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Leserbriefe



Inselbegabungen – September 2002

Offen bleiben zwei Fragen: 1. Gibt es Begabungen wie "7600 Bücher auswendig kennen" auch bei Menschen ohne Hirnschäden? 2. Wenn nein: Wie kann ein Schaden in der linken, für Sprache und logisches Denken verantwortlichen Hirnhälfte die Speicherkapazität in der rechten, für ganzheitliche Aspekte zuständigen Hirnhälfte derart aufblähen?

Zu 1: Auch gesunde Menschen sind mit unterschiedlich gutem Gedächtnis begabt. Erstaunliche Gedächtnisleistungen sieht man z. B. bei Wettbewerben für das "Ginnes-Buch der Rekorde". Bemerkenswert, dass diese Gedächtniskünstler auch die rechte Hirnhälfte etwa beim Erinnern von Reihenfolgen einbeziehen, indem sie logische Zusammenhänge mit nicht-symbolischen Vorstellungen verknüpfen. Dennoch sind diese Leistungen von den 7600 Büchern des Kim Peek weit entfernt.

Zu 2: Wie es heißt, handelt es sich bei Kim Peek um ein "Lernen ohne begreifen", da weitgehend die Fähigkeit der linken Hirnhälfte fehlt, den Worten Bedeutungen zuzuweisen. Ein Computer, der ebenfalls "lernt ohne zu begreifen", würde vergleichsweise etwa 230 Gigabit (bei 30 Mbit/Buch) zu speichern haben. Da man die Gesamtheit der Nervenzellen (Neurone) im Gehirn auf etwa 100 Milliarden schätzt, würde bei einer Rechnung "Neuron gleich Bit" die mögliche Speicherkapazität des Gehirns wohl bei weitem überschritten. Dieser Vergleich ist jedoch unzulässig, denn für Kim Peek sind die Worte der Bücher ja sinnleer, also ohne Informationsinhalt. Vielmehr steckt die gesamte Information in der Reihenfolge dieser Worte oder Wortgruppen. Für die richtige Reihenfolge aber sorgen uns nicht bewusst werdende Hirnfunktionen, womöglich die des Kleinhirns, das ja auch die unbewusste Feinsteuerung von Bewegungen übernimmt. Erfahrungsgemäß lässt sich das Kleinhirn gut "trainieren", auch ist es (nach J. C. Eccles) mit etwa 30 Milliarden Neuronen gut ausgestattet. Es kann also sein, dass für Kim Peeks Gedächtnisleistung in dessen Kleinhirn noch genügend Platz zur Verfügung steht, da er für die Steuerung komplexer Gedankengänge wie denen des gesunden Menschen leider nicht gebraucht wird.

Prof. Peter R. Gerke, Gräfelfing

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2002, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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