Direkt zum Inhalt

Mathematische Knobelei: Zwei Schatten

Seit seiner Jugend hatte Franz K. in Prag gelebt, gelernt und gearbeitet, ohne sich auch nur das geringste Verschulden anzulasten oder wenigstens einem der anderen Bewohner der Stadt unangenehm aufzufallen. Alleine, nur begleitet von seinem Schatten, ging er durch die abendlichen Straßen in Richtung seiner Wohnung.
An diesem Abend hatte K. es nicht eilig. Seine Angelegenheiten liefen überaus zufrieden stellend, die Arbeit hatte ihm nicht viel Mühe gemacht, und die Kollegen waren freundlich gewesen, wie sie es stets zu sein pflegten an einem Freitag. In seinem tadellosen Anzug mit dem etwas steifen Kragen, der K. zwar ein wenig das Atmen erschwerte, doch dafür seiner Erscheinung einen zusätzlichen Hauch Vertrauen erweckender Seriosität verlieh, folgte er gemessenen Schrittes der Straße, bog aus einer plötzlichen Laune heraus in eine Seitenstraße ein und fand sich vor der mächtigen Fassade einer Basilika im romanischen Stil wieder. Hier war K. niemals zuvor gewesen, noch hatte er von der Existenz dieser Kirche gewusst. Die wuchtige Erscheinung der schweren Mauern atmete eine beklemmende Düsternis aus, welcher sich die Verlockung des Rätselhaften hinzugesellte. Kurz entschlossen trat K. an das Portal, drückte den Öffner, dessen Form den Konturen eines überdimensionalen Käfers entsprach, öffnete die Tür, welche erstaunlich leicht in ihren Angeln aufschwang, und trat ein.

Kaum hatte K. die Halle betreten, schloss sich die Tür hinter ihm. Es war dunkel. K. brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und das Licht der einzigen Kerze wahrnahmen, die schräg hinter ihm an der Wand befestigt war, dick wie ein Arm und mehrere Meter lang. Ihr Docht brannte flackernd hoch über seinem Kopf und warf einen unruhigen Schatten in die düstere Halle, in welcher es, dem Brauchtum damaliger Zeit durchaus entsprechend, keine Chorstühle, Bänke oder andere Sitzgelegenheiten gab. Zögerlich, um nicht etwa einen möglichen weiteren Besucher des Gotteshauses anzustoßen oder gegen ein vielleicht doch vorhandenes, aber wegen der mangelnden Beleuchtung nur schwer zu erkennendes Möbel zu treten, machte K. einige Schritte in den Raum hinein. Indes hielt er ob des Widerhalls, der die lastende Stille zerriss, bald inne. Er stand nun fünf Meter von der Wand entfernt, von welcher die einsame Kerze ihr schwaches Leuchten aussandte, und sein Schatten erstreckte sich über drei Meter, obwohl K. selbst mit Schuhen nur einen Meter und achtzig Zentimeter maß.

Da vernahm er ein klickendes Geräusch, das zunächst kaum vernehmbar, als sei es nur eine Täuschung der Sinne, hervorgerufen durch den ungewöhnlichen Mangel an Eindrücken in dieser seltsamen Umgebung, allmählich klarer und lauter wurde und sich ihm näherte. K. wagte nicht, sich umzudrehen und durch diese unbedachte Bewegung womöglich erst auf sich aufmerksam zu machen. Im Schattenspiel auf dem Boden gewahrte er das Erscheinen eines weiteren Umrisses neben seinem eigenen, obgleich diese neue Kontur keinesfalls die Züge eines Menschen nachzeichnete, sondern vielmehr einem riesenhaften Insekt ähnelte. Einer Gottesanbeterin. Das alleine hätte K. keineswegs seines Mutes beraubt, bestünde auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit, dass der mittlerweile fünf Meter lange Schatten lediglich die grotesk vergrößerte Projektion einer weit entfernt sitzenden Gottesanbeterin von durchaus natürlichen Ausmaßen wäre. Im Augenwinkel erblickte K. jedoch direkt neben sich zwei mit scharfen Widerhaken besetzte Greifarme in festen Chitinpanzern.

Es war nur der Dunkelheit zu verdanken, dass die Gottesanbeterin, deren Facettenaugen beim schwachen Licht ebenso schlecht Informationen aufnehmen konnten wie die Augen ihrer Beute, K. nicht sofort getötet und verspeist hatte. Dessen vollkommen bewusst verfolgte K. seine Strategie der Regungslosigkeit weiter und beobachtete, wie sein Schatten im Laufe einer Stunde wegen der gleichmäßig abbrennenden Kerze allmählich auf vier Meter Länge anwuchs, jener der Gottesanbeterin entsprechend mehr. Im Bemühen, einen Weg aus seiner verzweifelten Lage zu finden, strengte er sich an, Strukturen in der Halle auszumachen, die ihm vielleicht als Versteck dienen oder in anderer Weise von Nutzen sein könnten. Doch abgesehen von einem Altar, der zwanzig Meter von ihm und dem Insekt in der Richtung stand, in welche ihre Schatten wiesen, war das Hauptschiff vollkommen leer, und die Seitenschiffe verloren sich zur Gänze im Dunkeln.

Die Situation hatte sich in einem metastabilen Zustand der Ruhe gefangen, mit der lauernden Gottesanbeterin, die ohne es zu wissen an der Seite ihrer Beute stand und auf ein unbedachtes Zucken, einen hoffnungslosen Fluchtversuch oder ein anderes Zeichen des Verrats am eigenen Leben wartete, dem fortwährend nach einer Lösung grübelnden K. und ihrer beider Schatten, die im Lichte der kürzer werdenden Kerze langsam auf den Altar zustrebten. Als die Spitze des Schattens der Gottesanbeterin den Fuß des Altars berührte, drehte K. seinen Kopf, um dem Patt, das nun schon eine ihm unbekannte Zeit andauerte, ein Ende zu bereiten. Im gleichen Augenblick trennte das Insekt mit einem einzigen Hieb sein Haupt vom Körper.

Wie lange hatte K. unbeweglich neben der Gottesanbeterin ausgeharrt?
Schweißgebadet wachte Franz K. aus seinem Albtraum auf, der in der realen Welt nur Minuten dauerte. In der düsteren Traumwelt verging jedoch deutlich mehr Zeit. Schauen Sie nach, ob auch Sie auf die richtige Lösung unserer mathematischen Knobelei gekommen sind!
Fassen wir die Angaben zusammen, die wir zur Lösung der Aufgabe brauchen. Zunächst für die Zeit t = 0:

- Die Position von Franz K. und der Gottesanbeterin liegt 5 Meter vor der Wand respektive der Kerze.
- Die Länge slF von Ks Schatten beträgt 3 Meter.
- K. ist 1,8 Meter groß.
- Der Schatten der Gottesanbeterin misst slG = 5 Meter in der Länge.

Zur Zeit t = 1 Stunde ist ein neuer Wert für die Ks Schattenlänge gegeben:

- Die Länge slF beträgt nun 4 Meter.

Schließlich kennen wir noch die Entfernung zum Altar:

- Sie beträgt 20 Meter.

Berechnen wir zunächst die Höhe der Kerzenflamme hK zur Zeit t = 0 vom Boden aus gerechnet. Aus der Abbildung ist ersichtlich, dass wir die Höhe nach dem Strahlensatz ausrechnen können. Es gilt:

hK / (slF + 5) = hF / slF

Damit ist hK:

hK = hF / slF·(slF + 5)

Einsetzen liefert für die Zeit t = 0 eine Höhe von 4,80 Meter.

Analog berechnen wir die Kerzenhöhe hK zur Zeit t = 1 Stunde. Zu diesem Zeitpunkt ist der Schatten von K. bereits 4 Meter lang. Für hK ergeben sich damit 4,05 Meter.

Da die Kerze laut Aufgabenstellung gleichmäßig abbrennt, schrumpft sie mit 0,75 Metern pro Stunde.

Berechnen wir nun die Größe der Gottesanbeterin zur Zeit t = 0, damit wir mit diesem Wert die Flammenhöhe für den Moment ermitteln können, in dem ihr Schatten den Altar berührt. Zunächst zur Größe der Gottesanbeterin hG. Auch hier nutzen wir den Strahlensatz um auf folgende Beziehung für hG zu kommen:

hG = hK / (slG + 5)·slG

Damit erhalten wir eine stattliche Größe von 2,4 Meter für das Insekt. Die Flammenhöhe berechnen wir nun wie im obigen Fall, nur dass wir diesmal nicht die Größe und Schattenlänge von K. benutzen, sondern die der Gottesanbeterin:

hK = hG / slG · (slG+5)

Die Kerzenflamme ist also im Laufe der Zeit auf eine Höhe von 3 Metern abgebrannt. Das heißt, die Kerze ist um genau 1,80 Meter geschrumpft. Mit der oben ermittelten Brenngeschwindigkeit errechnen wir eine Dauer von 2,4 Stunden oder 2 Stunden und 24 Minuten.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.