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Rauschmittel: Alkoholsucht - Krankheit, keine Charakterschwäche

Der Konsum von Alkohol ist in unserer Gesellschaft fest verankert. Echte Suchtprobleme werden deshalb häufig lange übersehen oder ignoriert. Das ist vor allem mit Blick auf Jugendliche fatal, bei denen gute Präventionsarbeit ein Abrutschen in die Abhängigkeit noch verhindern könnte.
Illustration einer trinkenden Frau vor einer Wand

Benommen erwacht Johannes* (Name von der Redaktion geändert) am Morgen in einem fremden Zimmer. Die Feier am Vorabend war völlig aus dem Ruder gelaufen, und so landete der 16-jährige Gymnasiast schließlich mit 2,6 Promille in einem Hildesheimer Krankenhaus. Dem jungen Mann ist die Sache peinlich, doch gerade das macht ihn am Tag darauf offen für ein Gespräch mit Christiane Aßmann vom Caritas-Team der Suchthilfe. Die Caritas beteiligt sich am bundesweiten Präventionsprojekt HaLT, bei dem Jugendliche noch im Krankenhaus auf ihren riskanten Umgang mit Alkohol angesprochen werden.

»Wenn man Jugendliche direkt am Krankenbett fragt: ›Was ist los in deinem Leben?‹, stellt sich heraus, dass etwa ein Fünftel der mit einer Alkoholvergiftung Eingelieferten massiv durch Probleme belastet ist, seien es Depressionen, Schulprobleme, Schwänzen, Selbstmordgedanken, körperlicher und sexueller Missbrauch«, sagt Ulrich Zimmermann vom Forschungsbereich Suchterkrankungen am Universitätsklinikum in Dresden. Ein echtes Suchtproblem habe zu diesem Zeitpunkt meist noch keiner. »Das Komasaufen ist eher ein Signal dafür, dass etwas nicht stimmen könnte«, so der Psychiater.

Gründe für die Abhängigkeit

Zimmermann und sein Team erforschen, wovon es abhängt, ob speziell junge Menschen alkoholabhängig werden oder nicht. Im Rahmen einer Langzeitstudie in Dresden befragten die Forscher 277 junge Erwachsene bis 13 Jahre, nachdem diese wegen Komasaufens in einem Krankenhaus gelandet waren. Dabei wollten sie von ihren Teilnehmern vor allem wissen, wie es um deren aktuelle Lebenssituation und den Umgang mit Alkohol bestellt war. Die Ergebnisse zeigen: Etwa jeder zehnte der früheren Komasäufer war der Untersuchung zufolge schon mit Mitte 20 schwer alkoholabhängig, doch bei allen anderen deutete nichts in Richtung Alkoholismus. »Wer sind die Hochgefährdeten, und wie kann man eine Sucht in dieser Gruppe vermeiden?«, fragt Zimmermann.

Prävention sei an dieser Stelle möglich, wenn Jugendliche und Eltern mitziehen würden. »Aber die Eltern sind oft Teil des Problems, von denen dann kaum Unterstützung zu erwarten ist«, weiß der Psychiater. Auch Christiane Aßmann kennt das elterliche Desinteresse. Leere Stühle an Infoabenden, und montags, nach dem peinlichen Wochenende, ist das Thema dann oft schnell wieder vom Tisch. »Alkohol ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema«, sagt Aßmann. Zwar geht der Alkoholkonsum bei männlichen und weiblichen Heranwachsenden leicht zurück. Laut Daten aus Niedersachsen berichteten dort im Jahr 2013 zum Beispiel noch 31,5 Prozent der Jugendlichen von Rauschtrinkerlebnissen, 2015 waren es nur noch 27,1 Prozent. Anlass zu Entwarnung bieten diese nach wie vor sehr hohen Zahlen allerdings nicht.

»Die Eltern sind oft Teil des Problems«
Ulrich Zimmermann

»Das Trinken von Alkohol besitzt weitgehend gesellschaftliche Anerkennung«, schreibt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in einem Infoblatt. Doch zu welchem Preis? Weltweit sterben mehr als sieben Prozent aller Männer und vier Prozent aller Frauen an den Folgen des Alkoholkonsums. In Deutschland sind mehr als zwei Millionen Menschen alkoholabhängig, der Alkoholkonsum weiterer zwei Millionen ist gesundheitlich bedenklich. »Die Alkoholsucht wird im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen, wie etwa der Depression, in der Öffentlichkeit weit weniger als Problem angesehen, das Aufmerksamkeit und Behandlung verlangt«, schreiben Karl Mann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und andere Suchtexperten in den Leitlinien »Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen«, die 2016 erstmals erschienen sind.

Alkohol und das jugendliche Gehirn

Die Wirkungen von Alkohol sind vor allem auf den heranwachsenden Körper und das jugendliche Gehirn folgenschwer. »Gerade bei jungen Männern ist die Hirnreifung erst mit Anfang 20 abgeschlossen«, sagt Psychiater Zimmermann. Und es mache eben einen Unterschied, ob eine toxische Substanz wie das Ethanol auf einen jungen, heranreifenden Körper oder auf einen erwachsenen treffe. »Wenn es auf ein Haus regnet, wird es nur nass. Schaden entsteht, wenn das Haus noch im Bau ist und kein Dach den Regen abhält.« Die Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes machten demnach absolut Sinn, und es gelte, sie einzuhalten.

Das jugendliche Gehirn ist noch besonders wandelbar. Heranwachsende sind deshalb stärker gefährdet, eine Abhängigkeit zu entwickeln. Frühes Trinken kann zudem weit reichende Folgen haben: Es kann im Erwachsenenalter die Neubildung von Nervenzellen verringern, Gedächtnis und Schlaf beeinträchtigen und über epigenetische Veränderungen die Aktivität von Genen beeinflussen. Bei Kampagnen zur Alkoholprävention müssten diese langfristigen Schädigungen unbedingt zum Thema gemacht werden, fordert Zimmermann. Eine aktuelle Analyse von 72 solcher Kampagnen zeigt jedoch, dass es hier durchaus Nachholbedarf gibt. Laut Melanie Wakefield und ihren Kollegen vom Centre for Behavioural Research in Cancer in Melbourne wird bei den Aktionen hauptsächlich auf die akuten Folgen des Trinkens hingewiesen, vor langfristigen Effekten aber kaum gewarnt.

Je früher ein junger Mensch mit dem Trinken anfängt, desto gefährdeter ist er, in die Abhängigkeit abzurutschen. Ein erhöhtes Risiko besteht auch für all diejenigen, die »viel abkönnen«. Die Suchtforscher in Dresden luden 18-Jährige der sächsischen Landeshauptstadt zu einem Experiment ein. Per Knopfdruck sollten sie sich im Labor intravenös denjenigen Alkoholgehalt im Blut einstellen, den sie auf einer Party als angenehm empfinden würden. »Der Wohlfühlpegel der Teilnehmer schwankte stark«, sagt Ulrich Zimmermann. Ein Viertel arbeitete sich zielstrebig auf 1,2 Promille vor, andere blieben bei 0,3 Promille und fühlten sich damit schon ziemlich betrunken. »Wir gehen davon aus, dass sich in der ersten Gruppe diejenigen befinden, die anfälliger für eine Alkoholabhängigkeit sind.« (Laut dem Dresdner Team steigern solche Laborstudien das Trinkverhalten der Teilnehmer im wahren Leben übrigens nicht.)

Wie gut ein Mensch Alkohol verträgt, ist auch genetisch bedingt. Von den bislang diskutierten Risikogenen für eine Alkoholsucht gelten aktuell nur zwei als sichere Kandidaten: Variationen im so genannten ADH1B-Gen bei Europäern und im ALDH-Gen bei Ostasiaten. Die Genvarianten sorgen dafür, dass der Körper Alkohol schlechter abbauen kann und schon auf geringe Mengen mit Unwohlsein reagiert. Sie verringern daher das Risiko für eine Alkoholabhängigkeit. Man müsste sie entsprechend eher als »Schutzgene« bezeichnen.

Eklatante Therapielücke

Eine gute Prävention ist die eine, die Behandlung einer bereits bestehenden Abhängigkeit die andere Seite des Alkoholproblems. Und die gestaltet sich bei Jugendlichen wie Erwachsenen schwierig. Es gäbe viele wirksame Therapien, sagt der Suchtforscher Karl Mann vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. »Das größte Problem besteht nicht darin, festzustellen, ob nun Methode A oder B besser ist, sondern darin, die Menschen überhaupt in die Behandlung zu bekommen – nur rund zehn Prozent der Patienten werden hier zu Lande angemessen versorgt.« Damit steht die Alkoholabhängigkeit weitaus schlechter da als andere psychische Erkrankungen; bei Depressionen erreicht man rund die Hälfte, bei der Schizophrenie gar 80 Prozent der Betroffenen mit den verfügbaren Therapien. Schätzungen zufolge könnten in Deutschland jedes Jahr 2000 Leben gerettet werden, wenn nicht nur zehn Prozent, sondern 40 Prozent der Alkoholkranken angemessen behandelt würden.

Die Gründe für diese Therapielücke sind vielfältig. Die Diagnose »Alkoholabhängigkeit« ist nach wie vor mit einem Stigma behaftet. »Immer noch denken viele, dass es sich bei der Alkoholsucht um eine Charakterschwäche und nicht um eine Krankheit handelt«, sagt Suchtforscher Mann. Hausärzte wüssten oft nicht genau, was zu tun sei, und therapierten lieber Begleiterscheinungen wie Magenprobleme als die verursachende Sucht. Zusammen mit insgesamt 80 unabhängigen Fachleuten hat Karl Mann in den vergangenen fünf Jahren eine Leitlinie erarbeitet, die den Kollegen ein Raster anbieten soll, an dem sie sich bei der Behandlung von Patienten mit einer Alkoholsucht entlanghangeln können. »Die Hälfte der empfohlenen Methoden sind evidenzbasiert, und von vielen Ärzten und Verbänden gab es schon ein positives Echo«, so Mann.

Das medizinische System liefert noch weitere Gründe für die Therapielücke. »Rund zwei Drittel aller männlichen Patienten auf chirurgischen Stationen in deutschen Krankenhäusern liegen dort auf Grund von Unfällen im Zusammenhang mit Alkohol«, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Hier könne man eigentlich gut ansetzen. »Doch in vielen Kliniken herrscht teilweise geradezu ein therapeutischer Nihilismus; bis hin zum Ausschank von alkoholischen Getränken, damit sich die Liegezeiten durch etwaige Entzugserscheinungen nicht verlängern.«

»Viele denken, dass es sich bei der Alkoholsucht um eine Charakterschwäche und nicht um eine Krankheit handelt«
Karl Mann

Studien hätten gezeigt, dass mit Kurzinterventionen bereits in dieser Phase viel erreicht werden könne. Würden die Patienten durch eine qualifizierte Kraft auf die Problematik an sich angesprochen und (ohne erhobenen Zeigefinger) auch wiederholt auf mögliche Konsequenzen der Sucht, begäben sich bis zu 40 Prozent der Betroffenen nach dem Krankenhausaufenthalt zur weiteren Behandlung in die Obhut therapeutischer Gruppen oder Ansprechpartner, so Andreas Heinz. »Je früher eine Alkoholsucht erkannt und je früher eingegriffen wird, desto besser. Die Gesundheit ist noch nicht zerstört, die Ehe noch nicht kaputt, und der Job ist noch nicht weg«, erklärt Karl Mann.

Das medizinische System sei an vielen Stellen zu kurzsichtig und nicht gut genug organisiert. Und auch ein qualifizierter Entzug, der eine Entgiftung sowie die therapeutische Bearbeitung psychischer, sozialer und medizinischer Probleme einschließt, sei in Deutschland nicht Standard, sagt Andreas Heinz. »Viele Patienten, die nach der Entgiftung eine Chance hätten, gehen so verloren.« Nach einem qualifizierten Entzug würden etwa 50 Prozent der Betroffenen rückfällig, nach einem rein körperlichen Entzug dagegen rund 80 bis 90 Prozent.

Im Zuge der demografischen Entwicklung wird nicht zuletzt auch das Thema Alkohol im Alter künftig immer bedeutsamer werden. Suchtforscher Mann unterscheidet bei älteren alkoholabhängigen Menschen zwei verschiedene Typen: Die einen haben schon immer getrunken und erreichen oftmals gar kein wirklich hohes Alter, sondern sterben schon 15 bis 20 Jahre früher als im Durchschnitt erwartet.

»Dann gibt es diejenigen, die spät im Leben ihren Alkoholkonsum steigern, etwa um das 60. Lebensjahr herum. Der Alkohol wird zum einzigen Freund, wenn die Sinnhaftigkeit des Lebens durch den Verlust des Partners oder der Arbeit verloren geht«, weiß Mann. Im Gegensatz zu früher empfehle man heutzutage älteren Patienten nicht unbedingt immer, komplett auf den Alkohol zu verzichten, sagt der Suchtforscher. »In vielen Fällen ist es hilfreich, gemeinsam mit dem Arzt einen Plan zu machen, wie der Alkoholkonsum zu verringern ist.« Wenn sich der Patient auf nur noch ein bis zwei Gläser Wein oder eine Flasche Bier am Tag einlässt, könnte es der Leber bald schon wieder besser gehen.

Was kennzeichnet eine Alkoholsucht?

Gemäß Diagnostischem und Statistischem Leitfaden psychischer Störungen (DSM-5) liegt eine so genannte Alkoholkonsumstörung vor, wenn die Betroffenen durch ihren Alkoholkonsum zunehmend beeinträchtigt sind und mindestens zwei der folgenden Kriterien innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten erfüllt sind:

1. Der Betroffene trinkt häufig Alkohol in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt.
2. Der Betroffene wünscht sich oder versucht vergebens, weniger zu trinken oder den Alkoholkonsum stärker zu kontrollieren.
3. Der Betroffene investiert viel Zeit, um sich Alkohol zu beschaffen, diesen zu konsumieren oder sich von dem Konsum zu erholen.
4. Der Betroffene verspürt ein starkes Verlangen nach Alkohol.
5. Der Betroffene trinkt so häufig Alkohol, dass er seinen Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder daheim nicht mehr nachkommen kann.
6. Der Betroffene trinkt auch weiter Alkohol, wenn dadurch zwischenmenschliche Konflikte entstehen oder verschärft werden.
7. Der Betroffene schränkt wichtige berufliche, soziale oder Freizeitaktivitäten durch seinen Alkoholkonsum ein oder gibt diese ganz auf.
8. Der Betroffene bringt sich durch seinen Alkoholkonsum wiederholt in körperliche Gefahr.
9. Der Betroffene ignoriert körperliche oder psychische Probleme, die womöglich mit seinem Alkoholkonsum in Verbindung stehen.
10. Der Betroffene muss seinen Konsum zunehmend steigern, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
11. Der Betroffene leidet ohne Alkohol an Entzugssymptomen, die sich etwa in Angst, Übelkeit und Erbrechen oder Unruhe äußern. Oder er konsumiert Alkohol oder ähnliche Substanzen, um diese Entzugssymptome zu vermeiden oder zu lindern.

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