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»Migration«: Fakten statt Mythen zum Thema Migration

Hein de Haas hinterfragt beliebte Mythen zum Thema Migration. Auch wenn nicht jede seiner Interpretationen überzeugt: Die Zahlen und Fakten, die er präsentiert, machen sein Buch dennoch zu einer sehr lohnenswerten Lektüre.
Migrant in Serbien

Was interessieren mich Fakten, wenn ich eine Meinung habe? Nun, im Kontext der Migration antworten darauf wohl viele Menschen mit »gar nicht« – zumindest ist das der Eindruck, den der Migrationsexperte Hein de Haas in der Einleitung zu seinem neuen Buch schildert. »Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt« heißt es, und Haas klingt, als habe er es aus Frust geschrieben: »Die Forschungsliteratur zur Migration füllt Regale, doch kaum etwas davon ist in die öffentliche Debatte, die Vorschläge von Politikern oder die Arbeit von internationalen Organisationen durchgedrungen – ein Grund, warum politische Maßnahmen so oft wirkungslos bleiben oder gar nach hinten losgehen.«

Der niederländische Professor für Migration und Entwicklung kritisiert, dass viele Menschen die Ansicht verträten, man könne nur für oder gegen Migration sein: »Unsere Pro-und-Kontra-Debatten lassen keine echte Auseinandersetzung mit dem Thema zu und bieten keinen Raum für Zwischentöne und Differenzierungen.« Dabei – das zeigt der Autor mit einem kurzen Blick in die Geschichte – sei es so »sinnvoll«, für oder gegen Migration zu sein wie für oder gegen das Wetter: Sie gehöre schon immer zum Leben der Menschheit.

In drei Abschnitten knöpft sich de Haas das Thema vor, beleuchtet es mit dem Blick auf Fakten, mit Zwischentönen und Differenzierungen. Bei den Mythen der Migration ordnet der Autor zum Beispiel ihre Dimension ein. So stimmt es, dass die absolute Zahl der Migranten weltweit zunimmt – gemessen an der Weltbevölkerung seien es aber weiterhin ungefähr nur drei Prozent aller Menschen, die ihre Heimat verlassen, bezogen auf den Zeitraum von 1960 bis heute. Was sich geändert hat, ist, dass es noch vor nicht allzu langer Zeit die Europäer waren, die ihr Glück in anderen Teilen der Welt gesucht haben. »Allein zwischen 1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent«, ruft de Haas in Erinnerung. Zwischen 1869 und 1940 sei die Hälfte der italienischen Bevölkerung nach Nordeuropa und Amerika ausgewandert. Das rückt die Zahl der Menschen, die heute nach Deutschland kommen, in ein anderes Licht.

Wertvolle Fakten

Der Autor liefert noch weitere, gut referenzierte Fakten, die man gehört haben sollte. So verlässt tatsächlich nur ein Fünftel aller Migranten die Heimat. Rund eine Milliarde Menschen sind Binnenmigranten. Lediglich 3,5 Prozent der Zuwanderer kommen illegal nach Europa. Kritik richtet der Forscher auch an die Medien. Es würde kaum darüber berichtet, dass beispielsweise 90 Prozent der Migranten, die den afrikanischen Kontinent verlassen, mit gültigen Einreisepapieren und durch Grenzkontrollen zu uns gelangten. Oder dass die Migration nach einem ereignisbedingten Anstieg – etwa Kriegen oder Katastrophen – stets ebenso steil wieder abfalle. »Da wir nur von Anstiegen erfahren, nicht aber von Rückgängen, gewinnen wir den falschen Eindruck, dass die illegalen Grenzübertritte eskalieren.«

Selten bleibt de Haas die genaue Quellenangabe schuldig, etwa, wenn er schreibt: »Untersuchungen zeigen, dass legale und illegale Zuwanderung sehr viel ›erwünschter‹ ist, als die politischen Parolen vom ›Kampf gegen die illegale Migration‹ und der ›Bekämpfung des Menschenschmuggels‹ vermuten lassen.« Zumindest indirekt belegt der Autor diese Aussage dann doch, indem er darlegt, wie Staaten um Migranten werben, um die Bedarfe auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt zu decken. Denn darum dreht sich die Migration im Wesentlichen. Geflüchtete hingegen machen seit Jahrzehnten lediglich sieben bis zwölf Prozent der internationalen Migration aus und bleiben zu 80 Prozent in ihren Nachbarländern.

Ähnlich gründlich räumt de Haas mit der Frage auf, ob Migranten Arbeit wegnehmen, Löhne drücken oder den Sozialstaat gefährden. Genauso prüft er gegenteilige Ansichten, etwa, dass Zuwanderung das Allheilmittel für die Wirtschaft sei oder Zuwanderung das Demographieproblem löse. Der Forscher beleuchtet die Rolle von Menschenschmuggel und Menschenhandel und nicht zuletzt die Prognose, dass die Klimakrise eine nie gekannte Völkerwanderung entfesseln werde. Bei Letzterem wird einer der wenigen Schwachpunkte des Buches deutlich: De Haas arbeitet zwar mit belastbaren Fakten, doch nicht jede seiner Interpretationen und Schlussfolgerungen ist zwingend. Beim Klimawandel etwa scheint er zu unterschätzen, wie lebensfeindlich die Bedingungen in manchen Teilen der Erde werden könnten.

»Migration« ist von einem Forscher geschrieben. Das merkt man beim Lesen recht deutlich am trockenen Stil. Doch allein die vielen Fakten und Einordnungen sind enorm interessant und machen das Buch zu einer fesselnden Lektüre. Und – da hat der Autor sicherlich recht – sie wären in der Migrationsdebatte sehr hilfreich. Es stimmt außerdem, dass de Haas Mythen von Rechts wie von Links widerlegt. Doch in Summe sind es, so sein Befund, weit häufiger die »Migrationsgegner«, die sich fernab der wissenschaftlichen Fakten bewegen.

Wen der Umfang von fast 450 Seiten abschreckt, der kann gezielt einzelne der 22 Mythen, die das Buch thematisiert, auswählen. Es sei aber gewarnt: Die Neugier könnte dann doch dazu verleiten, am Ende alle Kapitel des Buchs lesen zu wollen.

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