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Intuitives Essen: Spüren, was der Magen sagt

Beim intuitiven Essen geht es darum, auf die Signale des Körpers zu hören. So spürt man, wenn der Hunger nachlässt und die Sättigung einsetzt. Das klingt einleuchtend – doch es gibt wenig Evidenz.
Eine Frau steht vor einem geöffneten Kühlschrank
Ist es Hunger oder nur Appetit? In einer Gesellschaft, in der Nahrung im Überfluss vorhanden ist, müssen viele Menschen erst wieder lernen, auf ihre Körpersignale zu hören.

Der Magen ist voll, der Hosenbund spannt. Lieber mal den Knopf aufmachen. Das Gefühl kennen viele Menschen: Das Essen war einfach zu lecker, um etwas auf dem Teller liegen zu lassen. Und das, obwohl bereits die Hälfte der Portion ausreichend gewesen wäre, um satt zu sein. Doch nicht nur das: Wir essen zur Belohnung, zur Entspannung oder weil es gemeinsam mit Freunden und Familie einfach gesellig ist und Spaß macht. In einer Gesellschaft, in der Nahrung im Überfluss vorhanden ist, ist Essen kein reiner Überlebensinstinkt mehr. Daraus folgen zahlreiche Diäten, ein schlechtes Gewissen, wenn man sich mal wieder nicht an die guten Vorsätze gehalten hat, und »Schummel-Tage«. So wird die alltägliche Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme zur hochkomplexen Aufgabe.

Das Problem ist: Viele Menschen haben verlernt, beim Essen auf ihr Körpergefühl zu hören. Sie essen weiter, obwohl sie längst satt sind. So nehmen sie mehr Energie auf, als sie benötigen. Die Psychologin Beate Herbert erforscht, wie gut wir unsere körperlichen Bedürfnisse spüren und darauf reagieren können. Ihr ernüchterndes Fazit: »Wir sehen in unseren Untersuchungen, dass viele Menschen ihre natürlichen Hunger- und Sättigungssignale kaum noch richtig wahrnehmen.« Das liege auch daran, dass die Nahrungsmittelindustrie uns mit Lebensmitteln überfordere, die teilweise hoch verarbeitet sind und Geschmacksverstärker enthalten, sagt die Professorin für Biologische Psychologie und Experimentelle Psychopathologie an der Charlotte Fresenius Hochschule in Wiesbaden und Privatdozentin für Psychologie an der Universität Tübingen.

Wie schwer die Selbsteinschätzung beim Essen sein kann, verdeutlicht auch eine Studie einer US-amerikanischen Forschungsgruppe. Im Jahr 2021 setzten die Wissenschaftler in einer randomisierten Studie 99 Probanden als Mittagsmahlzeit einen Shake mit vielen oder wenigen Kalorien vor. Die Teilnehmenden beantworteten anschließend Fragen zu ihrem Essverhalten sowie möglichen Essstörungen und ordneten ein, wie sie sich vor und nach dem Shake fühlten – satt, glücklich und energiegeladen? Zusätzlich sollten sie die Kalorienmenge in ihrem Drink schätzen. Das Ergebnis: Diejenigen, die sich generell mehr Gedanken ums Essen machten, lagen bei der Kalorienmenge und der eigenen Sättigung besonders weit daneben.

»Man fängt an zu essen, wenn man Hunger hat, und hört auf, wenn man satt ist«Maike Ehrlichmann, Ernährungsberaterin

Warum aber versagt unser Instinkt bei der Nahrungsaufnahme so sehr? Lässt sich wieder neu lernen, intuitiv zu essen? Der Grundgedanke dabei ist, bei den Mahlzeiten verstärkt auf die eigenen Körpersignale zu hören. Die Ernährungsberaterin Maike Ehrlichmann erklärt das Prinzip so: »Man fängt an zu essen, wenn man Hunger hat, und hört auf, wenn man satt ist.« Klingt einfach und einleuchtend. Doch dahinter steckt mehr, als man im ersten Moment vermuten könnte – und gleichzeitig nicht so viel, wie manche Menschen behaupten.

Themenwoche »Mein Körper, mein Gewicht«

Jedes Jahr das Gleiche: Nach der Schlemmerei in der Adventszeit nehmen sich viele Menschen zu Jahresbeginn vor, weniger zu essen und Kilos zu verlieren. Doch warum definieren sich Menschen so oft über ihre Körperform und ihr Gewicht? Von den psychologischen Motiven hinter dem Neujahrsvorsatz »Abnehmen«, der strauchelnden Body-Positivity-Bewegung bis hin zu Ansätzen wie intuitivem Essen und den neuesten Entwicklungen in der Adipositasmedizin: In dieser Themenwoche laden wir dazu ein, die Körperwahrnehmung und das eigene Gewicht aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

  1. Neujahrsvorsätze: Dieses Jahr nehme ich wirklich ab!
  2. Schlankheitskult: Das Ende der Body Positivity?
  3. Fettleibigkeit: Warum der Body-Mass-Index in die Irre führt
  4. Intuitives Essen: Spüren, was der Magen sagt
  5. Adipositasmedikamente: Hype ums neue Abnehmen
  6. Abnehmen: »Medikamente wie Wegovy sind keine Lifestyle-Drogen«

Entwickelt wurde das Konzept des intuitiven Essens im Jahr 1995 von den US-Amerikanerinnen Evelyn Tribole und Elyse Resch, die darüber Bücher geschrieben und eine Ausbildung für »Intuitive Eating Coaches« entwickelt haben. Damit war zwar eine neue Methode geboren; wissenschaftliche Fakten gab es zunächst jedoch wenige. Zudem fehlte der Theorie ein strukturierter Rahmen, wodurch die vorhandenen Studien schwer vergleichbar waren. Um das zu ändern, setzte die Psychologieprofessorin Tracy Tylka 2006 die »Intuitive Eating Scale« (IES) auf, einen Fragebogen, der sich aus drei Kernbereichen zusammensetzt:

  1. Es ist erlaubt zu essen, wann und was man möchte.
  2. Man isst nur noch aus physischen, nicht aus emotionalen Gründen.
  3. Es wird auf die körpereigenen Signale vertraut.

»Das bedeutet explizit nicht, dass man einfach alles auf einmal isst, worauf man gerade Lust hat«, betont Beate Herbert. »Die ursprüngliche Idee ist vielmehr, dass man sich nicht von äußeren Essensreizen leiten lässt, sondern die eigenen körperlichen Rückmeldungen von Hunger- und Sättigungsgefühl besser versucht wahrzunehmen.« Stress, Belohnung, Trauer – all das seien Auslöser für das so genannte emotionale Essverhalten, häufig verbunden mit dem Griff in die Chipstüte oder zur Schokoladentafel. Und weil bereits Kinder lernen, dass Süßigkeiten nur in Maßen gegessen werden sollten und etwas Besonderes sind, tragen gut gemeinte Verbote der Eltern dazu bei, dass manche Menschen ihr Leben lang nur schwer Nein sagen können zu überzuckerten Speisen.

Dieser Erkenntnis soll eine Ergänzung zur IES Rechnung tragen, die Tylka gemeinsam mit der Kinderpsychologin Ashley Kroon Van Diest 2013 in den Fragebogen eingefügt hat. Der neue Aspekt: Wir sollen spüren, welche Ernährung uns tatsächlich guttut, und bevorzugt das essen, was uns Energie gibt und leistungsfähig macht. Beate Herbert sieht das kritisch: »Ich glaube, das können wir nicht so genau unterscheiden«, sagt die Wissenschaftlerin. Zudem merkt sie an, dass die zweite Version des Fragebogens (IES-2) nur drei Fragen zu dem neuen Aspekt enthält – das seien methodisch betrachtet zu wenige, um aussagekräftige Antworten zu bekommen.

Das Konzept des intuitiven Essens an sich findet Beate Herbert dennoch einleuchtend. Tatsächlich sind verschiedene Studien bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass sich ein solches Essverhalten positiv auf die Herzgesundheit und die Psyche auswirkt – etwa durch ein höheres Selbstwertgefühl. Oft geht es zudem mit anderen vorteilhaften Verhaltensweisen wie täglicher Bewegung einher – das allerdings vermutlich deshalb, weil Personen, die sich für ihre Körpersignale interessieren, generell mehr auf ihre Gesundheit achten.

Hilft die Methode beim Abnehmen?

Umstritten ist, ob intuitives Essen gleichzeitig auch zu einem gesünderen Speiseplan führt. Insbesondere dann, wenn Menschen alles essen dürfen, was sie möchten, scheint das fraglich. Immerhin: In manchen Untersuchungen ernährten sich die Teilnehmenden tatsächlich besser oder zumindest nicht schlechter als vorher. Eine Onlinebefragung von 308 Erwachsenen aus dem Jahr 2022 ging noch einen Schritt weiter und betrachtete die einzelnen Aspekte des intuitiven Essens getrennt. Hier fiel auf: Die uneingeschränkte Nahrungsauswahl führt eher dazu, dass die Menschen mehr Zucker zu sich nehmen. Aber: Wer es schafft, die äußeren Faktoren zu ignorieren und aus Hunger statt aus emotionalen Gründen zu essen, reduziert den Zuckergehalt und isst mehr Gemüse. Möglicherweise kommt es also darauf an, wie man die Punkte der »Intuitive Eating Scale« gewichtet.

Im Jahr 2013 untersuchte Beate Herbert in einer Studie mit 111 Frauen erstmals, ob intuitives Essen nach der IES überhaupt mit der Fähigkeit zusammenhängt, objektiv messbare körperliche Signale wahrzunehmen. Als Marker diente der eigene Herzschlag. Es zeigte sich: Wer ihn gut spüren konnte, vertraute beim Essen mehr auf die körpereigenen Signale und aß eher aus physischen statt emotionalen Gründen.

Eine Frage, die sich bei Interventionen rund um das Essverhalten sofort stellt: Hilft die Methode beim Abnehmen? Oft geht es darum, Übergewicht oder Adipositas zu behandeln. Das Interesse in der Forschung ist entsprechend groß, denn bisher zeigen viele Diätkonzepte – wenn überhaupt – eher kurzfristige Wirkungen. Langfristig sind sie wenig erfolgreich und können sogar negative Folgen haben, indem sie etwa das Essverhalten der Betroffenen nachhaltig stören oder sie psychisch belasten.

Das intuitive Essen verspricht, anders zu sein: Es gibt keine bewusste Kalorienreduktion und keine Einschränkung bei der Auswahl der Nahrungsmittel. Die Menschen sollen auf ganz natürliche Weise merken, wenn sie zu viel essen, und ihr Verhalten entsprechend anpassen. So geht es etwa bei der »Healthy at Every Size«-Intervention (HAES, auf Deutsch: Gesund in jeder Größe) per Definition nicht darum abzunehmen, sondern um eine gesunde Lebensweise unabhängig davon, was die Waage sagt. Im Kern dieser Methode steht, intuitiv zu essen. In einer 2015 veröffentlichten Zusammenfassung bisheriger Studien zu HAES sehen zwei Psychologinnen der Universität Barcelona viel versprechende Ansätze, um Übergewicht und Adipositas anders als mit konventionellen Diäten zu behandeln. Allerdings geben sie zu, dass für eine eindeutige Aussage mehr – und rigorosere – Untersuchungen nötig wären.

Denn die Belege dafür, dass die Kilos beim intuitiven Essen purzeln, sind bestenfalls schwammig. Im Jahr 2022 bekamen die 58 Teilnehmer einer brasilianischen klinischen Studie entweder einen personalisierten Diätplan, Instruktionen zum intuitiven Essen oder Informationen über intuitives Essen und die nationalen Ernährungsempfehlungen. Die Testpersonen waren übergewichtig und sollten nun für sechs Monate ihr Essverhalten je nach Vorgaben ändern. Das Ergebnis: Die Forschenden fanden keinen Unterschied zwischen den Gruppen, weder im Essverhalten noch in Gewicht und Body Mass Index (BMI). Wie die meisten anderen Studien zu dem Thema hat jedoch auch die brasilianische nur eine sehr eingeschränkte Aussagekraft, allein schon durch die geringen Gruppengrößen von lediglich 17 bis 23 Teilnehmenden. Gerade bei so komplexen Verhaltensweisen wie dem Essen, das von vielen verschiedenen Faktoren abhängt, bräuchte man deutlich mehr Menschen für einen sinnvollen Vergleich.

Es gibt bisher kaum methodisch gute Untersuchungen, die einen Nutzen der Methode bestätigen oder widerlegen

Überhaupt existieren bisher kaum methodisch gute Untersuchungen, die einen Nutzen der Methode bestätigen oder widerlegen. Das sagt auch Beate Herbert: »Es gibt mittlerweile eine Menge Programme und Ideen rund um das intuitive Essen, die bislang nicht wissenschaftlich fundiert untersucht wurden.« Was das Abnehmen angeht, könne das Konzept möglicherweise sogar nach hinten losgehen, glaubt die Wissenschaftlerin. Schließlich sei immer ein Kaloriendefizit nötig, um Gewicht zu verlieren. »Um in ein solches Defizit zu kommen, müsste ich aber möglicherweise das Hungergefühl ignorieren.«

Dringend nötig seien daher fundiertere Studien, sagt Herbert. Vor allem sei es nicht ausreichend, sich lediglich auf einen Fragenkatalog zu stützen. »Die Antworten sind sehr subjektiv und häufig von sozialer Erwünschtheit beeinflusst.« Vielmehr müsse man objektive Messungen der Körpersignale in die Auswertung einbeziehen. Die Überwachung der eigenen Herztätigkeit, der Magentätigkeit sowie von Hunger- und Sättigungssignalen seien dafür geeignet. Und letztlich müsse die Theorie in Verhalten umgesetzt werden. Schließlich lassen sich sowohl Hunger als auch Sättigung bewusst ignorieren. »Interessant wäre zudem, wie sich die Hirnantwort auf Essensreize verändert«, sagt die Psychologin.

Obwohl es noch an wissenschaftlicher Evidenz mangelt, können gesunde, normalgewichtige Menschen, die mehr im Einklang mit ihren natürlichen Körpersignalen essen wollen, den intuitiven Ansatz problemlos ausprobieren. Maike Ehrlichmann, die das Konzept auch in der Ernährungsberatung nutzt, findet besonders gut, dass man sich dabei bewusst darauf konzentriert, was der Körper gerade braucht. »Das funktioniert aber nicht über Nacht. Bei manchen Menschen dauert es ein paar Wochen, bis sie ihrem eigenen Gefühl wieder richtig vertrauen«, gibt sie zu bedenken.

Gerade im Alltag gebe es zudem einige Hürden – vom Überangebot gesüßter und gesalzener Speisen einmal ganz abgesehen. »Angenommen, ich warte am Bahnhof auf den Zug, habe schon einen riesigen Hunger und sehe dann einen Süßigkeitenautomaten: Da glaube ich ganz schnell, dass ich jetzt unbedingt diesen Schokoriegel haben möchte und er mir bestimmt total gut schmecken wird.« Dieses Verlangen entstehe aber nur, weil man in dem Moment nichts anderes zur Verfügung habe. Das zu erkennen, sei bereits ein erster Schritt. Dann könne man dem Verlangen entweder entgegenwirken, indem immer ein kleiner Snack in der Tasche bereitliegt. Oder man esse den Schokoriegel, tue dies jedoch bewusst und ohne Schamgefühl, dass man wieder einmal »sündigt«.

Nicht geeignet für Menschen mit Essstörungen

»Ich glaube, alle Menschen können intuitives Essen lernen«, sagt Maike Ehrlichmann. »Es kommt immer darauf an, wie man dabei begleitet wird.« Beate Herbert mahnt allerdings Menschen mit Essstörungen zu enormer Vorsicht: »Betroffene haben eine stark gestörte Selbstwahrnehmung und falsche Körperschemata, können ihren Körper also kaum noch spüren und nehmen ihn zudem verzerrt wahr«, sagt sie. Das zu trainieren, könne Bestandteil einer Psychotherapie sein. »Dies muss aber immer in weitere psychotherapeutische Maßnahmen eingebettet sein und von ausgebildeten Fachleuten begleitet werden.«

Im September 2021 durchforsteten und analysierten australische Wissenschaftlerinnen den Inhalt von Instagram und fanden unter dem Hashtag #intuitiveeating rund 500 Bilder, von denen etwa die Hälfte Nahrung oder Getränke zeigten. Davon wiederum die Hälfte waren Darstellungen von gesunden Lebensmitteln. In den Posts ging es häufig um das Essverhalten und die physische oder psychische Gesundheit. Kurzum: Das Konzept des intuitiven Essens ist »in«. Das schürt jedoch auch falsche Erwartungen und bereitet den Boden für wissenschaftlich nicht geprüfte Programme.

»Neue Ernährungsstrategien kommen einfach gut an, aber wenn Menschen dabei an nicht speziell ausgebildete Fachleute geraten, ist dies sehr kritisch zu sehen«Beate Herbert, Psychologin

Aufpassen sollten alle Interessierten deshalb insbesondere bei der Vielzahl an Coaching-Angeboten. »Mittlerweile wird das Thema von sehr vielen Leuten ohne grundständige Ausbildung aufgegriffen, die alles Mögliche in das Konzept des intuitiven Essens hineininterpretieren«, sagt Beate Herbert. »Neue Ernährungsstrategien kommen einfach gut an, aber wenn Menschen dabei an nicht speziell ausgebildete Fachleute geraten, ist dies sehr kritisch zu sehen.«

Maike Ehrlichmann hingegen sieht im intuitiven Essen einen wichtigen Aspekt der Ernährungsberatung. »Wenn die Leute zu mir kommen, wollen sie genau hören, was sie wann essen sollen.« So detailliert könne das aber niemand sagen, zumal jeder Mensch unterschiedlich ist und auch die Tage verschieden aussehen – mal werde ausreichend Sport getrieben, mal der ganze Tag am Schreibtisch verbracht. »Ich kann nicht für jede Eventualität einen Essensplan erstellen. Umso wichtiger ist es, dass die Leute wieder selbst spüren, was sie gerade brauchen.«

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