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Immuntherapie: Mit dem eigenen Körper gegen den Krebs

Immer häufiger nutzen Ärzte Strategien des Immunsystems, um Krebs zu behandeln. Auf breiter Front vermelden sie dabei Erfolge. Die neue CRISPR/Cas9-Methode dürfte diese Entwicklung noch beschleunigen.
Zelle

Paul Ehrlich, der Begründer der Immunologie, stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine These auf: Krebsnester entstehen im Körper fortwährend – doch den Immunzellen gelingt es in der Regel, diese wieder zu entfernen. Je mehr man über Krebserkrankungen lernte, desto klarer wurde: Ehrlich lag richtig. Die körpereigene Abwehr beseitigt ständig entartete Zellen, die Entgleisungen bleiben daher folgenlos. Mitunter versagt das Immunsystem allerdings, aus bislang nicht geklärten Ursachen.

Dem menschlichen Körper stehen also Mittel und Wege zur Verfügung, Krebszellen zu eliminieren. Und schon Ehrlich hatte auf dieser Basis nach einer Krebsimpfung gesucht, die analog zu einer Impfung gegen Viruserkrankungen funktionieren sollte: Er injizierte Mäusen abgeschwächte Tumorzellen mit der Hoffnung, dass die Tiere Antikörper dagegen bilden und damit immun gegen eine Krebserkrankung werden. Doch seine Versuche schlugen fehl: Eine Schutzwirkung vor Krebs konnte Ehrlich nicht beobachten, und die Idee, körpereigene Kämpfer in den Ring gegen Tumoren zu schicken, wurde bis auf Weiteres vertagt.

Ohnehin waren zu Ehrlichs Zeiten viele Experten der Meinung, Krebszellen seien für das Immunsystem kein geeignetes Angriffsziel. Denn schließlich handle es sich bei ihnen nicht um fremde »Eindringlinge« wie Bakterien oder Viren, sondern um körpereigene Zellen. Und für alle Immunzellen gelte letztlich die Devise: Greife niemals Körpereigenes an. Statt das Immunsystem gegen den Krebs einzuspannen, konzentrierte sich Ehrlich auf eine andere Strategie – die Chemotherapie. Sie ist auch noch 100 Jahre später neben der Bestrahlung und Operationen eine der wichtigsten Säulen der Krebstherapie.

Von den Anfängen bis in die Zukunft

Seit der Jahrtausendwende reift nun aber eine immunologische Alternative zu den herkömmlichen Bekämpfungsstrategien: neue Ansätze der Immuntherapie, um gezielt die Schutzmechanismen des Körpers gegen Krebs zu stimulieren. 2013 feierte die Fachzeitschrift »Science« diese Herangehensweise als »wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres«. Der deutsche Mediziner, Krebsforscher und Nobelpreisträger Harald zur Hausen spricht von einem »Ansatz, der uns in die Zukunft führt«. Der Grund für diese Euphorie waren verschiedene Patientenstudien, in denen die Teilnehmer mit Hilfe von gentechnisch modifizierten Immunzellen oder mit einer Antikörpertherapie wieder krebsfrei wurden. Die Heilungen kamen fast einem Wunder gleich, waren die Betroffenen doch bereits schon austherapiert – ergo: Ihre Tage waren eigentlich gezählt.

In der Retrospektive verwundert es, dass Mediziner nicht mit ähnlichem Erfolg auf die Immuntherapie gesetzt haben. Denn nach Ehrlichs Spekulationen hatte man schon in den 1950er Jahren nachgewiesen, dass die körpereigene Abwehr tatsächlich auf entartete Zellen reagiert. Gleichwohl kamen Forscher nicht dahinter, weshalb ihre Immuntruppen bei Krebskranken nicht in den vollen Kampfmodus übergehen, sondern gewissermaßen nur mit angezogener Handbremse agieren. Zudem fehlten umsetzbare Ideen, wie man das System stimulieren und manipulieren könnte.

Laut Jürgen Krauß, dem leitenden Oberarzt der Sektion Klinische Immuntherapie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg, lag die doch eher langsame Entwicklung nicht an der Komplexität der Materie – mit der sei man erst jetzt konfrontiert. Zunächst hätten eigentlich nur »ganz einfache Links gefehlt«. Dazu zählt zum Beispiel die Entdeckung in den 1990er Jahren, dass man die Immunantwort von T-Zellen verstärken kann, indem man Antikörper an sie koppelt. Antikörper sind klassische Bestandteile des Immunsystems, die eigentlich an fremdartige Eiweiße, die Antigene auf Krankheitserregern, binden.

Ehrlich hatte Antikörper bereits im Jahr 1897 als »Seitenketten« beschrieben, die auf der Oberfläche von Immunzellen sitzen und fremde Stoffe erkennen. Passiert das, schicken die Zellen viele solcher löslichen Seitenketten auf Streife, um die Krankheitserreger zu finden, so Ehrlichs Auffassung. Er lag damit vollkommen richtig, konnte aber viele seiner damaligen Fachkollegen nicht überzeugen. Heute nennt man diesen Zelltyp B-Zelle. Die von solchen Immunzellen entlassenen Antikörper heften sich an die fremdartigen Antigene und markieren sie, damit andere Zellen des Immunsystems, die T-Zellen, sie erkennen und beseitigen können. »Lange Zeit betrachtete man die B-Zell- und T-Zell-Immunologie als separate Seiten einer Medaille. Die eigentlich banale Entdeckung war, dass Antikörper auch direkt an T-Zellen binden können und sie dadurch letztlich aktivieren können«, sagt Krauß.

»Die Zukunft der Krebstherapie werden sehr individualisierte Behandlungen sein«
Jürgen Krauß

Auf dieser Grundlage entwickelte man die so genannten Checkpoint-Inhibitoren. Das sind gentechnisch hergestellte therapeutische Antikörper, die laut dem Heidelberger Mediziner einer der »vielversprechendsten Behandlungsansätze« der Immuntherapie sind. Die Inhibitoren binden an einen bestimmten Rezeptor auf der Oberfläche von T-Zellen und blockieren damit deren »Aus-Schalter«. Dieser ist eigentlich ein Schutzmechanismus, um bei Bedarf fehlgeleitete Attacken des Immunsystems auf gesunde Zellen stoppen zu können. Leider entpuppt sich der Aus-Schalter aber nicht selten als Schwachstelle der Körperabwehr gegen Krebs: Manche Tumorzellen betätigen ihn durch Moleküle in ihrer Membran. Dadurch wird die angreifende T-Zelle handlungsunfähig, zieht sich zurück und begeht mitunter sogar Selbstmord – und der Tumor wächst unbehelligt weiter.

Blockade des körpereigenen Aus-Schalters

Checkpoint-Inhibitoren – die Blockierer der Aus-Schalter – sind heute »bei der Behandlung bestimmter Krebserkrankungen in der Klinik bereits fest etabliert«, erklärt Krauß. Insbesondere mit dem schon 2011 zugelassenen Wirkstoff Ipilimumab behandeln Ärzte relativ erfolgreich Melanome, eine besonders aggressive Form von Hautkrebs. »Aus den frühesten Melanomstudien von vor zehn Jahren sind knapp 20 Prozent der Teilnehmer noch am Leben, und das, obwohl sie das Medikament in einigen Fällen nur ein paar Mal bekommen haben.« In Fachkreisen spricht man nach diesem Zeitraum von einer Heilung.

Allerdings bedeutet das auch, dass die Therapie bei der Mehrheit nicht angeschlagen hat. Forscher fahnden seit einiger Zeit nach den Ursachen und zudem nach weiteren Antikörpern, die auf ähnliche Weise wirken. Mittlerweile gibt es eine ganze Palette an Medikamenten, die entweder bereits zur Behandlung von Melanomen zugelassen sind, wie Pembrolizumab und Nivolumab seit 2015, oder die man in klinischen Studien testet – besonders auch auf ihre Wirksamkeit bei anderen Krebsarten.

Wissenschaftler entwerfen aber auch therapeutische Antikörper, die nicht nur die Blockade der T-Zelle aufheben: Sie sollen an die Antigene der Krebszellen binden. Krebsantigene sind das Resultat der vielen genetischen Veränderungen, die den Weg von der gesunden zur entarteten Zelle kennzeichnen. Allerdings sind sie für körpereigene Antikörper oftmals schwerer zu erkennen als Antigene von »echten« Krankheitserregern – und so sollen im Labor entworfene Antikörper effizienter sein und sich in größerer Zahl an die Krebszellen heften, um den attackierenden Immunzellen besser den Weg zu weisen. Ein weiterer Behandlungsansatz verwendet mit Giftstoffen beladene Antikörper, die dem Tumor gleich selbst den Garaus machen. Solche Medikamente waren gewissermaßen die Vorreiter der gezielten Immuntherapie; erste Zulassungen gab es bereits vor der Jahrtausendwende.

Neue, zielgenauere Medikamente

Mit Hilfe all dieser verschiedenen Stoffe werden Ärzte wohl künftig die Therapie auf den individuellen Patienten maßschneidern können, glaubt Krauß. Der Arzt ist sich sicher, dass therapeutische Antikörper bei bestimmten Krebstypen wie Lungen- oder Nierenkarzinomen oder eben Melanomen die klassische Chemotherapie in absehbarer Zeit verdrängen werden. Insbesondere dann, wenn man beginne zu verstehen, wie genau die Substanzen die Mikroumgebung des Tumors verändern. Und: »Im Idealfall findet man Prädiktoren, die vorhersagen, ob eine Therapie A, B oder C beim betreffenden Patienten wirkt oder nicht«, ergänzt Krauß.

Doch viele der therapeutischen Antikörper können nur dann erfolgreich sein, wenn sich im Körper spontan Abwehrzellen gegen die Krebszellen formieren. Wie auch Ehrlich bereits vermutet hatte, tun sie das oftmals – aber eben nicht immer. Je nach Krebsart bilden sich bei 40 bis 80 Prozent der Erkrankten krebsspezifische T-Killerzellen aus. Und selbst wenn eine Immunantwort erfolgt, variiert die Stärke der Reaktion von Patient zu Patient. Die genauen Gründe hierfür liegen noch im Dunkeln. Eine andere immuntherapeutische Herangehensweise, die sich in Studien schon als enorm effizient erwiesen hat, überlässt die Wirksamkeit deshalb weniger dem Zufall. Sie setzt keine eigene, spezifisch auf die Krebszellen gerichtete Immunantwort voraus. Die Ärzte entnehmen dem Patienten T-Zellen und rüsten diese mit gentechnischen Methoden mit so genannten chimären Antigen-Rezeptoren (CAR) aus, die wie ein Schlüssel ins Schloss zu einem speziellen Eiweißmolekül auf den Tumorzellen passen. Ausgestattet mit dieser Spürnase kann die T-Zelle nun den Krebs zielsicher finden und vernichten.

»Ein Ansatz, der uns in die Zukunft führt«
Harald zur Hausen

Einer der ersten, der individuell angepasste CAR-T-Zellen bei Leukämiepatienten einsetzte, war Carl June, Immunologe von der Pennsylvania Pereleman School of Medicine. Im Jahr 2011 berichteten er und seine Kollegen über die erste klinische Anwendung von CAR-T-Zellen: Von drei Patienten mit Leukämie im Endstadium waren zwei nach der Behandlung vollkommen krebsfrei. Seither ist diese Methode zu der wohl größten Erfolgsgeschichte der Immuntherapie avanciert – und gleichzeitig auch zum dunkelsten Kapitel.

Denn einerseits haben Forschungsgruppen zahlreiche weitere, geradezu wundersame Heilungsverläufe beobachtet, andererseits kamen bereits Menschen durch die veränderten Immunzellen ums Leben. »CAR-T-Zellen sind extrem wirksam, das ist aber gleichzeitig auch das Problem«, so Krauß, der in seiner Heidelberger Klinik ebenfalls Studien mit CAR-T-Zellkonstrukten plant. Eine dieser aufgerüsteten Zellen kann offenbar bis zu 100 000 Krebszellen vernichten; June nennt sie deshalb auch »Serienmörder«. Zudem vermehren sie sich im Körper weiter – und gefährlich wird es dann, wenn die modifizierten Tötungsmaschinen auch andere Ziele als die Tumorzellen angreifen oder es zu den so genannten Zytokinstürmen kommt, einer lebensgefährlichen Entgleisung des Immunsystems. Die T-Zellen schütten dabei ungehindert große Mengen an Botenstoffen aus, die zu massiven Entzündungen im ganzen Körper führen. Erst im November 2016 kamen bei einer Medikamentenstudie mit CAR-T-Zellen der Biotech-Firma Juno Therapeutics zwei Patienten ums Leben, nachdem bereits im Juli desselben Jahres drei Teilnehmer gestorben waren. Ähnliche Fälle hatten sich auch zuvor schon ereignet.

Gleichzeitig gibt es weiterhin beeindruckende Erfolgsmeldungen, etwa die Zahlen, die Onkologen des Children's Hospital of Philadelphia (CHOP) Ende Dezember 2016 auf dem jährlichen Treffen der Amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie präsentierten: 2016 leitete ein Team eine internationale klinische Studie an 50 jungen Blutkrebspatienten, bei denen zuvor alle konventionellen Behandlungsmethoden versagt hatten. Die Kinder und Jugendlichen bekamen CAR-T-Zellen verabreicht. 41 von ihnen zeigten innerhalb von ein bis drei Monaten nach der Behandlung eine komplette Remission. Das bedeutet, sie waren vollständig frei von Leukämiezellen. Die Zytokinstürme hatten die Mediziner unter Kontrolle, indem sie einem festen Maßnahmenprotokoll folgten. Novartis, Sponsor der Studie, werde noch 2017 die Ergebnisse einreichen, um in den USA eine Zulassung dieser Therapie mit CAR-T-Zellen zu beantragen.

Einen erneuten Schub bekommen immuntherapeutische Ansätze momentan durch CRISPR/Cas9. Mit dieser als Genschere bekannten biochemischen Methode kann man deutlich einfacher DNA verändern als mit konventionellen Verfahren. Daher lassen sich auch die Immunzellen um einiges einfacher und schneller passend gestalten. Den ersten Versuch führten im Oktober 2016 Wissenschaftler um Lu You von der chinesischen Sichuan University in Chengdu an einem Patienten mit einem aggressiven Lungenkrebs durch, bei dem alle alternativen Behandlungsmethoden gescheitert waren. Sie entnahmen ihm Immunzellen und schalteten bei ihnen mit CRISPR/Cas9 ein bestimmtes Gen aus, das als Bremse bei der Krebsbekämpfung agiert. Anschließend bekam der Patient die Immunzellen zurück ins Blut. Den Ärzten zufolge ist die Behandlung ohne Zwischenfälle verlaufen – weitere Details werden aber zum Schutz des Patienten zunächst geheim gehalten. Bei diesem ersten Experiment geht es noch darum, etwaige Nebenwirkungen zu entdecken. Deshalb beobachtet man den Probanden zunächst für sechs Monate, bevor man weitere Tests macht.

Auch June bereitet gemeinsam mit Ärzten vom CHOP erste klinische Studien vor, bei denen sie mit CRISPR/Cas9 die T-Zellen von Patienten gentechnisch verändern werden. Die Versuche wurden im August 2016. Die Forscher planen, ein Gen für ein Protein einzuführen, das die T-Zellen veranlasst, die Krebszellen aufzuspüren und zu eliminieren. Eine weitere gentechnische Modifikation soll verhindern, dass die entarteten Zellen die Immunzellen als solche identifizieren können. Dann hätte der Krebs keine Chance, die T-Zellen zu deaktivieren.

Da die CAR-T-Zell-Therapie eine sehr riskante Methode ist, würde sie laut Krauß auch in den nächsten Jahren nur für solche Patienten in Frage kommen, bei denen bereits alle anderen Therapien gescheitert sind. Inwiefern sich künftig gewisse Ansätze durchsetzen werden, ist momentan nicht abzusehen – vermutlich wird es eine Vielzahl an verschiedenen immuntherapeutischen Optionen und Kombinationen geben. In diesem Zusammenhang betont Krauß: »Die Zukunft der Krebstherapie werden sehr individualisierte Behandlungen sein.« Dazu zählen neben den erwähnten Methoden auch »personalisierte Vakzine«, erklärt der Mediziner. Dafür analysiert man sehr genau die mutierten Antigene auf den Krebszellen des jeweiligen Patienten. Anhand dieser Information generiert man dann Impfstoffe, die das körpereigene Immunsystem gegen den Krebs scharfmachen, und verabreicht sie in Kombination mit therapeutischen Antikörpern. Krauß ist optimistisch, dass sie sogar bei Tumorarten, bei denen Immuntherapie bislang nicht funktioniert, wirksam sein werden. Über kurz oder lang setzen sich also gute Ideen, wie die von Paul Ehrlich, irgendwann doch durch.

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