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Wahrnehmung: Kommen Halluzinationen auch bei Gesunden vor?

Viele haben schon einmal eine Halluzination gehabt. Der Neuropsychologe Erich Kasten erklärt, wie Trugwahrnehmungen auch abseits von psychischen Erkrankungen entstehen können.
Das Gesicht eines schreienden Mannes überlagert von bunten Streifen.

Jede Wahrnehmung entsteht im Gehirn. Dort werden äußere Reize verarbeitet, dieselben Hirnareale sind aber auch in der Lage, ein inneres Abbild vergangener Eindrücke und sogar Fantasien zu erschaffen. Anders hätten weder Hieronymus Bosch seine Höllenvisionen noch George Lucas "Star Wars" kreieren können. Gesunde sind normalerweise problemlos in der Lage, die äußere Wirklichkeit von der inneren Vorstellung zu unterscheiden. Das kann ein psychotischer Patient oft nicht mehr. Menschen mit Schizophrenie beispielsweise erleben Gedanken als real und von außen gesteuert. Meist hören sie beleidigende, verletzende Stimmen, die es gar nicht gibt.

Halluzinationen entspringen den gleichen Hirnregionen, die auch bei psychisch Gesunden akustische, visuelle oder taktile Reize verarbeiten. Die Teile des Kortex, die Sprache und innere Bilder erzeugen, entfalten bei Trugwahrnehmungen eine Art Eigenleben. Nervenzellen zeigen eine gewisse Spontanaktivität, feuern also gelegentlich, obwohl sie gar nicht »an der Reihe« sind. Normalerweise blendet das Gehirn diese spontanen Wortmeldungen einfach aus. Nebensächliches ignorieren wir automatisch; so wird unser Bewusstsein nicht ständig von einer Unzahl störender Informationen überflutet. Hierfür verfügt unser Denkorgan über spezielle neuronale Kontrollsysteme. Erst wenn diese Mechanismen etwa auf Grund einer Hirnschädigung versagen oder die Hirnareale, die innere Vorstellungen erzeugen, zum Beispiel wegen Drogenkonsum überaktiv sind, dringen solche Eindrücke ins Bewusstsein, und wir sehen, hören, riechen, schmecken oder spüren etwas, was gar nicht da ist.

Man muss allerdings keineswegs psychisch krank sein, um derartige Phänomene zu erleben. Wir alle haben Nacht für Nacht innere Vorstellungen, die wir als erschütternd echt empfinden, nennen sie jedoch Träume. Extremsituationen können bei psychisch Gesunden auch im Wachzustand vorübergehend zu Halluzinationen führen. Massiver Stress, vor allem in Verbindung mit Schlafstörungen und Übermüdung, sind typische Auslöser. Drogen wie LSD, gewisse Medikamente und Trancezustände lassen uns ebenfalls halluzinieren. Auch Alkoholentzug und sogar Hunger können zu Trugwahrnehmungen führen. Viele Epileptiker erleben kurz vor einem Anfall Halluzinationen, Diabetiker können sie im Zustand der Unterzuckerung haben und Patienten auf der Intensivstation leiden häufig im Rahmen eines Delirs darunter.

Unsere Intelligenz haben wir uns mit einem gierigen Gehirn erkauft. Nervenzellen schreien im Grunde stetig nach Stimulation und wenn von außen gerade nichts kommt, malen sie sich ihre Bilder eben selbst. Halluzinationen faszinieren uns auch: Derzeit gibt es in manchen Großstädten so genannte Samadhi-Tanks. Hier schwebt man jeglicher Sinnesreize beraubt in körperwarmem Wasser. Nach kurzer Zeit produziert das Gehirn eine Fülle »selbst gemachter« Eindrücke, die als erstaunlich echt erlebt werden. Eine 90-Jährige, die überzeugend berichtet, gerade gestern Besuch von ihrem Großvater gehabt zu haben, muss ebenfalls nicht zwangsläufig dement sein, denn auch Einsamkeit erzeugt Trugbilder. Halluzinationen sind also keineswegs immer ein Indiz für eine psychische Erkrankung. Sie sind sogar erstaunlich häufig: In einer internationalen Umfrage unter Gesunden gab mehr als jeder 20. an, schon einmal eine erlebt zu haben.

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  • Quellen

Kasten, E.: Die irreale Welt in unserem Kopf – Halluzinationen, Visionen, Träume. Ernst Reinhardt, München 2008

Keup, W.: Origin and Mechanisms of Hallucinations. Springer, Berlin und Heidelberg 2014

Olbrich, H.-M.: Halluzination und Wahn. Springer, Berlin und Heidelberg 1987

Siegel, R. K.: Halluzinationen – Expedition in eine andere Wirklichkeit. Eichborn, Frankfurt am Main 2000

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