Direkt zum Inhalt

Epigenetik: Angst im Genom

Vor gut 200 Jahren galt es noch als gut möglich, vor 50 Jahren längst als lachhaft: Die Umwelt verändert, was wir unseren Kindern vererben. Beeinflussen traumatische Erlebnisse wie Kriege wirklich unsere Gene?
Trauma

Einbruch, streitwütige Nachbarn, Unfälle, Zahnersatz, Hausrat, Krankheit, Leben und sogar Sterben – gegen alles und für sämtliche Eventualitäten stapeln sich Versicherungen in deutschen Regalen. Die Deutschen lieben Sicherheit und fürchten das Unvorhergesehene, so das Klischee, eine Nation zögerlicher Grübler, die sich reformscheu vor der Zukunft ängstigen. US-Journalisten prägten in den 1980er Jahren den Begriff der "German Angst" – gemünzt auf die für sie unverständliche Technologieskepsis in Deutschland. "Die Deutschen haben die Neigung, sich zu ängstigen. Das steckt seit dem Ende der Nazi-Zeit und Krieg in ihrem Bewusstsein", so Altbundeskanzler Helmut Schmidt 2011 gegenüber der Wochenzeitschrift "Focus".

"Liegt die Ursache für die German Angst also in den Traumata, die unsere Eltern und Großeltern vor über 60 Jahren erlitten haben und nicht verarbeiten konnten?" spekulierte der Zellbiologe Peter Gruss 2011 in einer Rede zur Jahresversammlung der Max-Planck-Gesellschaft. Seine These: Es ist denkbar, dass sich die Ängstlichkeit der Deutschen aus jener Zeit vererbt hat. Körperliches und seelisches Leid der Kriegsjahre könnten sich in Form von epigenetischen Modifikationen im Genom festgesetzt haben und so auch noch spätere Generationen prägen.

Unter Kontrolle der Epigenetik

Epigenetik (von griechisch "epi" für "darüber") meint eine dem eigentlichen Genom übergeordnete Verwaltungsebene. Zwar steckt im DNA-Text des Erbguts der Bauplan für das Leben. Doch damit dieser überhaupt einen Sinn ergibt, regulieren epigenetische Mechanismen, welche Bereiche aktiv sind und abgelesen werden, damit neue Proteine entstehen, und welche stillgelegt werden, weil ihre Information in der jeweiligen Zelle oder unter den aktuellen Bedingungen nicht benötigt werden. So entscheidet letztlich die Epigenetik über die Funktion von Zellen und Organen, aber auch darüber, ob ein Mensch eher dick oder dünn ist, ob er zu Krankheiten neigt oder ob seine Psyche stabil ist.

Die ersten Hinweise darauf, dass Kriegserfahrungen "vererbbar" sind, stammten aus den Niederlanden. Im letzten Winter des Zweiten Weltkriegs 1944/45 herrschte Hunger im Nachbarland. Die Kriegsjahre hatten das Land ausgezehrt, ein harter Winter und ein Lebensmittelembargo taten ihr Übriges. Zeitweise betrugen die Tagesrationen gerade mal 400 Kalorien, Zuckerrüben und Tulpenzwiebeln wurden zur Nahrung. Weit über 20 000 Menschen verhungerten in dieser Zeit.

Babys, die während des Hungerwinters geboren wurden, waren oft außerordentlich klein, und kaum eines von ihnen brachte mehr als zweieinhalb Kilogramm auf die Waage. Erstaunlicherweise brachten aber auch Frauen, die unter diesen Bedingungen geboren wurden, später selbst oft auffallend kleine Kinder zur Welt – obwohl längst kein Mangel mehr herrschte.

Im Rahmen der Hungerstudie untersuchten Wissenschaftler der Universitätsklinik Amsterdam über viele Jahre die Nachkommen der hungernden Schwangeren. Dabei fiel eine anfällige Konstitution ins Auge: So trugen die Kinder später im Leben ein hohes Risiko für Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen; zudem erkrankten sie überdurchschnittlich oft an Schizophrenie.

Heute geht man davon aus, dass die Mangelernährung während des Embargos zu Veränderungen im Methylierungsmuster geführt hat. Dabei handelt es sich um den bislang bekanntesten epigenetischen Mechanismus zur Genregulation. Kleine chemische Anhängsel an der DNA, so genannte Methylgruppen, entscheiden darüber, ob ein Gen abgelesen oder abgeschaltet wird. Die Faustregel lautet: Wenn mehr Methylgruppen an einem DNA-Abschnitt hängen, wird er dichter verpackt und kann nicht abgelesen werden. Denkbar wäre, dass Methylgruppen durch das Defizit an essenziellen Nährstoffen verloren gegangen sind. Eine andere Erklärung lautet, dass der Hunger epigenetische Schalter umgelegt und den Stoffwechsel auf Notfall geschaltet hat.

Die Umwelt und das Erbgut

Um 1800 herum entwickelte der französische Botaniker und Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) seine Theorie der Arttransformation, der Veränderlichkeit der Arten. Veränderte Umweltbedingungen führten demnach zur Anpassung. So sollte beispielsweise der lange Giraffenhals entstanden sein, weil die Tiere sich auf der Suche nach Blättern strecken mussten und das Ergebnis von Training und Anpassung an ihre Nachfahren vererbten.

Lamarcks Theorie galt längst als widerlegt, doch nun merken Wissenschaftler wieder auf. Zwar wird heute niemand mehr tägliches Training für die langen Giraffenhälse verantwortlich machen. "Allerdings mehren sich die Arbeiten zur epigenetischen Weitergabe erworbener Eigenschaften, und Lamarck hatte, zum Teil, doch Recht", sagt Thomas Jenuwein vom Max-Planck-Institut für Immunologie und Epigenetik in Freiburg. Tierversuche haben ergeben, dass die Auswirkung von Ernährung, Stress und Giftstoffen auf epigenetischem Weg weitergereicht werden können – zumindest über einige Generationen. Und wie sieht es beim Menschen aus?

Der Psychiater und Chemiker Florian Holsboer, emeritiertes wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, war während des Anschlags auf das World Trade Center in New York. Von seinem Hotelzimmer aus sah er, wie die Flugzeuge in das Gebäude krachten und schließlich beide Türme einstürzten. Er habe völlig irrational reagiert und sei erst mal zum Friseur und zum Essen gegangen. Doch dann kam ihm ein zündender Gedanke: Wenn gleichzeitig so viele Menschen dasselbe traumatische Ereignis erleben, ist das die Gelegenheit zu untersuchen, wie sich der Schock auf die epigenetischen Markierungen auswirkt.

Gemeinsam mit der Psychiaterin und Neurowissenschaftlerin Rachel Yehuda von der Mount Sinai School of Medicine setzte Holsboer diese Idee in die Tat um. Sie untersuchten eine Gruppe von 40 Augenzeugen der Anschläge – 20 litten fünf Jahre nach dem Anschlag unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die anderen 20 nicht. Tatsächlich waren bei den betroffenen Probanden epigenetische Modifikationen von bis zu 25 Genen verändert. Darunter befand sich ein Gen namens FKPB5. Ist es inaktiv geschaltet, versagt die Steuerung des Stresshormons Cortisol. Betroffene können nicht mehr angemessen auf Stress reagieren und entwickeln eine Belastungsstörung.

Ein anderer Kontinent, ein anderes Trauma-Szenario, aber ähnliche epigenetische Folgen: Während des Völkermords in Ruanda 1994 töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit in einem Zeitraum von knapp 100 Tagen rund 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich am Genozid nicht beteiligten. Schätzungen gehen von bis zu einer Million Toten aus. Wissenschaftler aus der Schweiz und aus Ruanda nahmen die epigenetischen Folgen des grausamen Mordens unter die Lupe. Sie untersuchten 25 Tutsi-Frauen, die während des Genozids schwanger waren, sowie 25 Tutsi-Frauen, die zur gleichen Zeit schwanger waren, dem Gemetzel aber selbst nicht ausgesetzt. Im Mai 2014 veröffentlichte das Forscherteam seine Ergebnisse: Das Erbgut der betroffenen Frauen zeigte ebenso wie das ihrer Kinder veränderte Methylierungsmuster. Auch hier beeinträchtigten sie die Stressantwort.

Schwachpunkt beider Studien ist, dass keine Daten dazu existieren, wie das Epigenom der Probanden vor dem traumatischen Ereignis aussah. Es lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen, ob die epigenetische Variation ursächlich vom Trauma herrührt.

Kontrollierte Studien im Labor

Solche Untersuchungen gelingen im Labor, beispielsweise bei den Mäusen der Epigenetikerin Isabel Mansuy, die in Zürich an der Universität und der ETH forscht. Trennt man neugeborene Tiere für mehrere Stunden am Tag von ihren Müttern, ist das ein traumatisches Ereignis für die Mäusebabys. Als Folge entwickeln sie depressionsähnliche Symptome und legen zudem ein untypisches, risikoreiches Verhalten an den Tag. So verlieren die Mäuse ihre Scheu vor offenen Räumen und hellem Licht.

Die Störung vererbt sich auf die Nachkommen. Paart man Männchen aus traumatisierten Würfen mit Weibchen, die niemals frühkindlichem Stress ausgesetzt wurden, zeigt auch die nächste Generation das ungewöhnliche Gebaren. Da Mäuseväter nicht an der Aufzucht beteiligt sind, kann es sich jedoch nicht über soziale Interaktion auf die Jungen übertragen haben. Die Verhaltensauffälligkeit muss auf anderem Weg weitergegeben worden sein.

Mansuy und ihre Mitarbeiter fahndeten in den traumatisierten Mäusen nach Auffälligkeiten und stießen in Spermien, Blut und im Gehirn der Tiere auf kleine RNA-Schnipsel, so genannte "small non-coding RNAs" (sncRNA, kleine, nichtkodierende RNA). Dabei handelt es sich um kurze RNA-Moleküle, die selbst keine genetische Information beherbergen, dafür aber die Aktivität von Genen beeinflussen. Einige dieser sncRNAs traten bei den gestressten Tieren in ungewöhnlich hoher Anzahl auf. Bei den Nachkommen entdeckten die Wissenschaftler diese Auffälligkeit ebenfalls.

Der Mechanismus epigenetischer Umprogrammierung

Um zu prüfen, ob diese RNA-Stückchen tatsächlich für das auffällige Verhalten verantwortlich zeichnen, injizierten die Wissenschaftler in einem weiteren Experiment die sncRNAs aus den Spermien gestresster Mäuse in befruchtete Eizellen unbeeinträchtigter Tiere. Auch diesmal hatten die Nachkommen die Verhaltensstörungen geerbt. "Wir haben einen völlig neuen Weg aufgezeigt, wie sich die Folgen traumatischer Erlebnisse auf nachfolgende Generationen auswirken können", erklärt Mansuy.

Den genauen Mechanismus hinter dieser Entdeckung kennt die Wissenschaftlerin noch nicht. Wahrscheinlich interagieren die RNA-Schnipsel mit Genen, deren Aktivität sich wiederum aus das Verhalten auswirkt. So zeigte sich bereits, dass eines der auffälligen sncRNA-Moleküle der Stressantwort in die Quere kommt.

Unklar ist außerdem, weshalb auch die Urenkel der gestressten Mäusemänner die Verhaltensstörung zeigten – obwohl sie kein auffälliges sncRNA-Muster aufwiesen. "Vermutlich spielen weitere epigenetische Mechanismen eine Rolle, die wir aber noch identifizieren müssen", sagt Mansuy.

Die Wissenschaftlerin hält es durchaus für denkbar, dass epigenetische Mechanismen am Phänomen der German Angst beteiligt sind. "Studien, die das belegen, gibt es aber nicht", sagt sie. "Das ist auch schwer zu untersuchen, da man keinen Vergleich der Vorher-nachher-Situation machen kann." Zudem spielen im komplexen Alltag eine ganze Reihe weiterer Faktoren eine Rolle, etwa soziale Interaktionen. "Vermutlich lässt sich die German Angst einfacher über eine kulturelle Prägung in der Familie und der Gesellschaft ableiten", sagt daher der Epigenetiker Thomas Jenuwein.

German Angst: Erfunden, überwunden, verlernt?

Es gibt auch positive Nachrichten. Die Spuren der Traumatisierung sind nicht unwiderruflich ins Erbgut eingebrannt. Denn auch positive Umwelteinflüsse wirken sich auf die Epigenetik aus. Mansuy untersucht derzeit, ob sich die gestressten Mäuse und ihre Nachfahren in einer besonders angenehmen Umgebung erholen können. Sie setzt dazu die Tiere für mehrere Wochen in große Käfige, in denen sie in sozialen Gruppen leben und abwechslungsreiche Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten finden. "Die Daten dazu sind noch nicht veröffentlicht, aber es sieht so, als ob sich das Verhalten der Tiere normalisiert", verrät sie.

Florian Holsboer hofft sogar, dass man den epigenetischen Spuren der Traumatisierung vorbeugen kann, etwa durch rechtzeitige Gabe von Antidepressiva nach einem belastenden Ereignis. Eine Studie, die er 2012 gemeinsam mit Kollegen vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München veröffentlichte, zeigt, dass er Recht haben könnte. Bestimmte Antidepressiva hemmen in Rattenzellen ein Enzym, das neue Methylgruppen ans Genom hängt. Sie verhindern so möglicherweise eine Veränderung des Epigenoms.

Und schließlich scheint auch die German Angst – egal ob nun epigenetisch beeinflusst oder nicht – allmählich ein wenig an Gewicht zu verlieren. Angesichts der Finanzkrise bleiben die Deutschen jedenfalls erstaunlich gelassen, wie eine Umfrage aus dem Jahr 2009 ergab.

Schreiben Sie uns!

3 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.