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Lexikon der Biologie, Band 10: Biologie im Überblick


Als das 1983 begonnene „Lexikon der Biologie“ vier Jahre später mit dem Alphabetband 8 abgeschlossen war und als Band 9 auch noch einen ausführlichen Registerteil mit mehr als 100000 Querverweisen auf thematisch verwandte Stichwörter erhielt, war das Urteil von Benutzern und Rezensenten einhellig wie selten: Dieses weltweit einzigartige Fachlexikon vermittelt in der Tat die gesicherten Erträge klassischer und moderner biologischer Forschung in beeindruckender Fülle, Zuverlässigkeit und Präzision. In seinen rund 40000 Einzelartikeln stellt es neue und neueste Ergebnisse vor, leuchtet aber auch in umfassenderen essayistischen Rahmenartikeln die philosophischen Randbezüge oder wissenschaftstheoretischen Hintergründe biologischer Phänomene aus.

Nun hat dieses respektable Werk eine weitere Ergänzung und Abrundung erhalten: Kürzlich wurde – mit seinen 568 Seiten um rund 10 Prozent umfangreicher als der Durchschnitt der Alphabetbände – ein zehnter Band ausgeliefert. Er ist der allgemeinen Biologie gewidmet und bietet Tabellen, Übersichten und Aufsätze zu Sonderthemen.

Auf 180 Seiten behandelt er die Systematik der Organismen mit jeweils einer Kurzkennzeichnung der aufgenommenen Taxa von der Rangstufe der Abteilungen beziehungsweise Stämme bis hinunter zu den Ordnungen und (fallweise) Familien. Rund 140 Seiten umfassen die mehr als 100 Tabellen mit Zahlenmaterial aus der gesamten Biologie, etwa 80 Seiten die Abrisse zur Biologiegeschichte sowie etwa 100 die Einzelaufsätze und Übersichten unter dem Rubrum „Aktuelle Probleme und Perspektiven“. Ein separates Sachregister enthält mehr als 20000 Eintragungen.

Ein solcher Nachtragsband ist aufgrund der Eigenheiten seiner Konzeption weder ein konventionelles Lexikon noch ein kohärent orientierendes Lehrbuch. Seine Aufgabenfelder umfassen die Auswahl und Aufbereitung weithin verstreuter Einzeldaten, die Zusammenstellung und Zuweisung funktionsverwandter Informationen für den raschen Zugriff. Darum ist der Unterhaltungswert des Bandes naturgemäß minimal, die dargebotene Materialfülle jedoch zumindest quantitativ beeindruckend.

Zur Qualität stellen sich hier und da Bedenken oder Unbehagen ein. So läßt der gesamte Themenblock zur Systematik der Organismen Wünsche oder Erwartungen offen, übergeht er doch stillschweigend die Diskussion über Anzahl und Abgrenzung der Organismenreiche, die in der modernen Biologie schon seit geraumer Zeit mit durchaus griffigen Argumenten geführt wird. Er folgt zum Glück nicht der knarrend konservativen (auch noch in neueren Lehrbüchern beibehaltenen) Praxis, die Bakterien und Pilze schlicht dem Pflanzenreich zuzuordnen, flankiert die vorgenommene Einteilung aber kaum einmal mit erläuternden Begründungen. Häufig ist auch nicht klar erkennbar, ob die angebotene Organismen-Sortierung lediglich eine Taxonomie (ein Schubladengefüge) oder ein System (ein Abbild realer Verwandtschaftsgruppen) repräsentiert. Die Flechten, trotz ihres Sonderstatus als feste Kooperativen zwischen Pilz und Alge klar umgrenzbare, selbständige Formen mit weltweit etwa 20000 Artenpaaren, wurden in den Auflistungen vergessen. Unerwähnt bleibt die in der modernen Zellbiologie mittlerweile völlig unstrittige Sicht, wonach viele Verwandtschaftsgruppen einzelliger Algen infolge von Mehrschrittsymbiosen eigentlich bunte (pigmentierte) Protozoen sind. Statt dessen werden (zum Beispiel im Fall des Augenflagellaten Euglena und seiner Verwandtschaft) immer noch die völlig unhaltbaren „fließenden Übergänge zwischen pflanzlicher und tierischer Organisation“ zitiert. Dieser Teil des Bandes erwies sich bei Stichproben zur Systematik einzelner Organismengruppen als zwar sehr fleißige, aber nicht besonders kenntnisreiche Kompilation.

Das umfangreiche, rund ein Drittel des Bandes füllende Tabellenwerk ist in Auswahl und Aussage fast unvermeidbar erratisch. Ob die vergleichsweise mageren Beschreibungen über „Die Erde und die Organismen im Lauf der Erdgeschichte“ den neugierigen Leser essentiell beglücken, mag man je nach Informationsbedürfnis durchaus unterschiedlich bewerten. Ebenso bleiben der Mitteilungswert etwa der „Abundanz der in Santa Rita Range Reserve lebenden Säuger und Vögel“ oder der „Kronröhrenlängen mitteleuropäischer Blütenpflanzen“ (bei fast allen der etlichen Dutzend Beispielarten in der Größenordnung von einem Zentimeter!) fraglich. Es entsteht der Eindruck, als sei hier seitenweise irrelevantes Füllmaterial zusammengetragen worden. Allerdings bieten viele Tabellen auch sehr spannende und interessante Vergleiche beispielsweise zur Sinnesphysiologie von Tieren und Mensch, zur Stoffwechselkompetenz von Pflanzenorganen oder über Energieinhalte organismischer Substanzen.

Eine zweifellos wertvolle Hilfe sind die knapp, übersichtlich und problemorientiert informierenden Kurzaufsätze zur Biologiegeschichte, die anhand von Persönlichkeiten und Leistungen etwa über die Geschichte der Systematik, Entwicklungsbiologie, Ökologie, Neurobiologie, Genetik oder Zellbiologie orientieren. Schließlich packen die abschließenden Problem- und Perspektivenbeiträge des Bandes mit Themen wie AIDS, Krebs, Gentechnik, künstlicher Intelligenz, Chaostheorie, Umwelt, biologischen Waffen oder Evolutionstheorie ausgesprochen heiße Eisen an – nicht enzyklopädisch umfassend, aber in fast allen Fällen so informationsdicht, daß man in kurzer Zeit ein kompetent gezeichnetes Bild der jeweiligen Problemlage und wichtiger Antworten darauf erhält.

Band 10 des „Lexikons der Biologie“ ist ein angemessen umfangreiches, sicherlich auch sehr inhaltsträchtiges, in buchgestalterischer Hinsicht aber nicht unbedingt ansehnliches Werk. Es verzichtet völlig auf Farbillustrationen, begnügt sich fallweise (beispielsweise im Kapitel über die Viren) mit ausgesprochen miserabler Schwarzweiß-Graphik und verwendet sonst überwiegend Strichzeichnungen von Stammbäumen (Systematischer Teil) oder Konterfeis verdienter Biologen (Historischer Teil). Gewiß muß ein Nachschlagewerk dieses Zuschnitts nicht unbedingt farbgesättigt animativ sein, aber ein zeitgemäßes Layout mit zurückhaltender Kosmetik hätte seine vielen positiven Züge durchaus vorteilhaft unterstrichen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 123
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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