Direkt zum Inhalt

Fettleibigkeit: Wieso der BMI in die Irre führt

Ein hoher Body-Mass-Index gilt als Hauptindikator für Fettleibigkeit. Dabei ignoriert der BMI Faktoren, die die körperliche Gesundheit viel besser widerspiegeln.
Eine Frau und eine Mann in Sportbekleidung. Die Frau ist kleiner als der Mann und hat Mehrgewicht.
Der Body-Mass-Index der Frau links ist sicherlich höher als der des Mannes rechts. Das sagt jedoch nichts darüber aus, wer körperlich fitter ist (Symbolbild).

Fatima Cody Stanford hat in ihrer Laufbahn schon zahlreiche Patienten mit gesundheitlichen Problemen auf Grund von Übergewicht betreut. Die Adipositas-Expertin vom Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School in Boston (USA) hat viele Erfolgsgeschichten vorzuweisen: Eine ihrer Patientinnen beispielsweise hatte nach rund zehn Jahren Zusammenarbeit mit Stanford »herausragend gute« Cholesterin-, Blutdruck- und Blutzuckerwerte. Trotzdem wollte die Patientin allein wegen ihres Body-Mass-Index unbedingt weiter behandelt werden, da sie laut diesem Wert noch immer als fettleibig galt. »Sie möchte weiter abnehmen«, so Stanford.

Seit Jahrzehnten dient der BMI weltweit als Maßstab für ein gesundes Körpergewicht. Berechnet wird er als Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße zum Quadrat. Dieser Quotient gilt als Indikator für den Fettanteil des Körpergewebes. Höhere Werte können auf ein erhöhtes Risiko für Stoffwechselerkrankungen hindeuten sowie auf eine geringere Lebenserwartung. Der BMI misst das Körperfett jedoch nicht direkt und lässt wichtige gesundheitsrelevante Aspekte wie Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit außer Acht. Ein hoher BMI ist also nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit schlechter Gesundheit oder einer geringeren Lebenserwartung.

»Wenn wir uns nur auf Größe und Gewicht konzentrieren, wissen wir nichts über den tatsächlichen Gesundheitszustand einer Person«Fatima Cody Stanford, Adipositas-Expertin

Deshalb setzt sich eine kleine, aber wachsende Gruppe von Experten dafür ein, bei der Diagnose und Behandlung von Fettleibigkeit, die von der Weltgesundheitsorganisation als chronische Erkrankung anerkannt ist, über den BMI hinauszugehen. Die American Medical Association (AMA) beispielsweise forderte im Juni 2023, neben dem BMI weitere gewichtsbezogene Kennzahlen zu berücksichtigen, um dessen Mängel auszugleichen.

Themenwoche »Mein Körper, mein Gewicht«

Jedes Jahr das Gleiche: Nach der Schlemmerei in der Adventszeit nehmen sich viele Menschen zu Jahresbeginn vor, weniger zu essen und Kilos zu verlieren. Doch warum definieren sich Menschen so oft über ihre Körperform und ihr Gewicht? Von den psychologischen Motiven hinter dem Neujahrsvorsatz »Abnehmen«, der strauchelnden Body-Positivity-Bewegung bis hin zu Ansätzen wie intuitivem Essen und den neuesten Entwicklungen in der Adipositasmedizin: In dieser Themenwoche laden wir dazu ein, die Körperwahrnehmung und das eigene Gewicht aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

  1. Neujahrsvorsätze: Dieses Jahr nehme ich wirklich ab!
  2. Schlankheitskult: Das Ende der Body Positivity?
  3. Fettleibigkeit: Warum der Body-Mass-Index in die Irre führt
  4. Intuitives Essen: Spüren, was der Magen sagt
  5. Adipositasmedikamente: Hype ums neue Abnehmen
  6. Abnehmen: »Medikamente wie Wegovy sind keine Lifestyle-Drogen«

Trotzdem ist ein hoher BMI weiterhin das Hauptkriterium für Behandlungsempfehlungen bei Fettleibigkeit. Befeuert wird seine Nutzung durch wachsende Patientenzahlen – weltweit hat sich die Zahl Betroffener in den vergangenen 50 Jahren verdreifacht – und durch eine Flut neuer und innovativer Medikamente zur Gewichtsreduktion. Experten befürchten, dass die steigende Nachfrage nach diesen Medikamenten die Abhängigkeit vom BMI als alleinigem Diagnosemittel noch verstärken wird. »Wenn wir uns nur auf Größe und Gewicht konzentrieren, wissen wir nichts über den tatsächlichen Gesundheitszustand einer Person«, sagt Stanford.

Der »Durchschnittsmensch« als Maßstab

Erstaunlicherweise liegen die Ursprünge des BMI nicht einmal in einem gesundheitlichen Forschungsgebiet. Vor rund 200 Jahren war der belgische Astronom und Mathematiker Adolphe Quetelet geradezu besessen von der Idee, den »mittleren Menschen« zu definieren. Dafür protokollierte er die Körpermaße von vorrangig westeuropäischen Männern und erkannte dabei, dass das Gewicht mit dem Quadrat der Körpergröße korreliert. Wer diese Zahlen durcheinander teilte, erhielt den Quetelet-Index, der das Gewicht in Bezug zur Körpergröße setzen sollte. Quetelets Arbeit, die sich mit der Definition von Normalität befasste, spielte später auch eine Rolle in den Anfängen der Eugenik.

Im Jahr 1972 setzte sich der amerikanische Physiologe Ancel Keys mit verschiedenen Größe-Gewicht-Indizes auseinander und kam zu dem Schluss, dass der von Adolphe Quetelet entwickelte Index die genaueste Vorhersage über die Menge des Körperfetts liefert. Keys gab dem Maßstab den Namen »Body-Mass-Index« (BMI) und vertrat die These, dieser sei ein besserer Indikator für eine gesunde Körpermasse als die damals gängigen Größe-Gewicht-Tabellen. Die Tabellen basierten auf Daten von Versicherungen und zeigten Gewichte an, die mit dem niedrigsten Sterberisiko korrelierten. Sie prägten weitgehend das gesellschaftliche Idealbild der Körpermaße im 20. Jahrhundert.

Auf der Ebene ganzer Bevölkerungen zeigt sich tatsächlich eine Korrelation von BMI und Sterberisiko: Am unteren Ende des BMI-Spektrums, gekennzeichnet durch Untergewicht, ist das Risiko erhöht. Im mittleren Bereich sinkt es und steigt dann zum oberen Ende hin wieder an – in jenen Gewichtsbereich, den die WHO seit 1993 als Übergewicht und Fettleibigkeit definiert.

BMI verliert an Aussagekraft

Doch bei der Betrachtung von Individuen verlieren die Grenzwerte ihre Aussagekraft. »Der BMI ist ein recht grobes Instrument, um Gesundheitsrisiken zu bewerten«, erklärt Susan Yanovski, Kodirektorin des Office of Obesity Research am US National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases in Bethesda in Maryland. In einer Studie vom Juli 2023 zeigte sich, dass das Sterblichkeitsrisiko von übergewichtigen Erwachsenen dem von Personen mit einem als gesund eingestuften Gewicht ähnelt – eine Beobachtung, die frühere Untersuchungen bestätigen. Laut einer weiteren Studie hatten rund 30 Prozent der übergewichtigen Teilnehmer eine gute kardiometabolische Gesundheit, gemessen an Faktoren wie dem Blutdruck und dem Cholesterinspiegel. Interessanterweise wurde ein ähnlicher Anteil von Menschen mit einem als gesund eingestuften BMI als kardiometabolisch ungesund bewertet.

Dass sich der BMI so beharrlich hält, liegt vermutlich nur an seiner Praktikabilität. »Der BMI kostet nichts – und er ist schnell zu ermitteln«, erklärt Sarah Nutter, Psychologin und Forscherin im Bereich Gewichtsdiskriminierung an der University of Victoria in Kanada. Aber, so Nutter, die Fixierung auf den BMI »verhindert die Erkenntnis, dass das Gewicht allein kein zuverlässiger Gesundheitsindikator ist«.

Ein unzulängliches Maß

Zwar ist unbestritten, dass überschüssiges Körperfett Organe belastet, das Risiko für kardiometabolische Erkrankungen steigert und sich negativ auf die mentale, physische und funktionale Gesundheit auswirken kann. Doch die Problematik liegt in der Anwendung des BMI als Maß für Körperfett. Zwei Erwachsene mit ähnlichen BMI-Werten können nämlich einen ganz unterschiedlichen Körperfettanteil haben. So tendieren ältere Menschen bei gleichem BMI wie jüngere zu mehr Körperfett und weniger Muskelmasse. Darüber hinaus variieren die Zusammenhänge zwischen BMI, Fettanteil und Gesundheit auch zwischen den Geschlechtern: Frauen haben oft mehr Körperfett als Männer bei gleichem BMI. Dennoch »scheint die Fettverteilung bei Frauen generell gesünder zu sein«, sagt Francisco Lopez-Jimenez, Kardiologe und Adipositasforscher an der Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota. Frauen lagern Fett eher an Gesäß, Hüften und Oberschenkeln ein, während Männer mehr Bauchfett ansetzen, das mit schlechteren Gesundheitsprognosen in Verbindung gebracht wird. Allerdings berücksichtigen die BMI-Skalen für Erwachsene diese Variabilität nicht. Die Trennlinien zwischen den BMI-Kategorien sind in den meisten Ländern, die den Index zur Diagnose von Fettleibigkeit nutzen, identisch und bewegen sich »zwischen wissenschaftlicher Fundiertheit und Willkür«, so Lopez-Jimenez.

»Unsere Fixierung auf den BMI verhindert, dass wir das Phänomen der Normalgewicht-Fettleibigkeit richtig erkennen«Francisco Lopez-Jimenez, Kardiologe und Adipositasforscher

Unabhängig vom Geschlecht ist überschüssiges Fett dann besonders gefährlich, wenn es die Organe umgibt. Dieses so genannte viszerale, tiefer liegende Fett ist metabolisch aktiver als subkutanes Fett, und ein Überschuss davon wird mit Insulinresistenz, Herzerkrankungen und anderen metabolischen Problemen in Verbindung gebracht. Es könne selbst bei einem als gesund geltenden BMI zu Problemen führen, so Lopez-Jimenez. »Unsere Fixierung auf den BMI verhindert, dass wir das Phänomen der Normalgewicht-Fettleibigkeit richtig erkennen.«

Da der BMI ursprünglich anhand von Messungen an weißen Menschen entwickelt wurde, »passen Menschen anderer Hautfarben nicht in seine engen Grenzen«, sagt Fatima Cody Stanford. Studien deuten darauf hin, dass Körperzusammensetzung und Fettverteilung je nach Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit variieren. So haben beispielsweise asiatische Menschen bei niedrigeren BMI-Werten ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten wie Herzleiden als Weiße. Zurückzuführen ist das wahrscheinlich auf Unterschiede im Körperfettanteil und seine Verteilung. Die WHO empfiehlt daher, für asiatische Bevölkerungsgruppen niedrigere BMI-Grenzwerte für Übergewicht und Fettleibigkeit anzusetzen, was mittlerweile in mehreren Ländern des asiatisch-pazifischen Raums umgesetzt wird.

BMI sorgt für rassistische Ausgrenzung

Die Mängel des BMI haben auch die AMA dazu gebracht, eine Richtlinie zu verabschieden, die den klinischen Einsatz des BMI herabstuft und ihn als »unzureichendes Maß« bezeichnet, das für »rassistische Ausgrenzung« genutzt wurde und »historischen Schaden« angerichtet habe. Die im Juli 2023 veröffentlichte Richtlinie empfiehlt daher, den BMI stets in Kombination mit anderen Maßen wie dem Taillenumfang oder der Körperzusammensetzung zu verwenden.

Experten raten auch dazu, den BMI lediglich als Screening-Werkzeug zu nutzen statt als diagnostisches Instrument. So sollen Personen identifiziert werden, die von weiteren Untersuchungen profitieren könnten. »Der BMI gibt mir eine Vorstellung davon, ob jemand fettleibig ist«, sagt Stanford. »Aber dann muss ich noch herausfinden, wie es um seine Gesundheit bei diesem spezifischen Gewicht bestellt ist.« Kliniker könnten zum Beispiel Faktoren wie Cholesterin, Blutzucker und sogar Familiengeschichte und Genetik berücksichtigen, die eine große Rolle bei Fettleibigkeit und verwandten Erkrankungen spielen.

Stanford und andere, die den BMI schon länger kritisch sehen, befürchten jedoch, dass Gesundheitsfachkräfte nicht genügend Zeit für eine solche Zusatzdiagnostik haben. Bei Routineuntersuchungen »haben sie 15 Minuten, um sich alles zu einer Person anzuschauen«, sagt sie. Darüber hinaus empfehlen die US-Zentren zur Überwachung und Prävention von Krankheiten im Allgemeinen, dass gesunde Erwachsene nur alle paar Jahre Cholesterintests durchführen lassen.

Besonders problematisch ist dies angesichts der stark steigenden Nachfrage nach den neuen Adipositasmedikamenten. In den USA kann einem Patienten etwa Semaglutid zur Gewichtsreduktion verschrieben werden, wenn sein BMI bei 30 oder höher liegt, er also adipös ist. Liegt der BMI zwischen 25 und 30, das heißt im Bereich des Übergewichts, reicht bereits eine einzige gewichtsbezogene Erkrankung wie Bluthochdruck für ein Rezept aus. »Wenn Sie nur 15 Minuten für einen Termin haben«, sagt Stanford, »orientieren Sie sich am BMI, statt sich die Zeit zu nehmen und zu prüfen, ob die Person das Medikament wirklich braucht.« Lopez-Jimenez erlebt es zudem häufig, dass Patienten derartige Abnehmmedikamente aus ästhetischen statt aus medizinischen Gründen fordern.

Über den BMI hinaus

Im Lauf der Jahre gab es mehrere Initiativen, um Fettleibigkeit jenseits des BMI zu definieren. Stanford ist selbst Teil einer Kommission von etwa 60 Adipositas-Experten aus aller Welt, die von der Zeitschrift »Lancet Diabetes & Endocrinology« und dem Institute of Diabetes, Endocrinology and Obesity am King’s Health Partners in London ins Leben gerufen wurde. Die Gruppe untersucht laut Stanford jedes wichtige Organsystem, um zu verstehen, wie das Gewicht die Gesundheit beeinflusst. So wollen die Fachleute diagnostische Kriterien entwickeln. Der erste umfassende Bericht der Initiative ist für 2024 geplant.

»Der BMI sagt mir, wie dick Sie sind. Er sagt mir aber nicht, wie krank Sie sind«Arya Sharma, Adipositas-Experte

Das derzeit am weitesten verbreitete Konzept für ein neues Maß der Gesundheit entstand an einer überlasteten Adipositas-Klinik. Rund 2000 Menschen standen Mitte der 2000er Jahre auf der Warteliste der Klinik am Royal Alexandra Hospital in Edmonton (Kanada). Die durchschnittliche Wartezeit betrug fast 18 Monate, und die Klinik arbeitete nach dem Prinzip »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Arya Sharma, der damalige ärztliche Leiter, zweifelte daran, dass der BMI ein guter Indikator dafür ist, wen man für eine Behandlung priorisieren sollte. »Der BMI sagt mir, wie dick Sie sind«, sagt Sharma, der heute in Berlin arbeitet. »Er sagt mir aber nicht, wie krank Sie sind.«

Deshalb entwickelte Sharma ein fünfstufiges System, das neben dem BMI auch die körperliche, geistige und funktionale Gesundheit berücksichtigt: das so genannte Edmonton Obesity Staging System (EOSS), das 2009 veröffentlicht wurde. Eine Person mit mehreren gewichtsbezogenen Erkrankungen wie Bewegungseinschränkungen, Herzerkrankungen und mit Adipositas verbundenen Angstzuständen wird auf dieser Skala höher eingestuft als jemand mit gleichem BMI, aber weniger oder nicht so schwer wiegenden Gesundheitsproblemen.

Das EOSS wurde in die kanadische klinische Leitlinie für Fettleibigkeit bei Erwachsenen von 2020 aufgenommen, und Ende 2022 wurden Versionen davon in Chile und Irland eingeführt. »Es ist Chiles erste umfassende Leitlinie zur Behandlung von Fettleibigkeit«, sagt Yudith Preiss Contreras, klinische Ernährungsspezialistin an der MEDS-Klinik in Santiago und Hauptautorin des EOSS. »Jeder verwendet unsere Leitlinie«, sagt sie. Man sehe die Idee, sich vom BMI zu entfernen, langsam in die Leitlinien sickern, sagt Stanford. »Doch die Übersetzung in die klinische Praxis wird noch eine große Hürde sein.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.