Direkt zum Inhalt

Der Mathematische Monatskalender: Vito Volterra lehnte sich gegen Mussolini auf

Seine Karriere als Mathematiker wäre ihm fast nicht vergönnt gewesen. Doch Volterra wurde zu einem begnadeten Ausnahme-Wissenschaftler, der sich gegen die Faschisten auflehnte.
Eine rote Spielfigur abseits von vielen weißen Spielfiguren
Vito Volterra war einer von nur wenigen Professoren, die sich gegen das faschistische italienische Regime stellten.

Vito Volterra wurde als Sohn eines jüdischen Textilhändlers in Ancona geboren. Als Vito zwei Jahre alt war, starb der Vater; seine mittellose Mutter Angelica war gezwungen, mit dem Jungen zu ihrem Bruder Alfonso Almagià zu ziehen. 1865 wechselte Almagià auf eine Stelle bei der Nationalbank in Florenz, wo Vito dann auch zur Schule ging.

Bereits früh fiel sein besonderes Interesse an Mathematik auf: Mit elf Jahren begann er damit, Joseph Bertrands »Traité d'Arithmétique« und Adrien-Marie Legendres »Éléments de Géometrie« durchzuarbeiten. Mit 13 Jahren beschäftigte er sich nach der Lektüre von Jules Vernes Buch »De la Terre à la Lune« mit dem ballistischen Problem, ein Projektil von der Erde zum Mond zu schießen. Dafür unterteilte er den Vorgang in kurze Zeitintervalle und bestimmte jeweils die Auswirkungen der – in den Intervallen als konstant angenommenen – Gravitationskräfte von Mond und Erde auf das Geschoss, um somit näherungsweise die parabolische Flugbahn zu ermitteln. Über diese Episode berichtete er übrigens 40 Jahre später im Rahmen eines Gastvortrags an der Sorbonne und demonstrierte so eine Möglichkeit, wie man komplexe Vorgänge mathematisch erfassen kann.

Wegen der schwierigen finanziellen Situation der Familie drängte Alfonso Almagià seinen Neffen, den Schulbesuch zu beenden und eine Banklehre zu beginnen. Edoardo Almagià, ein entfernter Verwandter, Ingenieur und promovierter Mathematiker, sollte dabei helfen, den Jungen zur Berufsausbildung zu überreden. Als dieser jedoch bemerkte, welche mathematischen Fähigkeiten Vito besaß, stellte er sich hinter ihn und unterstützte die Fortsetzung des Schulbesuchs. Und als Vitos Physiklehrer vom geplanten Abbruch der schulischen Ausbildung hörte, schaffte dieser Fakten: Er besorgte dem hochbegabten Schüler eine Stelle als Hilfsassistent am physikalischen Laboratorium der Universität Florenz, und Vito konnte parallel weiter die Schule besuchen.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

1878 immatrikulierte sich Vito Volterra an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Florenz. 1880 nahm er erfolgreich an einem Wettbewerb der Hochschule in Pisa teil und erhielt ein Vollstipendium für die Scuola Normale Superiore.

In Pisa wurde er durch die beiden international angesehenen Professoren Enrico Betti und Ulisse Dini in besonderer Weise gefördert. Noch während seiner Studienzeit veröffentlichte Volterra mehrere Beiträge, darunter einen über punktweise unstetige Funktionen, was Henri Lebesgue zu weiteren Untersuchungen anregte.

Der Beginn einer steilen Karriere

Nach Volterras Promotion im Jahr 1882 über ein Thema aus der Hydrodynamik begann eine steile Karriere: Unmittelbar nach seiner Doktorprüfung wurde er als Bettis Assistent angestellt, im darauf folgenden Jahr war er mit seiner Bewerbung um eine Professorenstelle für Mechanik an der Universität von Pisa erfolgreich. 1887 ehrte ihn die italienischen Accademia Nazionale delle Scienze durch eine Goldmedaille, und die Accademia dei Lincei ernannte ihn zum korrespondierenden Mitglied.

Als Bettis Nachfolger auf dessen Lehrstuhl für Mathematische Physik wurde Volterra 1890 auch Dekan der Fakultät und übernahm von Betti die Herausgeberschaft der Fachzeitschrift »Nuovo Cimento«. 1892 wurde er von der Universität in Turin abgeworben, wo auch Giuseppe Peano lehrte. Mit diesem geriet der stets freundliche und zuvorkommende Wissenschaftler in einen unerfreulichen Prioritätsstreit, den er jedoch unbeschadet überstand. 1900 wurde Volterra Nachfolger von Eugenio Beltrami in Rom; in seiner Antrittsvorlesung »Sui tentativi di applicazione delle matematiche alle scienze biologiche e sociali« ging er auf die Anwendung mathematischer Methoden bei biologischen und sozialwissenschaftlichen Themen ein.

Vito Volterra (3.5.1860–11.10.1940)

Ebenfalls im Jahr 1900 heiratete er Virgina Almagià, eine Cousine zweiten Grades, Tochter von Edoardo Almagià. In der glücklichen Ehe wurden sechs Kinder geboren, von denen zwei jedoch kurz nach der Geburt starben.

Volterra war selten zu Hause, da er wiederholt zu Gastvorträgen an europäischen und amerikanischen Universitäten eingeladen und überall mit Ehrungen überhäuft wurde. Er ist bis heute der einzige Mathematiker, der viermal zu einem Hauptvortrag auf einem Internationalen Mathematikerkongress eingeladen wurde (Paris 1900, Rom 1908, Straßburg 1920, Bologna 1928).

Volterras Wirken in der Politik

In Anerkennung seiner Verdienste ernannte der italienische König Volterra zum Mitglied des Senats. Dort hielt er sich bei allgemeinen politischen Fragen zurück, beteiligte sich jedoch lebhaft, wenn es um Hochschulfragen ging. Dies änderte sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs; er ergriff Partei für die Kündigung des Bündnisses mit Deutschland und Österreich-Ungarn sowie für die Beteiligung Italiens auf Seiten der Alliierten Frankreich und Großbritannien. Obwohl er bereits 55 Jahre alt war, trat er als Offizier in eine Heeresgruppe von Ingenieuren ein, die sich mit dem Einsatz von Luftschiffen und Flugzeugen an der Front beschäftigten. Als einer der Ersten schlug er die Verwendung von Helium an Stelle von Wasserstoff für die Befüllung der Luftschiffe vor. Volterra selbst testete die Möglichkeiten, die Luftschiffe mit einem Geschütz auszustatten. 1917 übernahm er die Leitung des Amts für Waffen und Munition.

Als Mussolinis Faschisten im Oktober 1922 die Macht übernahmen, erkannte der überzeugte Royalist Volterra die Gefahr für die demokratischen Institutionen. In seiner Funktion als Präsident der Accademia dei Lincei unterzeichnete er eine Erklärung gegen den Faschismus, und als im Senat die von den Faschisten eingebrachten »Gesetze zur nationalen Sicherheit« diskutiert wurden, gehörte er zu den wenigen oppositionellen Senatoren, die überhaupt zu der Sitzung erschienen und gegen die Gesetze stimmten.

Von 1928 an wurde er als »politisch Verdächtiger« überwacht. 1931 erfolgte seine Entlassung von der Universität, als er sich weigerte, den Eid auf die Regierung abzulegen (nur zwölf Hochschullehrer in ganz Italien verhielten sich wie er). Sämtliche Institutionen in Italien wurden gezwungen, ihn aus ihren Mitgliederlisten zu streichen. Einziger Lichtblick: Auf Veranlassung von Papst Pius XI wurde Volterra 1936 als Mitglied in die päpstliche Akademie, die Pontificia Academia Scientiarum, aufgenommen, wo er auch zukünftig seine wissenschaftlichen Beiträge veröffentlichen konnte.

»Imperien mögen vergehen, aber Euklids Theoreme behalten ewige Jugend«Aufschrift auf Volterras Grabstein

Die 1930er Jahre verbrachte Volterra überwiegend im europäischen Ausland, dank zahlreicher Einladungen zu Vorträgen. Nach Inkrafttreten der Rassengesetze wurde ihm 1938 wegen seiner jüdischer Herkunft die italienische Staatsbürgerschaft entzogen; zwei seiner Söhne, die an Universitäten arbeiteten, emigrierten rechtzeitig.

Ende 1938 konnte Volterra aus gesundheitlichen Gründen einer Einladung zu einer besonderen Ehrung an der St Andrews University in Schottland nicht mehr folgen; er starb im Oktober 1940 in seinem Haus in Rom. Die Nachricht seines Todes wurde nur über die päpstliche Akademie verbreitet. Sein Grabstein trägt folgenden von ihm ausgewählten Spruch: »Muoiono gli imperi, ma i teoremi di Euclide conservano eterna giovinezza« (Imperien mögen vergehen, aber Euklids Theoreme behalten ewige Jugend).

Volterra gehörte – zusammen mit dem polnischen Mathematiker Stefan Banach – zu den Begründern der Funktionalanalysis, die sich mit Funktionsräumen und deren Eigenschaften beschäftigt; der Begriff wurde von Jacques Hadamard geprägt.

Auch außerhalb der Mathematik wurde Volterra durch die von ihm und fast zeitgleich vom österreichisch-amerikanischen Chemiker Alfred James Lotka gefundenen Lotka-Volterra-Regeln bekannt, die auch als Räuber-Beute-Gleichungen bezeichnet werden. Es handelt sich hierbei um ein Paar von nichtlinearen Differenzialgleichungen, durch die sich Veränderungen der Populationsgrößen xy beschreiben lassen: dxdt = αx − βxy und dydt = δxy − γy.

Beispiel: x = Anzahl der Kaninchen, y = Anzahl der Füchse, dxdt, dydt = momentane Änderungsraten.
Modellannahmen: keine Veränderungen der Bedingungen durch die Umgebung; Kaninchen: unbegrenzter Futtervorrat, exponentielle Vermehrung. Füchse: unbegrenzter Appetit, Verringerung der Anzahl der Füchse durch Tod oder Revierwechsel. Die Verringerung der Anzahl der Kaninchen beziehungsweise die Zunahme der Anzahl der Füchse ist proportional zu xy, jeweils vermindert um die Anzahl der »Begegnungen« x·y.

Volterra hatte diese Regeln bei der Analyse der Untersuchungsergebnisse seines Schwiegersohns, des Meeresbiologen Umberto d'Ancona, entdeckt. Der hatte festgestellt, dass wegen der reduzierten Fischerei während des Ersten Weltkriegs der Anteil der gefangenen Haie beim Fischfang zunahm und nach Intensivierung der Fischerei nach dem Krieg wieder geringer wurde.

Vito Volterra (3.5.1860–11.10.1940)

Datei herunterladen
PDF (248.7 KB)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.