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Mit Nischenprodukten den technischen Fortschritt schaffen


Die Bundesrepublik nimmt in Forschung und Entwicklung nur noch Rang sieben unter den Industrieländern ein – hinter Schweden, Japan, den USA, der Schweiz, Frankreich sowie Finnland, das in den letzten Jahren bei der Sanierung von Wirtschaft und Finanzen große Fortschritte gemacht hat und einer der wenigen europäischen Staaten ist, die aus Brüssel keine Rüge wegen Verletzung der Maastricht-Kriterien erhalten haben. Seit zehn Jahren sind die Forschungsausgaben der Industrie in Deutschland nicht mehr gestiegen, auch die innerhalb der Industrienationen angemeldeten deutschen Patente stagnieren seit Beginn dieses Jahrzehnts. Und trotz der leisen Anzeichen eines wirtschaftlichen Stimmungsumschwungs planen die hiesigen Unternehmen derzeit noch keine innovationsträchtigen Investitionen.

Zu diesem Bild kommt – ähnlich wie der kürzlich vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft vorgelegte Bericht zur Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft (Spektrum der Wissenschaft April 1997, Seite 110) – eine umfangreiche Untersuchung mit dem Titel "Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands. Aktualisierung und Erweiterung 1996", die das BMBF in Auftrag gegeben hatte. Federführend beteiligt waren daran das Niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung (NIW) in Hannover, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe sowie das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.

Die ausführlichen Materialien dieser Institute wurden auf einer internationalen Arbeitstagung am 13. Mai in Bonn erörtert. Dabei hieß es, in Deutschland werde die industrielle Forschung und Entwicklung zu sehr nach ihrem reinen Umfang bemessen. Innovation hänge jedoch zu einem großen Teil auch von einem Ausbau der Dienstleistungen ab.

Als Beispiel dafür sei der kürzlich vorgestellte Service-Roboter anzusehen, der in einem Stuttgarter Kaufhaus als Verkaufsassistent dient. Ansonsten kann man solche technischen Gehilfen in der Dienstleistungsbranche praktisch nicht antreffen; etwa 95 Prozent der in Deutschland verwendeten Roboter sind in der industriellen Fertigung eingesetzt. Die Bedeutung der "Wissensintensivierung durch Dienstleistungen" stellt der Bericht des BMBF in seinem ersten Kapitel "Wissen als Motor für Wachstum und Strukturwandel" gemeinsam mit der Wichtigkeit der forschungsintensiven Industrie in Westdeutschland besonders heraus.

Im zweiten Kapitel "Qualifikation, Forschung und Entwicklung, weltmarktrelevante Erfindungen: schwache Dynamik auf hohem Niveau" erhalten die Hochschulen als Schlüsselfaktoren für den innovationsorientierten Strukturwandel ein vorzügliches Zeugnis: Als "Stätten, die Spitzenforschung zu leisten in der Lage sind", seien sie bei der Verwertung ihrer Ergebnisse "offensichtlich doch nicht so praxisfern wie vielfach behauptet". Etwa vier Prozent aller Inlandspatente kommen heute schon aus den Hochschulen, und die Tendenz ist steigend.

Das dritte Kapitel untersucht die gegenwärtige Ausrichtung der Forschung und Entwicklung sowie der Innovationen in Deutschland. Hier wird vor allem die Reduzierung der zentralen Forschung in Großunternehmen, ihre "Kernkompetenz-Strategie", als gefährlich hervorgehoben. Die FuE-Intensität deutscher Unternehmen ist im Vergleich zu der in anderen Ländern in den letzten zehn Jahren drastisch gesunken (Bild). Kleine und mittlere Unternehmen dagegen hätten den Rückgang der Forschung gestoppt. In den vier Schlüsseltechnologien Mikroelektronik, Multimedia, Biotechnologie und Umwelttechnik zeichne sich eine leichte positive Trendumkehr ab.

Im Kapitel "Internationalisierung in Forschung und Entwicklung: Deutschlands Industrie in der Zange?" wird in der Errichtung von FuE-Zentren deutscher Unternehmen im Ausland keine Gefahr für den Forschungsstandort Deutschland gesehen. Die Ausgaben ausländischer Unternehmen für Forschung und Entwicklung in Deutschland seien etwa gleich hoch wie diejenigen deutscher Unternehmen im Ausland. Das letzte Kapitel stellt schließlich fest: "Ostdeutsche Industrie: Zunehmende Verbreiterung der (schmalen) technologischen Basis".


Dienstleistungen: Gewinner im Strukturwandel

Die Studie warnt davor zu erwarten, daß sich mit einer raschen Ausdehnung FuE-intensiver Branchen in den hochentwickelten Industrieländern die Beschäftigungsprobleme lösen ließen. Diese Staaten hätten hier kein Monopol mehr, weil die "Aufholländer" näher rückten. In Taiwan und Singapur beispielsweise werde ebenfalls forschungsintensiv produziert; Korea und Israel hätten eine FuE-Intensität, die etwa der deutschen entspreche. In den Industrieländern wären hingegen mit mehr als einem Drittel der Erwerbstätigen wissensintensive Dienstleistungsunternehmen auf dem Vormarsch. Sie seien, so führt der Bericht aus, die "Gewinner im Strukturwandel, [und] der Hoffnungsträger für Wachstum, für Strukturwandel durch Unternehmensgründungen und für die Milderung der Beschäftigungsprobleme geworden". Deutschland habe mit dem Tempo dieser Entwicklung durchaus mithalten können.

Unter Dienstleistungen werden nicht nur die traditionellen Gebiete Distribution, Finanzierung, Bildung und Forschung, Beratung für Unternehmen sowie Gesundheit und Soziales verstanden, sondern auch unternehmensorientierte Dienstleistungen, die von der eigentlichen Fertigungstätigkeit getrennt und in selbständige Einheiten ausgelagert wurden (outsourcing). Sie sind zunehmend von neuen Technologien und Innovationen abhängig und schaffen damit Märkte für Technologieproduzenten, insbesondere auf den Gebieten Information und Kommunikation, Infrastruktur-Einrichtungen im Verkehrs- und Kommunikationsbereich und in der Medizintechnik.

In Deutschland greifen Dienstleister zwar weniger als in Frankreich und Großbritannien auf Wissen aus dem Ausland zurück, jedoch beziehen sie einen großen Teil ihres Wissens aus den USA. Dort sei, so die Studie, das sogenannte Beschäftigungwunder nur teilweise auf schlecht bezahlte Arbeitskräfte im Verkauf und in Gaststätten zurückzuführen: "Noch stärker nahm die Erwerbstätigkeit in den unternehmensnahen, innovationsorientierten Dienstleistungen zu. Die dort neu entstandenen Tätigkeiten haben in der Regel ein vergleichsweise hohes Anforderungsprofil. Dienstleistungen sind auch dadurch attraktiv geworden, daß sie im Produktivitätswachstum aufgeholt haben." Innerhalb des Dienstleistungssektors werden auch in Deutschland Forschung und Entwicklung immer bedeutender.

Schlüsseltechnologien: "Fuß in der richtigen Tür"

Noch der erste BMBF-Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit im Jahre 1995 folgerte, deutsche Erfinder könnten das Tempo, mit dem die Zahl der Patente auf technologischen Wachstumsfeldern zunimmt, nicht mithalten. Jetzt wird dieses Urteil für aktuelle Entwicklungen bei einzelnen Schlüsseltechnologien revidiert: Die Patentaktivitäten der deutschen Wirtschaft folgten "im FuE-intensiven Bereich im wesentlichen den Wachstumspfaden des weltweiten technologischen Strukturwandels, allerdings mit etwas gedrosseltem Tempo". Auf zukunftsträchtigen Gebieten hätten sich deutsche Unternehmen nicht abgemeldet, sie "haben den Fuß in der richtigen Tür". In der Mikroelektronik (Photonentechnik) und vielleicht auch in der Multimedia-Technik, so nimmt die Studie an, könnte sich mittelfristig "eine Renaissance des Standortes Deutschland" ankündigen. In der Umwelttechnik behalte die deutsche Wirtschaft ohnehin eine Spitzenposition auf dem Weltmarkt und bei den Erfindungen.

Schwieriger sei es in der Biotechnologie. Hier habe das hohe Forschungsniveau in Deutschland bisher noch nicht eine entsprechende Anzahl von weltmarktrelevanten Erfindungen erzeugt. Doch färbe der von Kleinunternehmen in der Biotechnologie getragene technische Fortschritt das Bild "immer freundlicher". Das ISI hat festgestellt, daß sich Deutschland in Übereinstimmung mit den internationalen Trends von der unspezifischen Biotechnologie, von ihrem ziellosen Abtasten abkehre und sich einer Nischenspezialisierung widme. Die Erfindungen orientierten sich stark an den Anwendungsgebieten, die Biotechnologie in Deutschland sei "gereift". Freilich geschehe dieser Aufbruch noch von einem niedrigen Niveau aus.

Wie groß für verschiedene Anwendungsgebiete der Anteil ist, der sich durch Biotechnologie ersetzen ließe, demonstriert die Studie anhand des Substitutionspotentials: In der Pharmazie dürfte der Anteil der biotechnologisch gewonnenen Produkte von heute 8,3 auf etwa 65 Prozent aller pharmazeutischen Erzeugnisse, in der Lebensmittelverarbeitung von gegenwärtig 14,7 auf ungefähr 50 Prozent des Produktionswertes steigen. Allerdings ist hier – wie auch bei der Biotechnologie in der Landwirtschaft, deren Anteil sich von 7,2 auf 14,3 Prozent verdoppeln könnte – noch ungewiß, inwieweit die Akzeptanz für diese neuen Techniken und Produkte in der Bevölkerung zunehmen werde.

Trotz dieser positiven Aspekte und Entwicklungen befürchtet das ISI, daß Deutschland das biotechnologische Niveau der USA nur schwer oder gar nicht erreichen kann. Freilich ergänzt die Studie: Die Wirkung jüngster technologiepolitischer Maßnahmen könne noch nicht abgeschätzt werden. Damit dürften vor allem die Ergebnisse des Bioregio-Wettbewerbs, die besonderen Förderungen des BMBF für diesen Bereich sowie die im März vom Technologierat vorgelegten Empfehlungen "Biotechnologie, Gentechnik und wirtschaftliche Innovation" gemeint sein, die eine Fülle von Förderanreizen vorsehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1997, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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