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Der Mathematische Monatskalender: Charles-François Sturm: Sein Name prägt den Eiffelturm

Enttäuscht über seinen Lehrerjob, entdeckte Sturm, dass ihm die Tätigkeit genug Zeit ließ, um an Mathematik zu forschen. Sein elegantes Nullstellenverfahren hat es jedoch niemals in die Lehrpläne geschafft.
Abstrakte Kurven, leicht verschwommen, auf dunklem Hintergrund.
Sturm beschäftigte sich mit Polynomen und deren Nullstellen. Sein elegantes Verfahren hat es jedoch nie in die Standardlehrbücher geschafft.

Er gehört zu den 72 berühmten Wissenschaftlern und Ingenieuren, deren Namen Gustav Eiffel 1889 – 100 Jahre nach der Französischen Revolution – in goldenen Lettern auf den Friesen der ersten Etage des von ihm erbauten Turms in Paris anbringen ließ. 1836 wurde der Mathematiker zum Nachfolger von André-Marie Ampère als Mitglied in die Académie des Sciences gewählt. Auch war er korrespondierendes Mitglied in der Preußischen und in der Russischen Akademie der Wissenschaften (1835/36) sowie in der Royal Society (1840), die ihm sogar die Copley-Medaille verlieh.

Die Rede ist von Jacques Charles François Sturm, der 1803 in Genf geboren wurde – nach der Annexion durch französische Truppen 1798 Hauptstadt des neu gegründeten Départements Léman. Nach dem Wiener Kongress wurde die Region um Genf als 22. Kanton in die Schweizer Eidgenossenschaft aufgenommen. Sturms Familie stammte ursprünglich aus der Gegend um Straßburg. Charles François' Vater sorgte durch seine Tätigkeit als Lehrer für Arithmetik für den Unterhalt der Familie. Während seiner Schulzeit interessierte sich Charles François eher für Latein und Griechisch als für Mathematik. Um seine Deutschkenntnisse zu verbessern, besuchte er regelmäßig die Gottesdienste der Lutherischen Gemeinde, da die Predigten in deutscher Sprache gehalten wurden.

Nach Ende der Schulzeit verlagerte sich Charles François' Interesse von den alten Sprachen hin zur Mathematik. Simon L'Huillier, sein erster Lehrer an der Académie de Genève (lateinisch: Schola Genevensis, heute: Université de Genève) erkannte schnell das besondere Talent des jungen Studenten, beriet und ermutigte ihn, stellte ihm sogar leihweise seine eigenen Bücher zur Verfügung. Denn nach dem Tod von Charles François' Vater war die Familie in finanzielle Schwierigkeiten geraten.

Nach L'Huilliers Emeritierung kümmerte sich auch dessen Nachfolger Jean-Jacques Schaub um den begabten Studenten, der 1823 das Examen bei ihm ablegte. Aus finanziellen Gründen nahm Sturm danach eine Stelle als Hauslehrer auf dem in der Nähe gelegenen Château de Coppet an, das im Besitz des Herzogs Victor de Broglie und seiner Frau Albertine de Staël-Holstein (der jüngsten Tochter der Madame de Staël) war.

Lehrerjob lässt Sturm genug Zeit zum Forschen

Zunächst war Sturm unzufrieden mit seiner Lebenssituation, merkte jedoch bald, dass ihm seine Tätigkeit genügend freie Zeit ließ, um eigenen mathematischen Untersuchungen nachzugehen. Erste Artikel zur Geometrie erschienen in den »Annales de mathématiques pures et appliquées«. Als die herzogliche Familie für ein halbes Jahr nach Paris zog, folgte er ihnen. Über den Herzog de Broglie lernte er Alexander von Humboldt kennen, der ihn in den Gesprächskreis um François Arago einführte – so bekam er Kontakt unter anderem zu Pierre-Simon Laplace, Siméon-Denis Poisson, Joseph Fourier, Joseph-Louis Gay-Lussac und André-Marie Ampère.

Nach der Rückkehr aus Paris setzte er zunächst noch seine Tätigkeit als Hauslehrer fort, beschloss dann jedoch, sich vollständig eigenen wissenschaftlichen Forschungen zu widmen. Zusammen mit seinem Studienfreund Daniel Colladon beschäftigte er sich mit der Lösung eines Problems, das die Académie des Sciences als Wettbewerb ausgeschrieben hatte: »Wie groß ist die Kompressibilität von Wasser?«

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

In diesem Zusammenhang versuchten die beiden zunächst, durch Messungen im Genfer See die Geschwindigkeit des Schalls im Wasser zu bestimmen. Bei den eigentlichen Kompressionsexperimenten verletzte sich Colladon schwer. In Paris besuchten sie die Vorlesungen von Ampère, Gay-Lussac, Augustin-Louis Cauchy und Sylvestre Lacroix, um zunächst ihre theoretischen Kenntnisse zu verbessern. Dank der Unterstützung durch Arago, bei dem Sturm wohnen konnte, durften sie für ihre Experimente die Laboratorien der Universität nutzen. Dennoch wurde weder ihr Wettbewerbsbeitrag noch der anderer Teilnehmer als preiswürdig angesehen. Ein Jahr später (1827) – in der Zwischenzeit hatte Ampère die beiden als seine Assistenten angestellt und die Experimente waren zufrieden stellend verlaufen – erhielten sie das ausgeschriebene Preisgeld der Académie in Höhe von 3000 Francs, wodurch ihr Lebensunterhalt für lange Zeit gesichert war. Die von ihnen gemessene Schallgeschwindigkeit im Wasser von 1435 Meter pro Sekunde wich nur geringfügig vom (mit der Poisson-Formel) berechneten Wert ab (1437,8 Meter pro Sekunde).

1829 präsentierte Charles François Sturm der Académie seinen berühmten Beitrag »Mémoire sur la résolution des équations numériques« (Anmerkungen zur numerischen Lösung von Gleichungen), auf den weiter unten eingegangen wird.

Vergeblich bemühten sich Sturm und Colladon um feste Stellen bei staatlichen Bildungseinrichtungen – trotz der Unterstützung prominenter Mitglieder der Académie gelang dies nicht, da sie Ausländer waren und zudem auch noch der protestantischen Konfession angehörten. Dies änderte sich erst durch die politischen Veränderungen nach der Juli-Revolution 1830 – der neue Erziehungsminister war Herzog Victor de Broglie: Sturm wurde als Professor für »mathématiques spéciales« am Collège Rollin angestellt und Colladon für Mechanik an der École Centrale des Arts et Manufactures.

Plötzlich geht es beruflich voran

1833 nahm Sturm die französische Staatsangehörigkeit an; eine im gleichen Jahr ausgesprochene Berufung auf eine Stelle an der Académie de Genève lehnte er ebenso ab wie ein Angebot der Universität in Gent. Seine Karriere ging nun steil aufwärts …

Nach dem Tod von Ampère 1836 wurden Sturm, Joseph Liouville, Jean-Marie Duhamel, Gabriel Lamé und Jean-Louis Boucharlat als Nachfolge-Kandidaten für die Académie vorgeschlagen. Liouville und Duhamel verzichteten, weil sie Sturm für geeigneter als sich selbst hielten. So wurde dieser mit großer Mehrheit als neues Mitglied aufgenommen. 1837 erfolgte Sturms Aufnahme in die Ehrenlegion (»chévalier de l'ordre national de la Légion d'honneur«).

Charles-François Sturm

Zusammen mit Liouville entwickelte er ein Lösungsverfahren für spezielle Differenzialgleichungen zweiter Ordnung, die in der Wärmelehre eine besondere Rolle spielen (Sturm-Liouville-Theorie). 1838 wurde Sturm »répétiteur« (Assistenzprofessor) für Analysis, 1840 erhielt er den Lehrstuhl für Analysis und Mechanik an der École Polytechnique und im selben Jahr wurde er Nachfolger von Poisson an der Sorbonne. Zehn Jahre lang hielt Sturm seine mit großer Sorgfalt ausgearbeiteten Vorlesungen zur Analysis und zur Theoretischen Mechanik, nach seinem Tod erschienen sie in gedruckter Form und galten noch lange Zeit als vorbildlich (jeweils zehn Auflagen).

Anfang der 1850er Jahre verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand so dramatisch, dass der von seinen Studenten hochverehrte Lehrer nach und nach seine Verpflichtungen aufgeben musste. Seine Beerdigung auf dem Friedhof Montparnasse fand unter großer Anteilnahme von Vertretern aus Wissenschaft und Politik statt.

Als Charles François Sturm 1829 sein Verfahren zur Bestimmung der Anzahl der Nullstellen eines Polynoms vorstellte, äußerte Charles Hermite die Vermutung, dass diese elegante und im Prinzip einfache Methode künftig eine große Rolle in der Lehre der Mathematik spielen würde – was sich allerdings als Irrtum erwies: Sturmsche Ketten wurden nie Lehrinhalt in der Schule und auch nicht in der Hochschule.

René Descartes hatte 1637 in »La Géométrie« eine einfache Vorzeichenregel aufgestellt: »Die Anzahl der positiven Nullstellen einer ganzrationalen Funktion f ist genauso groß wie die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge der Koeffizienten von f(x) oder um eine gerade Anzahl geringer. Die Anzahl der negativen Nullstellen ergibt sich aus dem Term für f(-x).« An einem Beispiel lässt sich zeigen, welche Aussagen mit Hilfe der descartesschen beziehungsweise der sturmschen Regel getroffen werden können.

Wie viele Nullstellen hat die Funktion \(f(x) = x^3 -x^2 -4x +5?\)

Die Koeffizientenfolge von f(x) ist +1, -1, -4, +5; sie hat also zwei Vorzeichenwechsel. Gemäß dem descartesschen Kriterium hat der Graph demnach zwei oder keine positiven Nullstellen. Für f(-x) ergibt sich die Koeffizientenfolge -1, -1, +4, +5, also ein Vorzeichenwechsel. Der Graph hat folglich eine Nullstelle im negativen Bereich. Insgesamt hat der Graph also eine oder drei Nullstellen.

Bilden einer sturmschen Kette: \(p_0(x) = f(x) = = x^3 -x^2 -4x +5,\) \( p_1(x) = f'(x) = = 3x^2 -2x -4.\) Weiter: \(x^3-x^2-4x+5 = (\frac{1}{3}x-\frac{1}{9})\cdot (3x^2 -2x -4) -\frac{1}{9}(26x-41),\) da es auf den Vorfaktor 1/9 nicht ankommt, ist \(p_2(x) = 26x-41.\) Schließlich: \(3x^2 -2x -4 = (\frac{3}{26}x+\frac{71}{676})\cdot (26x-41) +\frac{207}{676},\) also \(p_3(x) = -\frac{207}{676}.\) Hieraus ergibt sich für die Vorzeichen der sturmschen Polynome:

Somit folgt: Der Graph von f hat im Intervall
] -3 ; -2 ] genau σ(-3) –σ(-2) = 2 – 1 = 1 Nullstelle,
] -2 ; -1 ] genau σ(-2) – σ(-1) = 1 – 1 = 0 Nullstellen,
] -1 ; 0 ] genau σ(-1) – σ(0) = 1 – 1 = 0 Nullstellen,
] 0 ; +1 ] genau σ(0) – σ(+1) = 1 – 1 = 0 Nullstellen,
] +1 ; +2 ] genau σ(+1) – σ(+2) = 1 – 1 = 0 Nullstellen,
] +2 ; +3 ] genau σ(+2) – σ(+3) = 1 – 1 = 0 Nullstellen,
insgesamt also 1 Nullstelle im Intervall ] -3 ; +3 ].

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