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Springers Einwürfe: Wie funktioniert ein Aufstand?

Michael Springer
Kürzlich stand ich in Boston vor einem Denkmal, das einen stolz ins Weite schauenden Mann in altertümlicher Kleidung zeigte. Darunter stand: "Samuel Adams (1722 – 1803). A Patriot. He organized the Revolution and signed the Declaration of Independence." Davor paradierten Soldaten, manche historisch kostümiert, andere in modernen Tarnuniformen. Denn heute sind die USA, die einst aus dem Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft hervorgingen, selbst in mehreren Teilen der Welt führend an der Niederschlagung von Rebellionen beteiligt, insbesondere in Irak und Afghanistan. Dort handelt es sich freilich nicht mehr um klassische antikoloniale Unabhängigkeitskriege, sondern um dezentrale Widerstandsbewegungen, die mit terroristischen Einzelaktionen einen "asymmetrischen Krieg" gegen multinational unterstützte und dennoch schwache Regierungen führen.

Haben diese modernen Aufstände etwas gemeinsam? Eine Gruppe von Forschern um den britischen Physiker und Komplexitätstheoretiker Neil F. Johnson, seit Kurzem an der University of Miami (Florida) tätig, behauptet, sein quantitatives Modell könne einen generellen Mechanismus dahinter offenbaren (Nature, Bd. 462, S. 911).

Das Team hat gut 50 000 blutige Ereignisse in neun über die Welt verstreuten Konflikten analysiert und dabei ein schon früher entdecktes einfaches Potenzgesetz bestätigt gefunden: Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses mit x Todesopfern ist stets ziemlich genau proportional zu x hoch -2,5. Demnach ist ein relativ begrenzter Terrorakt mit 10 Opfern 316-mal wahrscheinlicher als ein großer Aufruhr mit 100 Toten, denn 10 hoch 2,5 ist 316. Das gilt, so die Autoren, für Bürgerkriege in Sierra Leone wie in Peru, für Terroranschläge in Indonesien wie in Israel.

Zur Erklärung dieser generellen Aufstandsformel präsentieren die Forscher ein Modell, das von kleinen, spontan entstehenden und sich rasch wieder zerstreuenden Gruppen ausgeht. Es fehlen zentrale Anführer wie beim amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wo Feldherren wie George Washington oder politische Repräsentanten wie besagter Samuel Adams als Katalysatoren für die Bildung einer Nation wirkten.

An die Stelle solcher Identifikationsfiguren treten unpersönliche Institutionen mit unstillbarem Hunger auf Neuigkeiten: die Nachrichtenmedien. Ein virtueller Anführer wie Bin Laden ist längst nur noch als Videobotschaft präsent, und die Terroraktionen der Aufständischen zielen auf maximales Medienecho ab. Infolgedessen konkurrieren die Guerillagruppen um Präsenz in den Nachrichten. Eine Gruppe von Aufständischen wird für ihren Anschlag bewusst einen ruhigen Tag ohne Zwischenfälle wählen, da die Aktion sonst in anderen Schreckensmeldungen unterginge.

Aus solchen Mechanismen erklärt das Team um Johnson das offenbar allgemein gültige Potenzgesetz für moderne Aufstände, wonach kleine Überraschungsattacken den schwelenden Aufstand dominieren, während die Wahrscheinlichkeitskurve zu großen Terrorakten mit vielen hunderten Toten hin stark abfällt.

Eine naheliegende Konsequenz aus diesem Befund wäre natürlich eine totale Nachrichtensperre. Doch das können allenfalls zentralistisch-diktatorische Regime durchsetzen – und auch nur, solange der Aufstand klein bleibt. So erklärt sich, warum Unruhen wie in Tibet oder unter den Uiguren weltweit erst bekannt wurden, als sie ganze Städte und Regionen erfassten. Dort finde ich Johnsons Modell sozusagen negativ bestätigt: Kleine Terrorakte würden nie in die zentral gelenkten Medien gelangen – und aus eben diesem Grund kommen sie, da zwecklos, vermutlich auch gar nicht erst vor.

Michael Springer ist ständiger Mitarbeiter bei Spektrum der Wissenschaft.

Dieser Beitrag erschien in der Februar-Ausgabe 2010 von Spektrum der Wissenschaft.

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