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Nachruf auf Stephen Hawking: Die unglaubliche Geschichte

Aus einem todkranken Studenten wurde der berühmteste Physiker unserer Zeit. Stephen Hawkings Leben beweist, dass sich der Kosmos nicht um Wahrscheinlichkeiten schert.
Stephen Hawking

Das Universum ist ein gnadenloser Ort, und wohl nur wenige Menschen wussten das besser als Stephen Hawking. Mit 21 Jahren diagnostizierten Ärzte bei dem jungen Physikstudenten die unheilbare Nervenkrankheit ALS. Meist führt sie binnen weniger Jahre zum Tod, aber Hawking hatte eine Variante der Krankheit, die nur langsam voranschreitet, und sollte nach der Diagnose noch mehr als 55 Jahre weiterleben. Dabei verlor der Brite nach und nach die Kontrolle über seinen Körper, bis er am Ende nur noch einen Wangenmuskel bewegen konnte. "Man muss einfach akzeptieren, dass das Leben unfair ist", sagte er dazu.

Dass aus dem schlaksigen Brillenträger mit dem trockenen Humor der berühmteste Wissenschaftler unserer Zeit werden würde? Im Jahr der Diagnose hätte das wohl niemand für möglich gehalten. Aber Stephen Hawking, der an diesem Mittwoch im Alter von 76 Jahren gestorben ist, wird nicht nur als einer der wichtigsten Gravitationstheoretiker seiner Generation in die Geschichtsbücher eingehen. Er wird als Titan in Erinnerung bleiben, der die Wissenschaft der Kosmologie einem Massenpublikum eröffnet hat. Mit ihm stirbt auch ein Mensch, der wie kaum ein anderer Mut machte: Schaut her, was alles möglich ist, schien er mit jedem seiner Auftritte zu sagen.

Zwischen Mensch und Mythos

Dabei war Hawkings Wirken nicht frei von Mythen. Seine Popularität erreichte jene Sphären, in denen sich das öffentliche Bild leicht ein Stück von der Wirklichkeit entfernt. So würden vermutlich die wenigsten Physiker der Aussage zustimmen, dass Hawking zu den "größten Wissenschaftlern aller Zeiten" gehörte, wie immer wieder zu lesen ist. Ohne seinen populärwissenschaftlichen Erfolg würde man ihn vielleicht eher auf einer Stufe mit Roger Penrose und anderen erfolgreichen Gravitationsforschern aus den 1970er Jahren sehen – was gewiss nicht wenig ist.

Vom Todgeweihten zum Ausnahmephysiker: Letztlich ist es diese extrem unwahrscheinliche Lebensgeschichte, die Hawking so berühmt gemacht hat. Dabei begann sein Studium eigentlich wie das von tausenden anderen Studenten in den grauen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts: In den ersten Semestern an der University of Oxford hatte Hawking eigentlich keine Lust auf Lernen. Statt Physikbücher zu wälzen, las der junge Mann lieber Sciencefiction-Romane und ging auf Anti-Atombomben-Demonstrationen. Pro Tag habe er bloß eine Stunde gelernt, sagte Hawking später. "Darauf bin ich nicht stolz."

Die ALS-Diagnose im Winter 1963 änderte das schlagartig. So stellt es zumindest Hawkings Biografin Kitty Ferguson in ihrer viel beachteten Biografie dar: "Wenn man mit seinem baldigen Tod konfrontiert wird, realisiert man erst, wie wertvoll das Leben ist – und was man noch alles tun möchte", sagt Hawking darin. In seinem Fall bedeutete dies, zunächst die junge Frau zu heiraten, in die er sich verliebt hatte, die Literaturstudentin Jane Wilde. Zuvor wollte er jedoch noch seine Doktorarbeit schreiben und einen Job finden, so wie sich das damals gehörte.

Glanzstunde der Gravitationstheorie

Wie es der Zufall wollte, hatte sich Hawking in seinem Studium auf ein Gebiet spezialisiert, das zu den spannendsten der Physik seiner Zeit zählte: die Anwendung von Albert Einsteins Relativitätstheorie auf das gesamte Universum. In den 1960er Jahren war das ein kontrovers diskutiertes Feld, dem jedoch gewaltige Fortschritte bevorstanden. Fortschritte, an denen Hawking mitwirken sollte – und die das Fundament für seinen späteren Aufstieg legten.

Supermassereiches Schwarzes Loch | Diese künstlerische Darstellung zeigt ein schnell rotierendes supermassereiches Schwarzes Loch, das von einer Akkretionsscheibe umgeben wird. Diese dünne Scheibe aus rotierender Materie besteht aus den Überresten eines sonnenähnlichen Sterns, der durch die Gezeitenkräfte des Schwarzen Lochs auseinandergerissen wurde.

Hawkings Entscheidung für eine Laufbahn in der theoretischen Physik hatte wohl auch pragmatische Gründe: Der Gedankenarbeit in der abstrakten Wissenschaft konnte man trotz der Einschränkungen durch die Krankheit ALS nachgehen. Hinzu kam, dass Hawking seit jeher von den großen Fragen fasziniert war. Schon als Kind hatte er mit seinen Eltern und Geschwistern immer wieder über die Existenz Gottes diskutiert. Solchen und anderen Grenzfragen konnte er sich nun aus der Perspektive des skeptischen Naturwissenschaftlers nähern, was er auch immer wieder tun sollte.

Physik als Überlebensstrategie

Letztlich machte Hawking die theoretische Physik zum Teil seiner Überlebensstrategie. "Wenn man versteht, wie das Universum funktioniert, kontrolliert man es auf gewisse Art und Weise", schrieb er in einem seiner Bücher. Bereits als Junge hatte er in der Werkstatt einer befreundeten Familie leidenschaftlich gerne kleine Flugzeuge gebastelt und war darin aufgegangen, mit wenigen Handgriffen deren Flugeigenschaften zu verändern. Nun also sollte die theoretische Physik seine Spielwiese werden.

Zu Hawkings Glück war dies ein Gebiet, auf dem er eine außergewöhnliche Begabung mitbrachte. Später kokettierte er gerne damit, dass er es ja im Grunde leichter hatte als viele seiner Kollegen: Diese mussten ihre Tage für Gremiensitzungen oder Vorlesungen opfern. Hawking, der 1979 Professor an der University of Cambridge wurde, war von diesen Verpflichtungen größtenteils entbunden. Auch zwang ihn seine schwindende Sprechfähigkeit dazu, Dinge so kurz und prägnant wie möglich zu formulieren.

Singularitäten und Schwarze Löcher

Bereits mit seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 1966, in der er Überlegungen zum expandierenden Universum anstellte, gelang Hawking ein Achtungserfolg. Kurz darauf folgte der wissenschaftliche Durchbruch. Gemeinsam mit seinem Kollegen Roger Penrose zeigte Hawking, dass alle Lösungen der einsteinschen Feldgleichungen eine Singularität enthalten. Also einen Punkt im Raum, an dem die Materie so eng zusammengeballt ist, dass die Gleichungen von Einsteins Theorie unendliche Werte liefern.

Die Physiker erkannten, dass dies nicht nur für sehr schwere Sterne gilt, die am Ende ihres Lebens zu einem Schwarzen Loch kollabieren. Hawking übertrug den Gedanken letztlich auf das gesamte Universum. Auch an dessen Anfang könnte eine Singularität gestanden haben, spekulierte er damals und half so der noch jungen Urknalltheorie zum Durchbruch.

Seine wichtigste Arbeit stammt indes aus dem Jahr 1974. Darin wandte er die Regeln der Quantenphysik auf Schwarze Löcher an – und erkannte, dass diese mit der Zeit Masse verlieren müssten. Denn am Rand der Objekte müssten ständig "virtuelle" Elektron-Positron-Paare entstehen, von denen jeweils ein Teilchen über den Rand des Schwarzen Lochs hüpfen würde.

Hawkings Strahlung

Bis heute hat niemand die nach Hawking benannte Strahlung beobachtet. Die Vorhersage markierte dennoch einen Wendepunkt in der Physik Schwarzer Löcher. Denn sie brach mit dem Dogma, dass die Massemonster ewige Gebilde sind, die bis ans Ende aller Zeit bestehen. Laut Hawking müssten die Giganten im Lauf der Äonen verdampfen.

Bis zur Vorhersage der Hawking-Strahlung waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass Informationen im Universum stets erhalten bleiben, eine Grundannahme der Quantenphysik. Unter Informationen verstehen Physiker dabei etwas anderes als Informatiker. Für Physiker fällt unter den Begriff beispielsweise die bisherige Bahn eines Atoms im Universum. Diese müsste sich rein theoretisch, wenn man sämtliche Naturgesetze kennt und genug Rechenpower hat, bis zum Anfang aller Zeit rekonstruieren lassen.

Aber was, wenn ein Teilchen in ein Schwarzes Loch stürzt? Die Massehaufen verschlucken Materie und zerstückeln sie vermutlich bis zur Unkenntlichkeit. Damit ist die Information über die Vergangenheit der Teilchen nicht mehr abrufbar, aber immer noch im Universum vorhanden. So sah man es jedenfalls vor Hawkings Arbeiten.

Hawkings Erbe ist ein Paradox

Wenn Schwarze Löcher jedoch im Lauf der Zeit Strahlung abgeben, die nichts mit dem Inneren der Massemonster zu tun hat, geht die Information verloren. Das war zumindest die Befürchtung vieler Physiker, nachdem Hawking seine Theorie präsentiert hatte. Tatsächlich ist das "Informationsparadox" bis heute eine der offenen Fragen der Kosmologie, auch wenn Forscher mittlerweile eine Reihe von Lösungsansätzen diskutieren.

Stephen Hawking am CERN | Dieses Bild entstand im Tunnel des Large Hadron Collider (LHC), als Stephen Hawking im September 2006 das CERN in Genf besuchte.

Hawking mischte bis zuletzt bei diesen Diskussionen mit. Sein letzter Fachaufsatz zur Entwicklung des Universums, den er gemeinsam mit dem Niederländer Thomas Hertog schrieb, erschien im Juli 2017. Noch vorletzte Woche stellte das Duo eine veränderte Version online.

Vom Physiker zum Sachbuchautor

Mancher Fachkollege blickte in den vergangenen Jahren allerdings eher skeptisch auf Hawkings Arbeiten. Sie konnten auch nicht mehr an die Erfolge aus den 1970er Jahren anknüpfen, trotzdem wurden sie oft in den Medien aufgegriffen. Hawking kam der Trubel vermutlich gelegen, schließlich hatte er in den 1980er Jahren eine zweite Karriere gestartet: die des populärwissenschaftlichen Sachbuchautors, der Laien in die großen Rätsel des Universums einführt. Sein 1988 erschienenes Buch "Eine kurze Geschichte der Zeit" wurde zum Bestseller – und eröffnete Hawkings Forschungsgebiet einem Millionenpublikum.

Dabei hatte sich Hawking sehr schwergetan, seine Forschung für Laien verständlich zu machen: Als er Mitte der 1980er Jahre das Manuskript des Buchs schrieb, ließ ihm sein Herausgeber zunächst Kapitel um Kapitel zurückschicken, weil Hawkings Ausführungen kaum nachvollziehbar waren. Erst nach langem Hin und Her konnte das Werk letztlich erscheinen – und genießt heute den Ruf eines Buchs, das zwar in Millionen Regalen steht, aber nur von wenigen Besitzern zu Ende gelesen wurde.

Vom Physiker zum Popstar

Ungeachtet dessen stieg Hawkings Bekanntheit in den 1990er Jahren weiter an. Er wurde mit Orden geehrt, hielt Festvorträge, eröffnete Wissenschaftsfestivals, schmiss große Geburtstagspartys, traf US-Präsidenten und den Papst, erschien in "Star Trek", den "Simpsons" und der Fernseh-Sitcom "Big Bang Theory". Bis kurz vor seinem Tod meldete er sich auch regelmäßig zu Wort, etwa wenn es um die Gefahren durch künstliche Intelligenz oder den Kontakt mit Außerirdischen ging. Auch warb er in den letzten Jahren dafür, eine Flotte winziger Sonden nach Alpha Centauri zu schießen.

Dabei hatte sich seine Gesundheit im Lauf der Jahre zusehends verschlechtert: Seit den 1970er Jahren saß Hawking im Rollstuhl, seit 1986 konnte er nur noch mit Hilfe eines Sprachsynthesizers sprechen. Nachdem seine erste Ehe mit Jane Wilde in die Brüche gegangen war, heiratete er 1995 seine einstige Pflegerin Elaine Mason, ließ sich von ihr jedoch elf Jahre später wieder scheiden. Wiederholt machten Geschichten Schlagzeilen, denen zufolge Hawking im Persönlichen auch eine schwierige Seite hatte. Wissenschaftliche Weggefährten erinnern sich hingegen vor allem an seinen Witz, seine Nahbarkeit und seine unkonventionelle Denk- und Arbeitsweise.

Hawking war sicherlich nicht der einzige Mensch, der im Angesicht eines großen persönlichen Dramas eine positive Einstellung behalten hat. Das Besondere an ihm war wohl, dass er großen Erfolg hatte, auch dank seiner ungewöhnlichen Geschichte. Und dass er seine Zeit und Popularität dafür nutzte, enorme Aufmerksamkeit auf die großen Fragen der Physik zu lenken. So wurde er zu einer Inspiration für viele Menschen – und zu einer Erinnerung daran, dass man einem gnadenlosen Universum vielleicht am besten mit Humor begegnet.

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