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Futur III: Das Ende ist der Anfang

Eine Kurzgeschichte von Mike Adamson
Braut mit Eishockeymaske und blutigem Hackmesser in der Hand

Der Mord ist aus dem menschlichen Zusammenleben fast verschwunden – nicht etwa wegen höherer Moralstandards oder spiritueller Veredelung, sondern einfach deshalb, weil es nicht mehr zutrifft, dass Tote für immer schweigen.

Der Nachmittag strahlt hell und warm; auf den Terrassen der glitzernden vertikalen Architektur von Neu-Johannesburg drängen sich die Passanten, und Roboter gehen ihrer Arbeit nach. Ich flaniere im Sonnenschein, genieße die vom Meer hereinwehende Brise, und der Friede scheint ungetrübt. An meinen ursprünglichen Namen erinnere ich mich kaum – ich müsste meine Daten checken, aber im Moment ist das ein unwichtiges Detail. Ich muss jemanden treffen, bin mir meiner Gefühle jedoch nicht sicher. Werde ich mich bei dieser Person bedanken oder ihr mit der hydraulischen Kraft, die sich in meinen schlanken, ebenholzschwarzen Armen verbirgt, den Kopf abreißen?

Gegen Ende des 23. Jahrhunderts hat sich die Menschheit über die Sterne ausgebreitet. Unsere Schiffe haben mehr als 100 neue Welten besucht, und die gute, alte Erde schüttelt die Verheerungen ihrer Vergangenheit ab. Die Übervölkerung ist kein Problem mehr, die Technik hat so manchen Mangel beseitigt. Zu den umwälzenden Erfindungen unserer wie neugeborenen Spezies zählen die vielen Strategien, durch die der Tod aufgehört hat, unumstößlich zu sein.

Mich ereilte der Tod in einem der Überschallzüge, die mit magnetischem Induktionsantrieb durch evakuierte Röhren in alle Welt rasen. Bei einem Unfall werden die Passagiere durch zahlreiche Schutzmechanismen gerettet, aber ich hatte das Pech, einer Stütze aus Kunststoffbeton und verstärkten Legierungen im Weg zu stehen, die unter der Masse des entgegenkommenden Kairo-Neu-Jo'burg-Expresszugs kollabierte. Nachher sagte man mir, es sei sehr schnell gegangen, ich hätte nicht leiden müssen. Ein schneller, sauberer Abgang.

Erst später fand ich heraus, dass manches unklar war. Mein Körper war nicht völlig zerstört worden, man hätte lebenswichtige Systeme stilllegen und reparieren können. In manchen Kreisen wurden Zweifel laut, Überprüfungen versprochen, aber ich hörte nichts mehr – bis mir ein beteiligter Arzt im Vertrauen mitteilte, dass der leitende Medizintechniker, anstatt die möglichen Alternativen weiterzuverfolgen, die sofortige Cyber-Inkarnation verfügt hatte.

Cyber-Inkarnation ist die übliche legal zulässige Notlösung, bei der man die Persönlichkeit von der chemischen Matrix des Gehirns herunterlädt und speichert, um sie dann in einer der verfügbaren Prothesen zu reanimieren – je nach Wunsch des Betreffenden als Cyborg, Android oder Festkörperhologramm. Natürlich können sich nur die Reichen einen eigenen neuen Körper leisten; wir übrigen müssen uns mit einem Timesharing-Arrangement begnügen. Das ist zwar manchmal unbequem, hat aber auch gewisse Vorteile.

Gestern war ich ein tollkühner Surfer, der auf turmhohen Wellen landeinwärts ritt. Am Tag davor schwelgte ich in musikalischen Fantasien, welche mir die Programmierung meines zeitweiligen Hologramms ermöglichte; ich hatte nie zuvor Klavier gespielt, will es aber gewiss wieder tun. Heute stecke ich in einem Körper, den ich vor meinem verfrühten Hinscheiden beneidet hätte: lang und schwarz und eindrucksvoll in fließende Blautöne gehüllt. Die Schöne zieht die Blicke auf sich, und ich genieße die Tatsache, dass niemand weiß, wer ich bin. Nur die Toten erkennen einander; wir spüren die Trugbilder, zu denen wir geworden sind, und tauschen ein wissendes Lächeln, denn wir bilden jetzt eine Elite.

Da: Der Mann, hinter dem ich her bin, nimmt in dem Freiluftcafé vor der Glasfront eines aufragenden Hotels Platz, im kühlen Schatten der Landeplätze hoch oben. Um diese Zeit macht er Mittagspause.

Ich schreite selbstbewusst hinüber, der Schall meiner Absätze mischt sich mit dem Geräusch der Passanten, bis ich in den Sitz ihm gegenüber gleite und stumm seinen Blick fixiere. Er ist nicht unattraktiv: dichtes blondes Haar über einem markanten Schädel mit energischem Kinn. Die Verjüngung ist in der Tat hervorragend gelungen; sie spult seine 120 Jahre auf ansehnliche 30 zurück, und ich merke, dass er meine Hülle aus Fleisch, Metall und Kunststoff anerkennend mustert. »Doktor Rensburg«, stelle ich zur Eröffnung fest.

Ein Robokellner schwebt in der Nähe. Rensburg bestellt leise Tee – für zwei.

»Sie sind mir offenbar in einem Punkt voraus«, murmelt er. »Hat man das nicht früher so ausgedrückt?«

Ich reiche ihm eine wohlgeformte Hand, bevor ich lächle und noch einmal die Daten checke – Onika, ja, so heiße ich jetzt. »Onika Kabila.«

Er runzelt die Stirn, kann damit nichts anfangen. »Kennen wir uns?« Jetzt grinst er schelmisch. »Ich kann doch jemanden, der so bezaubernd aussieht wie Sie, unmöglich vergessen haben.«

Ich schenke ihm das Lächeln, das seine Worte verdienen. Dann lehne ich mich zurück und starre aufs Meer, während uns die Drohne mit edlem Porzellan und einer Glaskanne bedient. Als wir die Tassen mit duftendem Tee zum Mund führen, fasse ich einen Entschluss: Ich werde ihn nicht töten.

Heute stecke ich in einem Körper, den ich vor meinem verfrühten Hinscheiden beneidet hätte: lang und schwarz und eindrucksvoll in fließendes Blau gehüllt

Stattdessen hebe ich meine Tasse zum Gruß. »Danke«, flüstere ich, und mein Lächeln ist auf einmal nicht künstlich. »Sie hätten mich zurück in meinen lebendigen Körper verpflanzen können, aber Sie haben mich eigenmächtig umgetopft. Wie ich weiß, erhalten Sie für jeden Patienten, den Sie in einen Ersatzkörper schicken, eine finanzielle Zuwendung von den Kybernetik-Firmen, damit der An­droid-Industrie nie die Aufträge ausgehen, und lange Zeit wollte ich Sie dafür umbringen.«

Er macht große Augen, und meine elektronischen Sinne nehmen beschleunigten Puls wahr, geweitete Pupillen und ein Dutzend weitere Anzeichen. »Aber man würde Sie nur in einen weiteren Festspeicher verpflanzen – und ich bin nicht so hasserfüllt, dass ich Ihr Gehirn völlig zerstöre, um das zu verhindern.«

Mein Blick fixiert ihn scharf, während ihm vor der Ungewissheit des Augenblicks schwindelt. »Aber wissen Sie was? Ich mag, wo ich jetzt bin. Es ist nicht so anders – und in mancher Hinsicht sogar besser.« Ich nehme noch einen Schluck, erhebe mich, beuge mich über den Tisch und sage ihm leise ins Ohr: »Also wünsche ich Ihnen Glück und langes Leben, hoffe aber, dass Sie in Zukunft Ihren Patienten die Entscheidung überlassen.«

Ich schreite hinaus in die Sonne und verliere mich in der Menge auf den Terrassen. Ich weiß, dass Rensberg vor Schreck zittert – eine sehr menschliche Regung, zu der ich nicht mehr fähig bin. Aber das ist ein kleiner Preis, den ich gern bezahle.

Denn was mich betrifft, habe ich gelernt, dass das Leben am Ende beginnt.

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