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Klimawandel: Wenn der Winter aus dem Takt gerät

Die Rekordwärme zum Jahresbeginn zeigt: Der Winter ist nicht mehr, was er mal war. Doch Tiere und Pflanzen sind an die kalte Jahreszeit angepasst. Nun kommen ganze Ökosysteme durcheinander.
Im Vordergrund einen sonnenbeschienene, verschlammte Straße, im Hintergrund winterlich-kahle Büsche und Bäume.
Der milde Winter bringt die Natur aus dem Takt und erschwert Landwirten die Arbeit.

Abgerechnet wird am Schluss, aber die Tendenz war schnell klar: Der Winter 2022/23 würde voraussichtlich erneut deutlich zu mild abschneiden, nur ein historisch kalter Februar hätte die Winterbilanz noch ins Negative drehen können. Doch die grimmige Kälte, die dafür nötig gewesen wäre, kam nicht, sondern es blieb für die Jahreszeit zu mild. Damit erlebte das Land den zwölften zu warmen Winter in Folge, allmählich verabschiedet sich der Winter aus unseren Breitengraden. Und damit verschwinden auch Eis und Schnee – die kalte Jahreszeit verliert ihren Schrecken.

Für Wärmeliebhaber und den Füllstand der Gasspeicher ist das eine gute Nachricht, Kältefans hingegen erleben harte Zeiten. Und die Natur steht vor einschneidenden Veränderungen. Das gilt besonders für kälteadaptierte Tiere und Pflanzen, denn die Erwärmung der vergangenen Jahrzehnte war erst der Anfang. Zum Ende des Jahrhunderts rechnen die Klimaforscher mit noch wärmeren Wintern, Dauerfrost und Schnee werden immer mehr zur Ausnahme. Biologen und Ökologen befürchten jedenfalls das Schlimmste. Mancher Kältespezialist dürfte den Erwärmungstrend auf lange Sicht zumindest hier zu Lande nicht überleben, sagen sie, der Anpassungsdruck überfordert sie. Zudem bringt der Klimawandel den eingespielten Rhythmus der Natur zunehmend durcheinander.

Akut bedroht sind vor allem die Kältespezialisten des Hochgebirges. Der Alpenschneehase beispielsweise färbt sein Fell im Winter weiß und tarnt sich damit auf den Schneeflächen. Bleiben weite Teile der Alpen allerdings lange braun, wie im Winter 2022/23, wird der Hase leichte Beute für Fuchs und Habicht. Dieser Gefahr ist auch das Schneehuhn ausgesetzt, das sein Federkleid im Herbst von braun auf weiß verändert. Bei der Deutschen Wildtierstiftung ist man jedenfalls eher pessimistisch, was die Zukunft der Hühnerart betrifft. Denn der Klimawandel verschärft das Problem zunehmend, außerdem sind Populationsdichte und Anzahl an Nachkommen gering, sagt Klaus Hackländer, der Vorsitzende der Wildtierstiftung in einer Pressemeldung.

Alpenschneehuhn | Das Alpenschneehuhn verfärbt sich mit den Jahreszeiten. Bleibt der winterliche Schnee aus, wird das dann weiße Huhn leichter zur Beute von Fressfeinden.

Die Welt kommt aus dem Rhythmus

So schlimm ist die Lage beim Schneesperling, der von etwa 1900 Meter über dem Meer bis fast in die höchsten Gebirgsstufen vorkommt, glücklicherweise noch nicht. Trotzdem verzeichnen die Ornithologen ebenfalls abnehmende Bestände. In der Schweiz sind sie seit 1990 um 20 bis 30 Prozent eingebrochen, teilt die Vogelwarte Sempach mit. Der große Bruder des Haussperlings kommt mit den starken Umweltveränderungen nur schwer zurecht.

Den Hauptgrund hierfür sehen die Forscher darin, dass das zeitliche Zusammenspiel zwischen Schlupfzeit der Schneesperlinge und der Schneeschmelze gestört ist, da es durch den Klimawandel immer früher taut. Dadurch gerät das eingespielte Gleichgewicht des Ökosystems durcheinander. Denn normalerweise schlüpfen die Sperlingsjungen immer um die Zeit, wenn die Schneeschmelze einsetzt. An den Rändern der Schneefelder finden die erwachsenen Tiere, die sich von Körnern ernähren, dann jene Insekten und deren Larven, die sie an den Nachwuchs verfüttern. Doch da die Tiere die Schlupfzeit nicht an die mittlerweile verfrühte Schmelze angepasst haben, bringt ein zeitigeres Frühjahr den Bruterfolg der Schneesperlinge immer mehr in Gefahr. Das Timing zwischen Fortpflanzungszeit und dem maximalen Nahrungsangebot passt einfach nicht mehr.

Doch genau auf das Timing kommt es an, wenn Fortpflanzung und Wachstum einer Art erfolgreich sein sollen. Pflanzen und Tiere orientieren sich an typischen Taktgebern wie der Temperatur, um in das nächste Stadium des Jahreszyklus eintreten zu können. Werden sie durch Umweltänderungen daran gehindert, sprechen Ökologen vom »ecological mismatch«. Der englische Meeresbiologe David Cushing beschrieb das Phänomen bereits im Jahr 1969, aber erst durch den Klimawandel erhält es eine größere Brisanz. Denn das über Jahrhunderte präzise abgestimmte Zusammenspiel zwischen Klima und Entwicklung gerät bei immer mehr Arten aus dem Takt. Das Gleichgewicht des Ökosystems wird gestört.

Den Frühstart vieler Arten belegen die zahlreichen phänologischen Beobachtungen, Pflanzen und Tiere reagieren in ihren jährlichen Entwicklungszyklen stark auf die Temperatur. Seit den 1970er Jahren beobachten Biologen einen deutlichen Verfrühungstrend in Europa, Blüte und Blattentfaltung haben sich seither – je nach Art – ein bis vier Tage pro Jahrzehnt nach vorne verschoben. Dadurch legen bestimmte Zeigerpflanzen wie die Forsythie, die mit ihrer Blüte den Erstfrühling markiert, immer früher los, im Schnitt rund zehn Tage eher als vor 30 Jahren.

Haselblüte im Januar

Da auch der Herbst immer später einsetzt, hat sich der phänologische Winter, der sich an diesen Zeigerpflanzen orientiert, von ehemals 120 Tagen auf 102 Tage verkürzt, hat der Deutsche Wetterdienst herausgefunden. Denn mittlerweile hält im Mittel schon Mitte Februar mit der Haselblüte der Vorfrühling Einzug, rund zwei Wochen eher als früher. 2023 wurden die ersten Haselblüten sogar schon während der historischen Wärmewelle Anfang Januar beobachtet.

Diese kontinuierliche Verfrühung hat Folgen: Solche als asynchronisierte phänologische Phasen bezeichneten Verschiebungen beobachten Biologen bei zahlreichen Vogelarten. Besonders betroffen sind Zugvögel, die weite Strecken zurücklegen. Sie kommen dadurch zum falschen Zeitpunkt im Bruthabitat an – der Bruterfolg sinkt. Ein Beispiel hierfür ist der Trauerschnäpper, der in Westafrika überwintert und spätestens Anfang Mai die 5000 Kilometer nach Deutschland zurückfliegt. Er frisst hauptsächlich fliegende Insekten, für die Jungen benötigt er Raupen. Doch wenn er aus seinem Winterrevier zurückkehrt, haben sich die Raupen meist schon verpuppt, außerdem gerät er in Konflikt mit Kohlmeisen. Dadurch sinkt der Bruterfolg des Trauerschnäppers, der Nachwuchs macht sich im nächsten Herbst geschwächt auf den Weg nach Afrika, viele kommen nicht mehr zurück. In manchen Regionen Europas ist sein Bestand dadurch bereits um 90 Prozent gesunken.

Ähnliche Probleme beobachten Ornithologen bei vielen Vögeln, die über lange Strecken nach Süden ziehen, wie etwa dem Goldregenpfeifer oder der Nachtigall. Da ihr Zugverhalten stärker genetisch verankert ist, können sie auf das zeitigere Frühjahr infolge des Klimawandels nur träge reagieren. Jedenfalls verzeichnen die Ornithologen bei vielen dieser Langstreckenzieher einen deutlichen Schwund. Kurzstreckenzieher hingegen reagieren schneller auf milde Winter, klassische Zugvögel wie Kiebitz und Star bleiben mittlerweile öfter das ganze Jahr über hier.

Später Frost wird zum Problem

Prinzipiell weniger anfällig für milde Winter sind viele Säugetiere, die Winterschlaf halten. Sie reagieren vor allem auf Tageslängen, was über die innere Uhr gesteuert wird, allerdings steigt ihre Aktivität bei längeren milden Wetterphasen. Wird der Winterschlaf jedoch gestört, verbrauchen die Tiere wichtige Energiereserven. Igel beispielsweise sind auf solche Reserven angewiesen, um im Frühjahr aus dem Winterschlaf zu erwachen und gestärkt in das Sommerhalbjahr starten zu können. Dazu verbrennen sie das braune Fettgewebe, um ihre Körpertemperatur schnell steigen zu lassen. Und auch bei Amphibien ist die Lufttemperatur allein nicht ausschlaggebend für den Beginn ihrer Frühjahrswanderung. Ihr Verhalten wird ebenfalls großteils von der Tageslänge bestimmt, außerdem reagieren sie außer auf die Temperatur auch auf eine gewisse Luftfeuchte, bevor sie sich aus ihren Verstecken wagen.

Richtig gefährlich für die Tiere wird dann ein Phänomen, das in einem wärmeren Klima immer mehr zum Problem wird: Spätfröste. Für Amphibien und Säugetiere sind späte Fröste lebensgefährlich, weil sie sich nicht einfach wieder in ihre Winterquartiere begeben können. Doch auch der Landwirtschaft drohen mit dem Klimawandel häufigere Blütenmassaker, wie Berliner Forscher für die Apfelblüte in einer Studie nachgewiesen haben. Je früher die Bäume austreiben, desto anfälliger werden sie.

Und der Zeitpunkt der Blütenentwicklung von Obstbäumen hat sich in Deutschland deutlich verfrüht. Allerdings seien die Zusammenhänge bei den Nutzpflanzen deutlich komplexer, als sie erscheinen, sagt die Agrarmeteorologin Bianca Plückhahn vom Deutschen Wetterdienst in Offenbach. Denn Gehölze benötigen nicht nur warme Temperaturen, um zeitig auszuschlagen, sondern auch einen bestimmten Kältereiz in Form von Frost. Grundsätzlich wirkten sich milde Winter negativ auf Blüte und Fruchtbesatz aus, sagt die Expertin, doch dieser Trend müsse nicht so bleiben. Auch die Züchtung habe in Zukunft ein Wörtchen mitzureden, sagt sie. Der Anpassungsdruck jedenfalls wächst.

Warme Winter schaden auch der Landwirtschaft

Eine ähnliche Bilanz lässt sich ebenfalls beim Getreide ziehen, wärmere Temperaturen beschleunigen die Entwicklung der Pflanzen und reduzieren den Ertrag. Wobei Bianca Plückhahn anmerkt, dass es beim Getreide ebenso auf den Termin der Aussaat ankomme. Die ersten Landwirte in den warmen Gegenden des Landes sind schon dazu übergegangen, die Sommergerste im Herbst oder Winter auszusäen, der Wintergerste macht der Klimawandel immer mehr zu schaffen. »Es lohnt sich, die klassische Anbauweise zu überdenken«, sagt Plückhahn.

Für den Boden haben wärmere Wintertemperaturen ebenfalls Folgen. Ohne Kaltlufteinbrüche gefriert er immer seltener, die so genannte Frostgare, bei der gefrierendes Wasser die Krume auseinanderdrückt, bleibt aus. Dadurch wird der Boden seltener gelockert und belüftet. Erschwerend hinzu kommt in weiten Teilen Deutschlands, dass das Frühjahr immer trockener wird. Gerade dieser Trend ist fatal: Denn in der Wachstumsphase benötigen die Kulturpflanzen vor allem Wasser und die darin gelösten Nährstoffe. Fallen die Böden aber immer öfter trocken, wirkt sich das nicht nur negativ auf die Erträge aus, sondern auf alle Lebewesen im Boden sowie auf die Bodenstruktur – trockene Böden sind anfälliger für Erosion. Außerdem profitieren auch solche Pflanzen und Tiere von der zunehmenden Erwärmung, die auf dem Feld nicht gerne gesehen werden, darunter Unkräuter oder gar Schadinsekten wie Maiszünsler und Kartoffelkäfer.

Am Ende macht ein warmer Winter nicht einfach nur mehr Arbeit, er hindert die Bauern daran. Denn mit den höheren Temperaturen erwarten die Klimaforscher mehr Regen: Die Böden vernässen im Winter öfter. Damit der Boden dann nicht verschlämmt oder sich verdichtet, fährt man besser nicht mit dem Traktor auf den Acker. Einfacher wird die Feldarbeit mit dem Klimawandel sicher nicht.

(Anm. der Red.: Der Artikel wurde am 19. Januar 2024 aktualisiert.)

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