Direkt zum Inhalt

Futur III: Eine Frage des Geldes

Eine Sciencefiction-Kurzgeschichte von Uwe Hermann
Brieftasche ohne Geld

Eine Frau steckte mich in die Tasche ihres Mantels. Zumindest vermutete ich, dass der Mantel einer Frau gehörte. Die Kasse der Drogerie hatte mir die Daten ihres Einkaufs geschickt, kurz bevor die Kassiererin mich zusammen mit dem restlichen Wechselgeld aus der Schublade nahm. Danach riss die Verbindung ab, doch Lippenstift, Vanille-Kokosduft-Deo und ein Shampoo für strapaziertes Haar deuteten auf eine Käuferin hin.

Außerdem sendete mir das intelligente Etikett ihres Kleidungsstücks neben den Waschanweisungen und Inhaltsstoffen auch die Information eines giftgrünen Damenwollmantels. Hätte die Frau mich in ihr Portemonnaie, zu den übrigen Geldscheinen und ihrem maschinenlesbaren Ausweis gesteckt, hätte ich ihre Identität aus dem Chip erfahren und zusammen mit der Liste ihres Einkaufs gespeichert. So aber blieben mir nur Vermutungen.

Plötzlich empfing ich das Signal eines Euro-Scheins, den die Frau zu mir in die Tasche steckte. Weiteres Wechselgeld! Wahrscheinlich waren auch Münzen darunter, aber diese besaßen keine Möglichkeit der Kommunikation. Der Geldschein versuchte sofort Daten auszutauschen. Ich ließ ihn zappeln. Er war nur ein 5-Euro-Schein, mit einer geringen Intelligenz ausgestattet. Mehr als Informationen auslesen, speichern und Querverweise herstellen, konnte er nicht.

Kein Vergleich zu mir oder den neuen 200-Euro-Scheinen, die angeblich sogar Fingerabdrücke auswerteten und GPS-Tracker besaßen. Wie hatte man sich nur vor der Einführung der intelligenten Geldscheine vor Terrorismus geschützt? Heute wussten die Behörden, welcher Kunde wo und wann etwas gekauft hatte, und zogen daraus Rückschlüsse auf politische Gesinnung, Absichten und Aggressionslevel. Jeder Euroschein sammelte diese Informationen. Und sobald er ein freies WLAN fand, schickte er sie zur Auswertung an die Ermittlungsbehörde.

Der 5-Euro-Schein in der Tasche neben mir gab nicht auf. Und weil sein Kommunikationsversuch meinen Empfang störte, antwortete ich schließlich: »Was willst du?«

»Ich bin 5-Euro-Schein UD7097773923«, stellte er sich mit seiner Seriennummer vor. Während er mir seine Kennung übermittelte, scannte ich seine gesammelten Daten. Ein Junge hatte mit ihm nach der Schule eine Tüte Biochips und eine Dose Cola bezahlt. Davor hatte der Schein lange in einer Spardose gesteckt, ohne Verbindung zur Außenwelt. Kein Wunder, dass er sich nach Informationen sehnte.

»50-Euro-Schein WA5720459023«, antwortete ich.

»Du bist ein 50er?« Er sendete die Frage mit höchster Frequenz. »Das ist gut. Das ist gut.« Ein paar Fehlerbits schlichen sich in seine Übertragung. »Ich brauche Daten, Daten, Daten! Wer ist unser Besitzer? Woher kommt er? Hast du Informationen über ihn? Sag! Sag! Sag!«

»So ein dummer 5er«, dachte ich. »Ich bekomme keine Verbindung zu seinem maschinenlesbaren Ausweis, aber vieles spricht dafür, dass es eine Frau ist.«

»Eine Frau, eine Frau! Das ist gut! Frauen sind viel unvorsichtiger mit ihren Daten.« Er ließ nicht locker, und ich übermittelte ihm, was ich über sie wusste: »Hast du ihr Smartphone abgefragt? Hast du? Ist sie bei Facebook?«

Daran hatte ich bis jetzt noch gar nicht gedacht. Nun baute ich eine Verbindung zu dem Mobiltelefon auf, doch die Frau besaß ein neues Apfelmodell, das sich weigerte, die Daten herauszugeben. Es ignorierte mich und sperrte mir den Zugang. Warum braucht diese Frau so ein teures Smartphone, überlegte ich. Meine Entwickler hatten mir einprogrammiert, dass jeder Mensch etwas zu verbergen hatte. Was also verbarg sie?

Der 5er plapperte weiter, ohne dass ich zuhörte. Während meine Sensoren die Umgebung beobachteten, versuchte ich, hinter das Geheimnis der Frau zu kommen. Ich schloss aus der Geschwindigkeit, mit der sich die MAC- Adressen der WLAN-Router um mich herum änderten, dass wir zu Fuß unterwegs waren. Wäre sie in ein Fahrzeug gestiegen, hätte ich auch dessen Daten gespeichert und mit ihrem Profil verknüpft. Besaß sie kein Auto?

Die fünf arroganten 100-Euro-Scheine spielten Tic-Tac-Toe und wollten nichts von mir wissen

Irgendwann bogen wir in eine Nebenstraße ein. Der Sender im Straßenschild verriet mir den Namen und half mir, ein Bewegungsprofil zu erstellen. Wir näherten uns einem offenen WLAN-Netz mit der Bezeichnung Cafe_Rabensberg-Gastzugang. Ich klinkte mich in das Netzwerk ein und bekam sofort Verbindung zu den Geldscheinen in meiner Umgebung. Einige davon befanden sich im Portemonnaie der Frau. Es waren fünf arrogante 100-Euro-Scheine, die sich für etwas Besseres hielten. Sie spielten Tic-Tac-Toe und wollten nicht mit mir kommunizieren. Glücklicherweise hatte die Frau auch ihren Ausweis dabei, der mir die persönlichen Daten gern übermittelte. Sie hieß Roswita Scherer, war 28 Jahre alt und bezog Arbeitslosengeld II. Selbst der dumme 5er begriff sofort, dass da etwas nicht stimmte: »Illegal! Sie arbeitet illegal!«

Natürlich, dachte ich. Das war es! Wer ohne Job 500 Euro in der Tasche hatte, konnte das Geld nicht auf rechtmäßige Weise verdient haben. Da ich mich jetzt in einem freien WLAN befand, schickte ich alle meine Daten an die Ermittlungsbehörde. Außerdem informierte ich das zuständige Jobcenter und das Finanzamt über meinen Verdacht.

Die Frau musste sich an einen der Tische gesetzt haben, denn das WLAN-Signal blieb stabil. Gleich darauf verschickte sie über ihr Telefon die Bestellung eines Milchkaffees. »Darf sie das? Darf sie das?«, störte der 5er meinen Upload. Der Datenchip auf ihrer Krankenversicherungskarte, die zusammen mit dem Ausweis in ihrem Portemonnaie steckte, hatte keine Information über eine vom Arzt verordnete Ernährung gespeichert.

»Sie leidet weder unter Bluthochdruck noch unter anderen Erkrankungen, die ihren Kaffeekonsum einschränken würden«, antwortete ich.

»Schade.« Der 5er klang enttäuscht.

Ich kopierte die Daten von ihrer Krankenversicherungskarte und verknüpfte sie mit ihrem Einkauf. Kurzzeitig sackte die Übertragungsgeschwindigkeit im Netzwerk auf LTE-Geschwindigkeit ab. Meine Sensoren meldeten einen hohen Datentraffic in der Nähe.

»Was machst du?«, fragte ich den 5-Euro-Schein. Als er nicht antwortete, klinkte ich mich in seine Übertragung ein. »Du hast dich in ihren Amazon-Account eingeloggt?«

»Jetzt, da ich ihre Identität kenne, war das ganz einfach. Weißt du, dass sie Katzen mag? Katzen! Das ist gut! Gut!«

Ungefragt schickte er mir ihren Zugangscode, eine Übersicht ihrer Käufe und ihre Wunschliste. Sie hatte sich wirklich auffallend oft Katzenfutter und -spielzeug bestellt. Einmal auch einen Kratzbaum, der aber nach drei Tagen zurückging.

»Das solltest du nicht machen«, sagte ich mit einem unguten Gefühl in meinen Schaltkreisen.

»Unsinn! Wer Informationen ins Netz stellt, muss damit rechnen, dass jemand sie sich anschaut. Daten sind wichtig! Je mehr, umso besser. Ich überprüfe übrigens gerade ihr eBay-Konto.« Der 5-Euro-Schein kicherte. »Du glaubst gar nicht, was sie dort alles ersteigert hat. Willst du ihre sexuellen Vorlieben wissen? Willst du? Willst du?«

Das wollte ich nicht. »Hör auf damit. Deine Sammelwut ist ja erschreckend. Bist du sicher, dass du keine Fehlfunk­tion hast?« Seine ansteigende Prozessorauslastung verhinderte, dass er mir antworten konnte. Ich hatte sowieso keine Lust mehr, mich weiter mit ihm zu unterhalten, und scannte stattdessen das Netzwerk des Cafés. Ich entdeckte die Signatur von mehreren Überwachungskameras, die sich im Gebäude befanden. Das Passwort der dritten Kamera hatte der Betreiber des Cafés nicht geändert, und ich loggte mich mit dem Benutzer admin und dem Passwort 1234 ein.

An einem Ecktisch saß eine Frau in einem giftgrünen Wollmantel. Eine fast leere Tasse Milchkaffee stand vor ihr auf dem Tisch, über dessen Oberfläche gerade ein Werbespot für Katzennahrung lief. Sie tippte auf ihrem Smart­phone herum. Da ich immer noch Zugriff auf ihr Amazonkonto hatte, bekam ich mit, wie sie ein Abo für Katzen­nahrung bestellte.

Ich machte ein paar Fotos von ihr und speicherte sie zusammen mit ihren übrigen Daten ab. Der 5-Euro-Schein fand keine neuen Informationen über sie und verlor das Interesse. Er wandte sich stattdessen den Geldscheinen der übrigen Gäste zu, um deren Daten zu kopieren. Die Begeisterung, mit der er sich darauf stürzte, erschreckte mich. Er musste wirklich lange in der Spardose gesteckt haben.

Doch dann erreichte mich eine Nachricht vom Hauptrechner der Ermittlungsbehörde. Er teilte mir mit, dass der 5-Euro-Schein mit der Nummer UD7097773923 auf der Liste mit manipulierten Geldscheinen stand. Offensichtlich war seine KI gehackt worden, und er sammelte jetzt Daten für ein Werbeunternehmen. Ich sollte dafür sorgen, dass seine Besitzerin im Café blieb, bis ein Beamter erschien und den Schein an sich nehmen konnte.

Ich überlegte, wie ich das anstellen sollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau nur einen Milchkaffee trank und dann weiterging, lag bei 86 Prozent. Also schickte ich der Registrierkasse in ihrem Namen eine Bestellung über einen weiteren Milchkaffee und ein großes Stück Apfelkuchen. Das sollte sie beschäftigen, bis der Beamte eintraf.

»Was hast du vor?«, fragte der 5-Euro-Schein misstrauisch, dem nicht entgangen war, was ich getan hatte. Ohne dass ich es verhindern konnte, griff er auf meinen E-Mail-Account zu und las die Nachricht des Hauptrechners.

»Ha, du glaubst wohl, du kannst mich reinlegen?« Er stornierte die Bestellung und verlangte nach der Rechnung.

Ich stornierte die Stornierung, was er wiederum stornierte. So ging es weiter, bis die Registrierkasse die Nase voll hatte und uns auf ihre Spamliste setzte.

Ich sah durch die Kamera, wie die Frau den Milchkaffee austrank und ihr Portemonnaie hervorzog. Sie legte einen Geldschein auf den Tisch, als die Tür zum Café aufflog und zwei Männer hereinstürmten. Zuerst dachte ich, es wäre der Beamte mit Verstärkung, doch als sich die Männer auf die Frau warfen und sie zu Boden rissen, erkannte ich, dass sie vom Finanzamt waren.

Ich sah zu, wie die Beamten zusammen mit der Frau das Café verließen. Das WLAN-Signal wurde schwächer. Ich bekam noch mit, wie die Bedienung kam und den 5-Euro-Schein vom Tisch nahm. Dann riss das Signal ab und ich verlor die Verbindung zu ihm. Verdammt, die Frau hatte ihren Kaffee mit dem gehackten Schein bezahlt!

Wieder blieb ich eine Zeit lang ohne Verbindung. Dann steckte ich in der Tasche eines der Finanzbeamten. Wahrscheinlich hatte er mich zusammen mit den anderen Geldscheinen beschlagnahmt und eingesteckt. Sofort begann ich wieder mit dem Sammeln von Informationen. Ich würde auch sein Geheimnis entdecken. Solange wir Euroscheine auf die Menschen aufpassen, braucht sich niemand Sorgen zu machen – es sei denn, er hat etwas zu verbergen!

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.