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Der Mathematische Monatskalender: George Green: Bäcker, Müller und ... Mathematiker

Da er hauptberuflich Handwerker war, konnte Green seiner Forschung nur nebenberuflich nachgehen. Seine bahnbrechenden Beiträge verstand die Fachwelt erst nach seinem Tod.
Beim Backen muss es exakt zugehen
George Green befasste sich in erster Linie mit Brot. Seiner Mathematik, der er sich zunächst nur nebenbei widmen konnte, haben wir vieles zu verdanken.

Zu den besonderen Ehrungen, die einem Bürger Großbritanniens posthum zuteilwerden können, gehört seit dem 18. Jahrhundert das Aufstellen eines Denkmals oder einer Gedenktafel in der Westminster Abbey. Hier findet man in der Nähe des imposanten Grabmals von Isaac Newton die Tafeln, die an William Thomson Lord Kelvin, Michael Faraday, James Clerk Maxwell, William und John Herschel, George Gabriel Stokes sowie an George Green erinnern. Die Gedenktafel für Green wurde erst 1993 angebracht – anlässlich seines 200. Geburtstages. Dass dies erst so spät geschah, hatte besondere Gründe, die mit den Lebensumständen des allgemein nur wenig bekannten Genies zusammenhängen. Aber auch damit, dass er bereits verstorben war, als seine Beiträge verstanden wurden.

George Greens genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt, nur das Datum seiner Taufe, der 14. Juli 1793, wurde registriert. Sein Vater, der ebenfalls mit Vornamen George hieß, und seine Mutter Sarah betrieben erfolgreich eine Bäckerei in Sneinton (heute Vorort von Nottingham). Doch im Jahr 1800 gab es ernsthafte Verluste infolge der Blockaden durch das napoleonische Frankreich: Die Lebensmittelpreise stiegen dramatisch und es kam zu Plünderungen und Einbruchsdiebstählen.

Der Besuch einer Schule war zu dieser Zeit in den unteren Gesellschaftsschichten nicht üblich. Als George im Alter von acht Jahren ein besonderes Interesse für das Rechnen zeigte, hielt es der Vater für angebracht, ihn an der angesehenen (und teuren) Privatschule von Robert Goodacre anzumelden. Goodacre verstand es, seinen Unterricht interessant zu gestalten und die Neugier der Kinder durch das Vorführen von Experimenten zu wecken. Später verdiente er – in Großbritannien und den USA herumreisend – seinen Lebensunterhalt mit populären wissenschaftlichen Vorträgen.

Georges Schulbesuch beschränkte sich auf nur ein Schuljahr, was durchaus üblich war. Es heißt, dass sein Lehrer ihm in Mathematik auch nichts mehr hätte beibringen können. Die kurze Schulzeit genügte jedoch, um beim Jungen ein besonderes Interesse für Mathematik und Physik entstehen zu lassen.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

In Georges Tagesablauf aber blieb zunächst nur wenig Zeit, diesem Interesse nachzugehen. Obwohl er nach seinem kurzen Schulbesuch erst neun Jahre alt war, musste er bereits regelmäßig in der Bäckerei seines Vaters arbeiten. Dank seines florierenden Geschäfts konnte der Vater in den folgenden Jahren ein großes Vermögen anhäufen, von dem er mehrere Häuser und ein Grundstück außerhalb Sneintons kaufte. Auf diesem Gelände ließ er – eine Besonderheit in dieser Zeit – eine Windmühle aus Ziegelsteinen bauen, die inzwischen zu den Sehenswürdigkeiten Nottinghams gehört (Green’s Mill). 1817 errichtete Green Senior daneben ein Wohnhaus, in dem dann auch sein 24-jährige Sohn lebte, während dessen zwei Jahre jüngere Schwester Ann einen Cousin heiratete und wegzog.

Mathematik als Nebentätigkeit

Es gibt keine konkreten Belege, aber George Green junior muss sich neben seiner Tätigkeit als Bäcker und Müller intensiv mit Mathematik beschäftigt haben. Vieles spricht dafür, dass er Anregungen und geeignete Lektüre durch den engen Kontakt zu John Toplis erhielt, einem in der Nachbarschaft lebenden Gelehrten. Dieser hatte 1801 sein Studium am Queen’s College in Cambridge mit glänzenden Noten abgeschlossen und sich danach – unzufrieden mit der weiterhin in newtonscher Tradition gelehrten Mathematik – mit den neuesten Entwicklungen in Frankreich beschäftigt. So übersetzte er beispielsweise Band I der »Mécanique céleste« von Pierre-Simon Laplace ins Englische. Von 1806 bis 1819 leitete er eine freie Grammar School in Nottingham; danach kehrte Toplis als Dekan an das Queen’s College zurück.

1823 wurde Green als Mitglied in die Nottingham Subscription Library aufgenommen, einer Bücherei, die sich durch den Jahresbeitrag ihrer Teilhaber finanzierte und deren Anschaffungen durch die Wünsche der Mitglieder bestimmt wurden. Hierdurch erhielt Green auch Zugang zu den »Transactions of the Royal Society of London« und konnte sich so über Fortschritte in der Mathematik und in den Naturwissenschaften informieren.

George Green | Von George Green gibt es kein Porträt.

Es ist nicht bekannt, seit wann Green eine Beziehung zu Jane Smith, der Tochter des Verwalters von Green’s Mill, hatte – und da sein Vater gegen eine solche Verbindung war, wurde das im Jahr 1824 geborene Mädchen namens Mary Ann als unehelich und nur unter dem Namen der Mutter registriert. Aus der dauerhaften Beziehung zwischen George Green und Jane Smith gingen insgesamt sieben Kinder hervor; das letzte war gerade einmal ein Jahr alt, als Green starb. Die weiteren Kinder trugen zwar den Familiennamen ihres Vaters, aber es kam nie zur Legalisierung des Verhältnisses – auch nicht, nachdem Georges Vater 1829 gestorben war. Green sorgte finanziell für seine Kinder und für deren Mutter. In den 1860er Jahren war die Mühle allerdings nicht mehr rentabel und musste den Betrieb einstellen; die Stadt pfändete das Grundstück.

1828 beschloss der 35-jährige George Green, auf eigene Kosten einen Beitrag drucken zu lassen: Für »An Essay on the Application of Mathematical Analysis to the Theories of Electricity and Magnetism« gab es 51 Vorbestellungen – die meisten kamen von Mitgliedern der Subscription Library, von denen vermutlich keiner den Inhalt der Schrift wirklich verstand. Es war historisch gesehen der erste Versuch, mit Hilfe von Methoden der Analysis elektrische Phänomene zu beschreiben.

Kaum verständlich, aber enorm wichtig

Einer der Vorbesteller war Sir Edward Thomas ffrench Bromhead, Absolvent des Caius College in Cambridge und des Inner Temple in London, Mitglied der Royal Societies von London und Edinburgh. Während seines Studiums hatte dieser zusammen mit John Herschel und Charles Babbage die Analytical Society gegründet, die sich zur Aufgabe machte, das Werk »Sur le calcul différentiel et intégral« von Sylvestre François de Lacroix ins Englische zu übersetzen, um so der bequemeren leibnizschen Notation auch in Cambridge zum Durchbruch zu verhelfen.

Auch wenn Bromhead die Ausführungen Greens nicht vollständig nachvollziehen konnte, ahnte er doch, welche Bedeutung die Schrift hatte. Er drängte Green, weitere Beiträge zu verfassen. Er übernahm deren Druckkosten und sorgte dafür, dass sie bei der Cambridge Philosophical Society beziehungsweise bei der Royal Society of Edinburgh veröffentlicht wurden: »Mathematical Investigations concerning the Laws of Equilibrum of Fluids analogous to the Electric Fluid«; »On the Determination of the Exterior and Interior Attractions of Ellipsoid of Varying Densities«; »Researches on the Vibration of Pendulums in Fluid Media«.

Eine Einladung Bromheads an Green, mit ihm seine alten Studienfreunde in Cambridge zu besuchen, lehnte dieser aus Bescheidenheit ab. Jedoch befolgte er dessen Rat, in Cambridge ein Studium zu beginnen, um einen akademischen Abschluss zu erwerben. Dank seines geerbten Vermögens war der inzwischen 40-Jährige finanziell in der Lage, seine Tätigkeit als Bäcker und Müller zu beenden und sich am Caius College einzuschreiben. Die Anforderungen in Mathematik bereiteten Green keine Mühe – großen Nachholbedarf hatte er allerdings in Latein, Griechisch und Kirchengeschichte. 1837 absolvierte er – entgegen der Erwartung seiner deutlich jüngeren Mitstudenten – nur als Jahrgangsvierter das Examen (im selben Jahr wie James Joseph Sylvester, der als Zweitbester abschloss).

Nun hoffte Green auf eine feste Stelle an der Universität. Bis es so weit war, vergingen noch einmal zwei Jahre, in denen er weitere Schriften verfasste (»On the Motion of Waves in a Variable Canal of small Width and Depth«; »Note on the Motion of Waves in Canals«; »On the Laws of Reflexion and Refraction of Light at the Common Surface of two non-crystallized Media«). Dass er zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Kinder hatte, spielte keine Rolle – er erfüllte ja eine wesentliche Voraussetzung für seine Wahl als Fellow, nämlich, dass er nicht verheiratet war.

Ein schnelles, tragisches Ende

Tragischerweise endete seine Tätigkeit als Fellow bereits nach wenigen Monaten: Er erkrankte schwer, kehrte nach Nottingham zurück und starb dort im Alter von nur 47 Jahren im Kreise seiner Kinder und seiner geliebten Jane.

Zu seinen Lebzeiten gab es so gut wie keine Reaktion auf die greenschen Schriften und sie drohten in Vergessenheit zu geraten. 1845, vier Jahre nach Greens Tod, erkannte der 21-jährige Student William Thomson, der spätere Lord Kelvin, deren Bedeutung und gab während eines Parisaufenthalts seine Begeisterung an Joseph Liouville und Charles François Sturm weiter. Zurück in Cambridge kümmerte er sich um eine Wiederauflage des Gesamtwerks (1850–1854). August Crelle veröffentlichte Anfang der 1850er Jahre Greens Essay von 1828 in seinem Journal.

In seiner Geburtsstadt Nottingham erinnerte sich bald niemand mehr an Green. Als Müller gehörte er eben »nur« zur Schicht der Handwerker, und dies war keine herausragende Position, in der man etwas galt. Hinzu kamen noch seine obskuren familiären Verhältnisse, die wenig Hochachtung bewirkten. Seine wissenschaftliche Karriere fand in Cambridge statt und wurde in seiner Heimat nicht wahrgenommen.

Erst 1937, nach einem Protestbrief der britischen Mathematikervereinigung an den Bürgermeister von Nottingham, ließ dieser Greens verfallenes Grab restaurieren. In den 1970er Jahren wurde auch die Mühle wieder in Stand gesetzt; heute befindet sich dort ein Wissenschaftszentrum.

»Er war seiner Zeit um 20 Jahre voraus«Albert Einstein

Da kein Porträt von George Green existiert, bleibt nur ein symbolisches Bild seiner Mühle als Erinnerung an den genialen Autodidakten, über den Albert Einstein im Jahr 1930 anlässlich eines Vortrags an der Universität von Nottingham urteilte: »Er war seiner Zeit um 20 Jahre voraus.«

Greens Schriften wurden zur Grundlage der Theorien, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem von William Thomson Lord Kelvin und James Clerk Maxwell weiterentwickelt wurden. Die von George Green verwendeten mathematischen Methoden, die – unabhängig von ihm – wenige Jahre später von Carl Friedrich Gauß und von George Stokes entwickelt wurden, lassen sich im Rahmen dieses Kalenderblatts nicht elementar darstellen.

Bedeutsam ist im Fall einer ebenen Kurve, dass sich der so genannte Satz von Green dazu nutzen lässt, ein Flächenintegral mit Hilfe eines Wegintegrals zu berechnen. In der Formulierung der »Sektorformel von Leibniz« lautet dieser Satz:

Ist eine glatte Kurve durch eine Parameterdarstellung \(\gamma(t):\ [a,b] \rightarrow \mathbb{R}^2 \) gegeben, dann überstreicht ein Fahrstrahl vom Ursprung ein Flächen¬stück, dessen orientierter Inhalt durch ein Integral berechnet werden kann:

\[A(\gamma) = \frac{1}{2}\cdot \int_a^b \left(x(t)\cdot y'(t) – y(t)\cdot x'(t) \right)dt\]

Beispiele: Der Rand eines Kreises lässt sich in einem x-y-Koordinatensystem mithilfe der Parameterdarstellung \(\gamma(t) = \left(r\cos(t), r\sin(t)\right)\) für 0 ≤ t ≤ 2π beschreiben.

Dann gilt für den Flächeninhalt A des von der Kurve eingeschlossenen Flächenstücks:

\[A = \frac{1}{2}\cdot r^2 \cdot \int_0^{2\pi} \left(\gamma_1(t)\cdot \gamma'_2(t)-\gamma_2(t)\cdot \gamma'_1(t) \right)dt \] \[ = \frac{1}{2}\cdot r^2 \cdot \int_0^{2\pi} \left(\cos(t)\cdot \cos(t)-\sin(t)\cdot \sin(t) \right)dt = \pi\cdot r^2 \]

Für eine durch \(\gamma(t) = \left(\cos^3(t), \sin^3(t)\right)\) definierte Astroide ergibt sich analog:

\[ A = \frac{3}{2} \int_0^{2\pi}\left(\cos^2(t)\cdot \sin^2(t) \right) = \frac{3}{8}\pi \]
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