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Mikrobiom: Was Darmbakterien wirklich können

Mittlerweile soll so ziemlich jedes Volksleiden auf das Konto einer aus der Balance geratenen Darmflora gehen. Doch die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, von fundierten Empfehlungen ist man weit entfernt.
Darmbakterien

Die Erforschung der Magen-Darm-Welt und seiner Bewohner boomt seit rund zehn Jahren: Immer mehr Forschungsgelder werden investiert, in hochkarätigen Fachzeitschriften erscheinen Artikel dazu, und auch in den Medien ist das Mikrobiom ein beliebtes Thema. Demnach soll so gut wie jede Zivilisationskrankheit – Diabetes, Übergewicht, Allergien, Darmkrebs, Nierensteine, Reizdarm, Depressionen, aber auch Autismus – auf das Konto einer Dysbalance in der Darmflora gehen. Empfehlungen zu mehr Probiotika oder darmfreundlichen Nahrungsergänzungsmitteln kursieren, entsprechende Ratgeber und Kochbücher sind im Angebot. Manche verurteilen schon pauschal Kaiserschnittgeburten, Tütenmilch für Babys oder Antibiotika – all dies kann nämlich die Zusammensetzung der Bakterien-WG im Darm verändern. Helfen soll die Stuhltherapie, die in amerikanischen Kliniken bereits als Therapie gegen Diabetes und Übergewicht beworben wird.

Allerdings scheint vieles noch sehr unausgegoren. Selbst Mikrobiom-Forscher warnen die eigene Zunft vor allzu euphorischen und voreiligen Schlussfolgerungen: Es gebe, meint etwa Dirk Haller von der TU München, »einfach zu viele Widersprüche«. So lassen sich zahlreiche Ergebnisse nicht replizieren. Oft sind gefundene Effekt sehr klein, Humanstudien rar und 60 Prozent der Bakterien obendrein unbekannt. Auch der Epidemiologe William Hanage von der Harvard Medical School warnte bereits 2014: »Der Hype ist gefährlich für Kranke, die in bestimmten Heilmethoden vergeblich ihr Glück suchen.« Er sieht neben den Forschern auch Pressestellen und Medienvertreter in der Verantwortung, sich vor Übertreibungen zu hüten und damit der Microbiomania nicht weiter Vorschub zu leisten.

»Viele Kollegen sind heute etwas übereifrig«Dirk Haller

Immerhin ist gesichert, dass Darmbakterien ihren Wirt, also den Menschen, beeinflussen. Sie fördern die Aufnahme von Nährstoffen ins Blut, indem sie den Transport durch die Darmzellen beschleunigen und den Fett- und Gallensäure-Stoffwechsel optimieren. Zudem bauen Dickdarmbakterien einen Teil der Ballaststoffe, die der Mensch sonst nicht verwerten könnte, zu kurzkettigen Fettsäuren wie Buttersäure ab – rund 30 Prozent der Stoffwechselprodukte im Blut sind mikrobieller Herkunft. Bakterien helfen obendrein bei der Entwicklung des Immunsystems, verwandeln unreife T-Zellen in reife. Und sie machen Giftstoffe und Krankheitserreger unschädlich. Dafür bietet der Mensch ihnen einen angenehmen Wohnort in einem wohltemperierten Milieu mit normalerweise ausreichend Futter – eine perfekte Symbiose.

Dass bestimmte Bakterien obendrein schlank machen und vor Diabetes schützen, ist eine derzeit besonders populäre Behauptung. Gerade das Volksleiden Zuckerkrankheit beschäftigt die Mikrobiomforschung, weil nach manchen Untersuchungen Diabetes und Übergewicht womöglich mit weniger diversen Darmmilieus einhergehen. Wer übergewichtig ist, habe demnach zum Beispiel viel mehr Firmicutes- im Vergleich zu Bakteroidetes-Arten im Darm. Allerdings ist hier die Studienlage widersprüchlich: Einige Forscher fanden diese Unterschiede, andere aber nicht, wie etwa 2010 Andreas Schwiertz vom Institut für Mikroökologie in Herborn.

Ursache oder Folge einer veränderten Darmflora?

Fraglich bleibt auch, ab wann eine verringerte Diversität krankhaft wird oder einfach eine Anpassung an veränderte Lebensumstände darstellt. »Was genau ein gesundes Mikrobiom ist, ist tatsächlich weitgehend unklar«, kommentierte Elisabeth Bik, Mikrobiologin an der Stanford University in einem Review 2016. Zwar beherbergen Jäger-Sammler-Kulturen in Südamerika und Afrika grundsätzlich andere und viel unterschiedlichere Darmbewohner als Menschen in Industrienationen, und gleichzeitig leiden sie tatsächlich seltener unter Zivilisationskrankheiten. Aber: Auch gesunde Menschen in reichen Ländern haben eine reduzierte, mikrobielle Artenvielfalt. Manche tragen gar potenziell krank machende Keime wie Clostridium difficile im Darm, ohne krank zu werden. Und Schwangere im dritten Trimester haben ein ähnliches Mikrobiom wie Menschen mit metabolischem Syndrom. Trotzdem wird in Forscherkreisen häufig von Dysbiose gesprochen, also einer Störung der Darmflora.

Und hier kommt ein weiteres Problem ins Spiel. Wenn die Diversität verändert ist, ist dies Ursache oder Folge der Krankheit? Am Beispiel Diabetes hat das etwa Kristoffer Forslund, Forscher am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg, 2015 in einer Studie mit 784 Probanden untersucht. Hier zeigte sich bei den untersuchten Diabetespatienten, dass ihre typischen Veränderungen der Darmflora komplett auf das Antidiabetikum Metformin zurückzuführen war und nicht auf ihre Erkrankung: Diabetiker, die kein Metformin erhielten, wiesen eine Darmflora auf wie gesunde Vergleichspersonen. Auch bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist belegt, dass die Darmflora empfindlich verändert ist. Jedoch ernähren sich diese Patienten auch typischerweise anders als Gesunde und nehmen zudem oft über lange Zeit Medikamente ein. Also »ist nicht klar, ob die veränderte Darmflora die Krankheit auslöst oder Folge von Diät oder Arzneien ist«, sagt Elisabeth Bik.

»Was genau ein gesundes Mikrobiom ist, ist tatsächlich weitgehend unklar«Elisabeth Bik

Ein in epidemiologischen Studien gefundener Zusammenhang reicht eben nicht aus. Wenn Darmbakterien Krankheiten verursachen, dann müssen auch die Mechanismen bekannt sein. Hieran wird ebenfalls emsig geforscht, vor allem mit keimfreien Mäusen. So gibt es etwa die Theorie, dass bestimmte Darmbakterien besonders gut Ballaststoffe im Darm abbauen, Einfachzucker vermehrt durch die Darmwand manövrieren oder helfen, Fettdepots anzulegen. Durch all dies werde dem Wirt mehr Energie zugespielt, was gleichsam dick mache, während schlank machende Keime die Bildung von Sättigungshormonen vorantreiben sollen. Andere glauben, dass Entzündungsmechanismen und ein Barriereverlust im Darm Adipositas und Diabetes zu Grunde liegen könnten. Denn durch einen löchrigen Darm gelangten toxische Bakterienbruchstücke ins Blut, was zu Mini-Entzündungen führe und die Insulinsensitivität einschränke. So hat es etwa der Wissenschaftler Patrice Cani von der Université catholique de Louvain in einer viel beachtete Mäusestudie aus dem Jahr 2007 gezeigt. In anderen Laboren konnten diese Ergebnisse jedoch nicht bestätigt werden. Wie genau der Darm dick und diabeteskrank machen soll, ist also bislang ungeklärt.

Obendrein stellt sich vielen die Frage, ob Mäuse sich überhaupt als Modell eignen. Der Harvard-Wissenschaftler Hanage ist skeptisch: »Keimfreie Mäuse sind nicht gesund und spiegeln nicht unbedingt wider, was passiert, wenn die Mäuse eine normale Flora haben.« Zudem ist die Bakterienflora der Maus anders zusammengesetzt, weil sie an andere Habitate angepasst ist. Haller meint hingegen, dass Mäusestudien nötig sind, um die dahinterstehenden Mechanismen zu erforschen. Man müsse allerdings die Studien sehr genau durchdenken und interpretieren, zudem müssten sie replizierbar sein. Doch das sind sie bislang nicht. Woran das liegen könnte, darauf machten 2016 Max-Planck-Forscher aufmerksam: Je nach Lebensverhältnissen reagieren Labortiere und ihr Innenleben anders auf Veränderungen. Bei Überernährung führte etwa nur ein dreckiger Tierstall zu einer erhöhten Darmdurchlässigkeit, nicht aber ein sauberes Gehege.

Transplantierter Stuhl

Ein zuletzt mehrfach erfolgreicher Eingriff scheint allerdings die Rolle des Mikrobioms als Ursache von Erkrankungen zu unterstreichen: die Stuhltransplantation von Mensch zu Mensch. Sie wird etwa bei Patienten mit schwerer Clostridium-difficile-Infektion angewandt und zeigt auch bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) und Reizdarm erste Erfolge. »In Sachen CED sind auch epidemiologische Studien und Mäuseversuche eindeutig gewesen, was auf eine Rolle der Mikroben hindeutet«, erläutert Haller. Gleiches gelte für Reizdarm, Diabetes Typ 1 und Darmkrebs. Mehrere Studien haben etwa belegt, dass Darmkrebs zu einem speziell umorganisierten Mikrobiom führt. Dies könnte man zukünftig als Diagnoseinstrument heranziehen, das genauer als der derzeit übliche Hämokkulttest wäre und invasive Eingriffe vermeiden könnte. Trägt man die Beweislage für Übergewicht und Diabetes zusammen, wird es jedoch dünn. Haller glaubt, dass das Mikrobiom eher einen geringen Anteil an der Entstehung dieser Stoffwechselstörungen hat.

Bislang ist auch nicht belegt, ob sich über die Ernährung oder andere Lebensstilfaktoren wie Sport das Darmmilieu in eine gewünschte Richtung lenken lässt. Zwar unterscheidet sich die Darmflora von Veganern und Mischköstlern nicht substanziell, sehr wohl ändert sich die Besiedlung aber, wenn man seine Ernährung umstellt, also als Fleischesser plötzlich zum Vegetarier wird. Unklar ist dabei, ob das dermaßen gewandelte Mikrobiom dann für die bessere Gesundheit der Vegetarier zumindest mitverantwortlich sein könnte oder ob es nicht eher die anderen Inhaltsstoffe der pflanzenreichen Kost sind, die etwa das Herzinfarktrisiko reduzieren – dazu fehlen Langzeitstudien. Es gibt nur einen Fall, wo Haller schon heute eine Empfehlung aussprechen würde: Ballaststoffe hält er zumindest für schützend in Sachen Darmkrebs.

Probiotika haben sich dagegen bislang nicht bewährt. Laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA gibt es keine Beweise, dass die aufgereinigten Darmkeime wie Laktobazillen auch tatsächlich gesundheitsförderlich sind. Allerdings wird das Mikrobiom durch Gene (rund zehn Prozent der Bakterienvielfalt) und zahlreiche Umweltfaktoren geprägt. So spielen die Art der Geburt und frühkindlichen Ernährung, Anzahl der Geschwister, geografische Verhältnisse, Hygienebedingungen, Infektionen, Arzneien und vieles mehr vor allem im Kindesalter eine Rolle. Auch das Geschlecht beeinflusst die Zusammensetzung. Es verwundert also nicht, dass sich ein so hochkomplexes System nicht durch die Gabe eines einzelnen Keimes maßgeblich verbessern lässt.

Andererseits ist klar, dass ein allzu laxer Umgang mit Antibiotika nicht förderlich für das harmonische Zusammenleben ist. Bei einer entsprechenden Therapie verändert sich die Bakterienzusammensetzung dramatisch, eine Erholung tritt oft erst nach einem halben Jahr ein. Das wiederum führt zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Infektionen wie Lungenentzündung oder Clostridium difficile. Antibiotikagaben bereits im Kindesalter stören die Entwicklung des Mikrobioms empfindlich, wie unter anderen eine Studie des Mikrobiologen Willem de Vos von der Universität Helsinki zeigte – welche Folgen das hat, ist aber noch nicht ausreichend erforscht.

Bei aller Kritik am derzeitigen Hype glaubt Haller, dass das Mikrobiom ähnlich wie das Erbgut ein wichtiges biologisches Instrumentarium ist, mit dem man Krankheiten erklären und möglicherweise heilen können wird. »Nur sind viele meiner Kollegen heute etwas übereifrig.« Und das ist schlecht: Schließlich weiß er als Ernährungswissenschaftler, wie schnell eine Disziplin mit voreiligen Schlussfolgerungen an Glaubwürdigkeit verlieren kann. Das, so Haller, »möchte ich für die Mikrobiomforschung vermeiden«.

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