Direkt zum Inhalt

Futur III: Rupert

Ein besonderes Experiment. Eine Sciencefiction-Kurzgeschichte von Eva Strasser.
Kind wird gekitzelt

Gott sei Dank«, sagt Ines, als ich aus dem Koma erwache. »Gott sei Dank bist du wieder da.« Ich habe nicht das Gefühl, jemals weg gewesen zu sein. Ines lächelt mich an und gibt mir Orangensaft. »Motorisch ist er topfit«, sagt der Arzt. »Sein Hauptproblem ist das emotionale Zentrum. Das limbische System.« Die Erinnerungen. Alle weg. Ines zeigt mir Fotos. Ich bei meiner Einschulung. Wir beide auf Teneriffa. Schöne Bilder.

»Wir sind gewandert«, sagt Ines. »Du hast mir auf der Terrasse des Hotels einen Heiratsantrag gemacht.« Die Hochzeit, die Geschenke, die Gäste. »Es war sehr emotional.« Emotional, sagt der Arzt, »hat er noch einen weiten Weg vor sich«. Einmal in der Woche sehen wir uns. Ich sitze ihm gegenüber, und er fragt. Nach meinem Tag. Meinem Leben. »Wir kriegen das wieder hin«, sagt er.

Ines streicht über mein Gesicht und sagt: »Es tut mir leid.« Mir tut es auch leid. Das sage ich aber nicht. Ich sage nicht, dass ich mich nicht an sie erinnere, nicht an Teneriffa und nicht an den Heiratsantrag. Zum Glück besteht das menschliche Gehirn aus verschiedenen Teilen. Der, in dem mein Arbeitsleben gespeichert ist, funktioniert reibungslos. Ich habe Psychologie studiert. Und Informatik.

Also suche ich einen neuen Job. Ohne Erfolg. Das Koma ist kein guter Punkt in meinem Lebenslauf. »Nur nicht aufgeben«, sagt der Arzt. »Sie machen das super.« Da kommt Ines mit einer Stellenanzeige. CyCorps International hat einen Firmensitz auf dem Land und sucht einen Spezialisten. Sie laden mich ein. Zehn Leute sitzen mir gegenüber. Was genau sie machen, sagen sie nicht. Nur, dass sie hier an einem Experiment arbeiten. CyCorps wird mein neuer Arbeitgeber.

Auf dem Land. Es gibt nur einen Laden. In unserer Straße spielen viele Kinder. Nachts ist es totenstill. Wir versuchen, ein Kind zu bekommen. Ines sagt, es geht ihr gut, aber ich sehe, dass das nicht stimmt. »Ines tut mir leid«, sage ich dem Arzt. »Mitleid«, notiert er und freutsich.

Mein Büro liegt im Erdgeschoss. Vor meiner Tür ein kleiner See. Bäume, Frösche, Kaulquappen. »Ein toller Arbeitsplatz«, sagt mein Arzt. Nach zwei Wochen kommt meine Chefin zu mir. »Kommen Sie mit.« Wir fahren fünf Stockwerke in die Tiefe. »Die Tür ganz hinten«, sagt die Chefin. Vor mir sitzt ein kleiner Junge. »Das ist Rupert.«

Rupert ist das große Geheimnis. Das Experiment. »Das geht doch nicht«, sage ich, »das ist doch kein Aufenthaltsort für Kinder. Hier unten, ohne Fenster.« Die Chefin lacht. Rupert ist nicht echt.

Rupert sieht aus wie ein achtjähriger Junge, er spricht wie ein achtjähriger Junge. Aber wenn man etwas am Algorithmus ändert, spricht er japanisch. Oder dreht durch. Rupert ist ein humanoider Roboter. »Wir würden uns freuen«, sagt die Chefin, »wenn Sie sich um Rupert kümmern. Wir haben ihm einen Körper gegeben. Sorgen Sie dafür, dass er auch sonst von einem Menschen nicht zu unterscheiden ist. Machen Sie ihn zu einem vonuns.«

Wir sehen uns Filme an. Wir unterhalten uns. Wir gehen spazieren. Rupert interessiert sich für Vögel. Besonders fasziniert ihn der Specht. Ich schreibe alles auf. Rupert sitzt am Boden und malt. Er lächelt mich an. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Für ihn sind wir Freunde.

Ich gehe mit Rupert einkaufen. Die Verkäuferin schenkt ihm einen Lolli. Sie nennt mich seinen Papa. Sie merkt nicht, dass Rupert kein Mensch ist. Ich gehe mit Rupert Schlittschuh laufen. Ich kann es immer noch. Ich wusste nicht, dass ich es kann. Rupert ist gut. Er kann innerhalb kürzester Zeit jede Sportart lernen. Er lacht viel.

Ines fragt mich, wie es läuft mit dem neuen Job. »Gut«, sage ich. Was genau ich mache, darf ich nicht erzählen. Ich habe einen Vertrag unterschrieben. Ines sitzt den ganzen Tag zu Hause und will ein Kind. Ich beschäftige mich die ganze Zeit mit einem Kind. Das ist nicht gerecht. Mein Arzt freut sich. Was genau ich empfinde, will er wissen. »Das ist nicht gerecht«, sage ich.

Ich bringe Ines Blumen mit. Wir probieren es weiter. Abends sitzen wir auf dem Sofa. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter. Zurück im Labor streiche ich Ruperts Zimmer. Ich male Fenster auf, dahinter wabert der Wald. Er umarmt mich. Ich spüre seinen Herzschlag. Ich weiß, dass er kein Herz hat. Es ist mir egal. Ich mag Rupert.

Ich habe dich gesehen«, sagt Ines eines Tages. »Du warst in der Stadt. Mit einem Kind. Was ist das für ein Kind?« Sie beginnt zu weinen. Ich gehe zur Chefin. »Ich kann nicht mehr mit Rupert arbeiten«, sage ich. Sie sieht mich an. »Wir könnten das Experiment erweitern. Sehen, wie Rupert auf eine weibliche Bezugsperson reagiert.« Ich verstehe nicht. »Nehmen Sie ihn mit nach Hause«, sagt die Chefin. »Unter einer Bedingung: Ines darf nicht erfahren, was Rupert ist.«

Ich sage Ines: Rupert ist der Sohn eines Kollegen. Er und seine Frau sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Wir müssen noch ein paar Formalitäten klären. Das bürokratische System. Aber wenn du möchtest, haben wir jetzt einen Sohn. Ines weint und lacht und fällt mir um den Hals.

Rupert bekommt das Kinderzimmer. Er spielt mit den Nachbarskindern. Er geht in die 2.Klasse und besiegt mich im Schach. Er mag keine Hausaufgaben, und er mag es nicht, wenn man ihm sagt, was er tun soll. Wenn ich ihn bitte, Salat zu waschen, sagt er »Nein« und geht schaukeln. Wenn ich will, dass er seine Jacke ordentlich an den Haken hängt, rennt er zum Fernseher.

»Rupert!«, rufe ich und mache den Fernseher aus. Er scharrt mit den Füßen, hält den Kopf schief und bleibt stehen. Ines gibt ihm Kakao und sieht mich an. »Er ist noch ein Kind. Sei nicht so streng.« Ich ändere den Algorithmus. Minimal. Aber Ines bemerkt den Unterschied sofort. »Was ist los? Geben die ihm in der Schule Medikamente?« Ich mache es rückgängig.

Am nächsten Tag liegt die Jacke wieder im Flur und der Fernseher läuft. Ich frage Rupert, ob wir ins Kino gehen. Er will, dass Ines auch mitkommt. Mutter und Sohn. Ich bin der, der das Kind umprogrammieren kann.

Wenn ich abends nach Hause komme, spielen die beiden im Garten. Ich stelle mir einen Teller in die Mikrowelle und setze mich vor den Fernseher. Ines sehe ich kaum noch. »Lass uns was zusammen machen«, sage ich. »Wir könnten in den Zoo«, strahlt sie mich an, »Rupert liebt Tiere.« »Nur du und ich«, sage ich. »Als Paar.« Ach so, sagt Ines. Ich sage nichts mehr. Der Arzt freut sich. »Eheprobleme. Super.«

Ich fange an zu joggen. Frische Luft. Der Specht hämmert gegen seinen Baum. Zu Hause lachen Ines und Rupert. Im Bett liegen Kinderbücher. Rupert spielt mit den anderen Kindern. Ständig hat eines Geburtstag. »Wann hat Rupert Geburtstag?«, fragt mich Ines. »Morgen«, ruft Rupert. Er war schneller als ich. »Oh mein Gott«, sagt sie. »Du musst dir frei nehmen.«

Ich sage zu Ines: Rupert ist der Sohn eines Kollegen. Er und seine Frau sind tot

Unser Haus ist verwüstet. Die Fenster mit Fingerfarben bemalt. Ich finde Pommes in unserem Bett. »Das geht so nicht«, sage ich zu Ines. »Das sind Kinder«, sagt sie. »Lass sie doch.« Die anderen vielleicht, denke ich. Ich muss es ihr sagen. »Unter keinen Umständen«, sagt meine Chefin. »Sie haben einen Vertrag unterschrieben.« »Sie wollen Ihre Frau zurück«, sagt mein Arzt. »Sie lieben Sie.« Ines und ich streiten nur noch. Ich brülle. Rupert reißt die Augen auf und hält sich die Hände vor die Ohren. Dann rennt er zu Ines und umarmt sie.

Am nächsten Abend essen wir zusammen. Ich habe mir Risotto gewünscht. Nach dem Essen trage ich die Teller in die Küche. Wie nebenbei wische ich über mein Smartphone. Rupert sieht Ines an, wackelt mit dem Kopf und sagt: »Du Hure.« Ines lässt ihr Glas fallen. »Du hässliches Stück Scheiße«, sagt Rupert zu Ines. Ines starrt mich an.

»Rupert«, sage ich, »hör sofort auf.« Rupert wirft seinen Stuhl um. Er schmeißt mein Weinglas an die Wand. Wirft den Fernseher um. Er brüllt: »Ihr Schweine!« Dann hebt er eine große Scherbe auf und nähert sich Ines. Sie springt auf. Ich stelle mich schützend vor sie. Das mit der Scherbe ist nicht von mir. Rupert lernt schnell.

Mein Smartphone liegt auf der Kommode. Mit ausdruckslosem Gesicht kommt Rupert auf uns zu. Ich werfe meinen Stuhl nach ihm, renne zur Kommode und tippe auf das Display. Rupert bleibt mitten in der Bewegung stehen. Mit erhobenem Arm, Risottoflecken auf dem Pulli. Ines versteht nicht. »Was hat er?« Sie fängt an zu weinen. »Was ist hier los?«

Ich sage es ihr. Dass Rupert nicht echt ist. Ein Experiment. Dass man bei einem Roboter nie sicher sein kann, was in ihm vorgeht. Ines starrt mich an, geht dann zu Rupert und streicht über seine Wangen, seine Stirn. »Mach ihn wieder an«, sagt sie dann. »Ich will kein Kind mit einem Ausknopf.« Sie bringt Rupert ins Bett, macht ihm noch eine Milch. Ines dreht sich um: »Ich will, dass du gehst«, sagt sie dann. »Wenn ich morgen aufstehe, bist du weg.«

Ich sitze allein im dunklen Wohnzimmer. Ich will nicht ohne Ines sein. Ich will nicht, dass ein Experiment mein Leben zerstört. Ich nehme ein Sofakissen und gehe in Ruperts Zimmer. Ganz friedlich liegt er in seinem Bett, ein kleiner Junge, mit zu Fäusten geballten Händen. Ich drücke das Kissen auf sein Gesicht. Seine Beine zappeln, dann ist alles still.

Ich wache im Wohnzimmer auf. Stille. Rupert liegt noch immer in seinem Bett. Ines ist nicht da. Ihr Auto ist nicht da. Ich fahre zur Arbeit. Werde sagen, dass das Experiment gescheitert ist. Dass es mir leid tut. Werde kündigen. In der Tiefgarage von CyCorps steht Ines’ Wagen. Ich fahre mit dem Fahrstuhl nach oben.

Leere Gänge. Da höre ich eine bekannte Stimme. Es ist mein Arzt. Was hat mein Arzt hier zu suchen? Jetzt spricht Ines. Sie stehen im Labor, mein Arzt, Ines und die Chefin. »Er hat bestanden«, sagt mein Arzt. »Das Experiment ist geglückt. Er hat einen seiner Art getötet. Er ist von einem Menschen nicht zu unterscheiden.« Sie sprechen nicht über Rupert. Sie reden über mich. Das Experiment bin ich.

Ich will zu ihnen in den Raum, aber kann mich nicht mehr bewegen. Ines sieht mich an. Mein Herz rast. »Es tut mir leid«, sagt sie. Die Finger meines Arztes fliegen über die Tastatur.

Ich denke an den Wald, den Moosboden unter meinen Füßen, ich höre das Klopfen des Spechts. Ich muss mir merken, dass Ines nicht meine Frau ist. Dass der Arzt nicht mein Freund ist. Ich muss mir unbedingt merken, dass ————————

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.