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Warkus' Welt: Hinter den Kulissen des modernen Antisemitismus

Das Judentum ist mehr als eine religiöse Überzeugung. Der Versuch, es immer wieder in traditionelle Denkschemata zu pressen, bereitet dem modernen Antisemitismus den Weg. Eine Kolumne.
Teilnehmer stehen bei der Kundgebung »Fridays for Israel« mit Israelflaggen.
Teilnehmer bei der Kundgebung »Fridays for Israel«, die sich für das Existenzrecht Israels und gegen Antisemitismus einsetzt.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Schaut man sich Hörerlisten deutscher Universitäten aus der Zeit vor 1871 an, fällt ein Detail auf: Neben Namen, Studiengang und anderen Angaben enthalten sie auch eine Spalte »Vaterland«, in der der Heimatstaat des jeweiligen Studenten genannt wird, also etwa Preußen, Bayern, Schwarzburg-Rudolstadt oder Reuß jüngerer Linie. Vor diesem Hintergrund formulierten Studenten im Jahr 1817 zum Wartburgfest: »Von dem Lande oder Ländchen, in welchem wir geboren sind, wollen wir niemals das Wort Vaterland gebrauchen. Deutschland ist unser Vaterland; das Land, wo wir geboren sind, ist unsere Heimath.« Sie grenzten ihr Deutschsein von ihrer zum Beispiel sachsen-gothaischen oder hannoverschen Staatsangehörigkeit ab.

Eine Spalte, die man in deutschsprachigen Ländern ebenfalls in allerlei Listen findet – zum Teil bis heute –, ist die zum Bekenntnis oder der Konfession, wo Kürzel wie r.-k. für römisch-katholisch oder ev. für evangelisch stehen. Das Anerkenntnis, dass es verschiedene christliche Konfessionen gibt und ein Fürst nicht ohne Weiteres verlangen kann, dass seine Untertanen diese wechseln, ist in Deutschland letztlich das Erbe des Dreißigjährigen Krieges. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde tatsächlich von jedem Bürger auch ein Bekenntnis erwartet. So gab es etwa in Preußen bis 1847 oder in Württemberg bis 1872 keine legale Möglichkeit, gänzlich konfessionslos zu sein.

Die Zugehörigkeit zu Völkern, zu Staaten und zu Glaubensgemeinschaften halten nicht nur in Deutschland viele Menschen für unabhängig voneinander. Oberflächlich betrachtet passt das ganz gut: Ein Hugenotte im Berlin des 18. Jahrhunderts war etwa Franzose mit preußischer Staatsangehörigkeit und evangelisch-reformiertem Bekenntnis.

In die Bekenntnisspalte gehört auch die Abkürzung mos., die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkam. Sie steht für mosaisches Bekenntnis, womit das Judentum gemeint ist. Allerdings wurde dadurch lediglich simuliert, Jude sei ein Begriff derselben Kategorie wie Protestant oder Katholik. Die Juden sind keine bloße Glaubensgemeinschaft: Man kann Jude durch Abstammung oder durch Konversion sein, ein Austritt gilt mehrheitlich als nicht möglich und die Zugehörigkeit ist unabhängig von der praktischen Religionsausübung. Es gibt inzwischen eine große Tradition des säkularen Judentums und sogar des jüdischen Atheismus. Der Staat Israel ist explizit ein jüdischer Staat, aber gerade kein religiöser Staat in dem Sinn, in dem der Iran zum Beispiel ein islamischer Staat oder, um ein gemäßigtes Beispiel zu nennen, das Fürstentum Liechtenstein ein römisch-katholischer Staat ist. Die Vorstellung eines Bekenntnisses, geschweige denn eines Bekenntnisses unter einem Dach mit den christlichen Konfessionen, passt so oder so nicht: Dass es ein jüdisches Glaubensbekenntnis gäbe, ist eine von außen übergestülpte Zuschreibung.

Dennoch kann man in den Diskussionen in den sozialen Medien in Anschluss an den Angriff der Hamas auf Israel immer wieder den Versuch beobachten, auf Juden und das Judentum genau dieses Schema anzuwenden. Zum Beispiel um einzufordern, ein Jude mit deutscher Staatsbürgerschaft sei »einfach nur« ein »Deutscher jüdischen Glaubens«, oder um Israel zu unterstellen, es sei theokratisch und könne deswegen gar keine Demokratie sein. Die Formulierung »Menschen jüdischen Glaubens«, die sich in den hiesigen Medien immer wieder findet, auch bei Diskussionen um Fragen des Antisemitismus und der Sicherheit der jüdischen Community, schlägt in dieselbe Kerbe. Moderne Antisemiten töten Juden nicht wegen ihrer etwaigen religiösen Überzeugungen, sondern weil sie Juden sind.

Man kann den Eindruck gewinnen, es wäre für manche ein Affront, dass es Zuschreibungen gibt, die sich nicht in Konzepte einfügen, die in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg beziehungsweise in der Restaurationszeit fixiert wurden, um konkrete Probleme wie den Konfessionskonflikt oder die Nichtexistenz eines deutschen Nationalstaats zu lösen. Für mich liegt genau dort die philosophische Pointe dieser Überlegung: Die Begriffe, mit denen wir operieren, gerade in politischen Zusammenhängen, haben eine Geschichte, eine Genealogie. Wir können Definitionen für sie herleiten, die zu unseren Überzeugungen passen, oder wir können uns umgekehrt bemühen, unsere Überzeugungen an Definitionen anzupassen. Wir können sie auch Phänomenen überstülpen, zu deren Beschreibung sie nie gedacht waren.

Möglicherweise sind viele Begriffe, wie etwa der des Volks oder der der religiösen Bekenntnisgemeinschaft, gar nicht dazu geeignet, universell angewendet zu werden, und können im schlimmsten Fall Aggression erzeugen, die sich auf den Gegenstand richtet, obwohl das Problem das »Abschneidende des Begriffs« ist und nicht der Gegenstand. Es gibt verschiedene theoretische Ansätze, die den neueren Antisemitismus seit etwa dem 19. Jahrhundert als eine Ausprägung dieser Aggression sehen: als einen Versuch, die Passung zwischen den dominierenden Denkschemata der sich modernisierenden christlich-abendländischen Gesellschaften und der Realität aufzulösen, indem man das, was nicht passt, unterdrückt oder gar vernichtet.

Ich danke Hannah Peaceman und Gabriel Yoran für wichtige inhaltliche Hinweise. Das Honorar für diese Kolumne fließt an die Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e. V.

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