thema Evolution an den Schulen verbot, kam die serbische Akademie der Wissenschaften sofort mit einer Kampagne gegen den Kreationismus auf den Plan. Die von etwa 40 Organisationen unterstützten Aktionen führten schließlich zum Rücktritt des Ministers.

Selbst wenn die kreationistische Bewegung bestehen bleibt, vielleicht auch in Europa, so ist sie dennoch nicht die größte Gefahr für das Verständnis der Evolution. Eines hat uns nämlich der Umgang mit der Bewegung gezeigt: Selbst Leute, die unsere Evolution angeblich akzeptieren, interpretieren ihre Abläufe rein intuitiv und damit wissenschaftlich gesehen falsch. Die Evolution wird oft nur am Rande behandelt oder wie in vielen Schulen Europas überhaupt nicht gelehrt. Ironischerweise erkennen wir erst jetzt angesichts antievolutionistischer Bewegungen in Europa, dass wir unser Wissen über die fundamentalen Prozesse des Lebens auf der Erde besser vermitteln müssen. Hierzu bedarf es der verschiedensten Plattformen und vor allem anschaulicher Beispiele. Nachdem die Besucherzahlen in den Naturkundemuseen und das Interesse in der Öffentlichkeit Europas steigen, stehen uns viele Wege offen. Wir müssen nur das Bestmögliche daraus machen.

Das Original des Artikels wurde unter dem Titel "Creationism Invades Europe" in Scientific American veröffentlicht.

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