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Im Reich der Sultane

Mehr als ein halbes Jahrtausend lang bestand das osmanische Reich, doch am Ende war es der »kranke Mann am Bosporus«.

Das osmanische Reich, das dem jetzigen türkischen Staatspräsidenten als historische Folie für seine neo-osmanische Politik dient, hat eine wechselvolle Geschichte. Mehr als ein halbes Jahrtausend lang geboten osmanische Sultane über ein Imperium, das sich zu seinen Glanzzeiten von Ungarn bis Nubien, von Nordwestafrika bis nach Persien erstreckte. Doch mit der gescheiterten Belagerung Wiens 1683 setzte ein langsamer Verfall der osmanischen Macht ein, weil immer mehr Einflussgebiete an die Habsburger beziehungsweise das Zarenreich verloren gingen und somit die dynastische Autorität zunehmend bröckelte.

Beginnend mit der Gründung durch den anatolischen Nomadenfürsten Osman, spannt der Historiker Douglas A. Howard (Calvin College in Grand Rapids, Michigan) einen historischen Bogen von den Anfängen des Osmanischen Reichs um 1300 bis zu seinem Ende in den frühen 1920er Jahren. Howard skizziert die Rahmenbedingungen des raschen Aufstiegs, beschreibt stabilisierende Faktoren und analysiert, was den Niedergang dieses »enigmatischen Reiches« herbeiführte.

Effiziente Verwaltung

Neben der politischen Chronologie mit den wichtigsten Ereignissen – Eroberung Konstantinopels (1453), der Kampf gegen Habsburg (1683-1718), Orientkrise (1838-1841), Untergang des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg (1914-1918), laizistischer Neubeginn durch Mustafa Kemal Atatürk (seit 1923/24) – stellt der Autor die verschiedenen Institutionen dieses heterogenen Staatengebildes, Verwaltung und Herrschaftsapparat sowie die Bereiche Wirtschaft, Soziales, Religion und Kultur anschaulich dar. Erfrischend lebendig erzählt er, was das Reich der Sultane zusammenhielt und mit welchen Mitteln die »Hohe Pforte« (ein alter Ausdruck für den Sultanspalast) agierte, um das äußerst heterogene Vielvölkerreich mehr als ein halbes Jahrtausend lang zu regieren. Howards Blick hinter die Kulissen der Macht eröffnet interessante Einblicke in die Welt der Herrscher am Bosporus, die ihre Untertanen mit »Zuckerbrot und Peitsche« bei der Stange hielten.

Einer der Grundpfeiler, auf dem der Osmanenstaat beruhte, war Howard zufolge eine perfekt organisierte und effiziente Verwaltung, die dafür sorgte, dass Erlasse des Sultans auch im hintersten Winkel des Reichs umgesetzt und Steuern und andere Abgaben einzogen wurden. Solange dieses tributäre System funktionierte, zeigte sich die Hohe Pforte den Untertanen gegenüber vergleichsweise tolerant. Was den sozialen Aufstieg im Reich der Sultane betrifft, so war dieser nur durch den Übertritt zum Islam möglich. Meist erfolgte er nicht freiwillig: Viele Konvertiten waren als Opfer der »Knabenlese« (türkisch: devșirme) nach Istanbul verschleppt worden, wo Getaufte in der Palastschule des Sultans zu absoluter Loyalität gegenüber dem Herrscher erzogen und einer – je nach Begabung – militärischen oder administrativen Spezialausbildung unterzogen wurden. Diese periodische Aushebung von Knaben, die bereits seit dem 14. Jahrhundert hauptsächlich unter den christlichen Untertanen der Osmanen auf dem Balkan üblich war, lieferte einen Pool von Hochbegabten, aus dem sich die Verwaltungselite des Sultans sowie die legendäre Elitetruppe der osmanischen Infanterie, der Janitscharen, rekrutierte. Auf diese Weise entstand eine der besten Militär- und Verwaltungseliten Europas.

Erstaunlich »liberal« zeigte sich die Hohe Pforte im Bereich der Gesetzgebung: Sultan Süleyman, im Westen gemeinhin als »der Prächtige«, im Orient indes unter dem Beinamen der »Gesetzgeber« (kânûni) bekannt, ließ als Ergänzung zur Scharia weltliche Gesetze kodifizieren. Sie regelten das Strafrecht, das Steuerrecht und die Organisation der Staatsverwaltung. Diese Gesetze sahen insbesondere in den neueroberten Gebieten auch eine Anerkennung der überkommenen Rechte der Nichtmuslime vor. Ihre Veröffentlichung trug zur großzügigen Vereinheitlichung des Rechtswesens in sämtlichen osmanischen Herrschaftsgebieten bei. Die Existenz und Anwendung solch säkularer Bestimmungen neben der Scharia ist einzigartig in der traditionellen islamischen Welt und eine der großen Leistungen der Osmanen.

Dass Imperien endlich sind und meist von den Rändern her ausfransen, zeigt der Autor sehr anschaulich am Beispiel des Balkans, jenem »Vorhof des Osmanischen Reiches im Westen«, der seit Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend zur militärisch-politischen Spielwiese der europäischen Mächte – vor allem Österreich, Russland und England – wurde. In dieser Region vollzog sich besonders deutlich der langsame Niedergang des Osmanenreichs, dessen Autorität, zerrieben zwischen den Ambitionen europäischer Nationen und dem Freiheitswillen der beherrschten Völker, allmählich schwand. Unfähig, sich zu reformieren, sowie durch Palastintrigen geschwächt, verwandelte sich das ehemals fortschrittliche osmanische Reich in einen rückständigen Koloss, der gegenüber den europäischen Nationen machtpolitisch immer weiter ins Hintertreffen geriet.

Ein fesselnd geschriebenes Buch mit großer erzählerischer Kraft und hohem analytischem Sachverstand, welches das Osmanische Reich gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in der Türkei in ein neues Licht rückt.

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