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Archäologie: Voodoo-Kultstätte im römischen Mainz?

Eine archäologische Grabung im Zentrum von Mainz brachte einen heiligen Bezirk aus römischer Zeit ans Tageslicht. Zeugt der Fund von Fluchtäfelchen und einer offenbar absichtlich zerbrochenen Tonfigur von magischen Ritualen?


An einem Junitag dieses Jahres in der Innenstadt von Mainz. Zwischen Kaufhaus, Bank und Cocktail-Bar erstreckt sich eine Lehmgrube von der Größe eines halben Fußballfeldes. An ihrem Boden wühlen zwischen Resten alten Gemäuers Arbeiter hingebungsvoll in der Erde. Es sind Archäologen und Grabungshelfer des Amtes für Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Mit dem Abstieg von sechs Metern unter das Bodenniveau haben sie eine Zeitreise über fast 2000 Jahre in die Vergangenheit gemacht. Hier liegen unter den mittelalterlichen Resten des Arm-Klaren-Klosters aufschlussreiche römische Hinterlassenschaften. Der Eifer der Ausgräber hat einen triftigen Grund; denn die Zeit für ihre Visite in das römische Mogontiacum ist knapp: Die Mainzer Aufbaugesellschaft will hier an der Lotharpassage bereits im August damit beginnen, ein Wohn- und Einkaufsgebäude hochzuziehen.

Schon jetzt ist klar, dass sich die Mühe gelohnt hat. Einen heiligen Bezirk der Römerzeit konnten die Archäologen unter der Regie von Gerd Rupprecht, dem Leiter des Amtes für Denkmalpflege, seit September vergangenen Jahres aufdecken. Es ist kein traditionelles römisches Heiligtum, und man weiß auch nicht, welcher Gott hier verehrt wurde. Rupp-recht bezeichnet den Bezirk deshalb salopp als Platz der Volksfrömmigkeit. Lediglich einige dünne Mauerzüge, eine Vielzahl von Brandopfergruben und deren Inhalte belegen eine Kultausübung an dieser Stätte. Von einem Tempel fehlt bislang jegliche Spur. Vielleicht befand sich ein bauliches Zentrum der Anlage ein wenig weiter westlich – dort, wo heute das Kaufhaus Woolworth steht. Die Grabungsfläche konnte sich nicht dem antiken Gelände anpassen; ihre willkürlichen Abmessungen sind von der Baufläche des Investors vorgegeben.

Bei der Untersuchung der Opfergruben war den Archäologen ein besonderer Fund vergönnt: eine offenbar absichtlich in der Mitte zerbrochene Tonfigur. Sie ist männlich, wie der hervorstehende Phallus unschwer erkennen lässt. Trotz der geringen Qualität und primiti-ven Machart gewinnt sie durch die Fundumstände besondere Bedeutung. Während der Unterleib nämlich mit der Hinterseite auflag, war der Oberkörper mit der Nase in den Dreck gedreht. Rupp-recht hält es für möglich, dass dies den symbolisch Dargestellten bestrafen und verfluchen sollte. So wurden Verbrecher in römischer Zeit zuweilen mit dem Gesicht nach unten verscharrt, auf dass ihr böser Geist nie wiederkehre. Repräsentiert die zerbrochene Figur vielleicht eine Art von Voodoo-Kult?

Dass an der Statuette jemand seinen Zorn ausließ, ist nahe liegend – doch worauf deutet der hervorgehobene Phallus? Sollte eine Vergewaltigung oder ein Ehebruch gesühnt werden? Oder wollte eine Frau ihren Mann wegen eines unerfüllten Kinderwunsches in den Orkus schicken?

Flüche in Gossenlatein


Nicht minder interessant ist der Fund von etwa einem Dutzend so genannter Fluchtäfelchen: dünnen Bleiplatten mit Schriftzeichen, die zusammengerollt oder -gefaltet sind. Noch können sie nicht vollständig gelesen werden, weil sie erst restauriert und auseinander gefaltet werden müssen. Die Verwendung von Gossenlatein mit Abkürzungen und magischen Symbolen erschwert ihre Lesung zusätzlich. Doch von anderen Fundplätzen her kennt die Forschung den Charakter des Inhalts: "Beschaff’ mir eine Frau!", "Verhilf mir zu einem Kind und ich opfere Dir eine Ziege!" oder "Verflucht sei ...!"

Außer der Tonfigur und den Fluchtäfelchen haben die Archäologen Brandrückstände aus den Opfergruben geborgen. In Säcken sammelten sie mehrere Kubikmeter schwarzer Erde, durchsetzt von Holzkohle und organischen Resten. Botaniker werden das Material später unter die Lupe nehmen. Bereits mit bloßem Auge aber sind Datteln, Feigen und Pinienkerne erkennbar – allesamt exotische Früchte, die aus dem Mittelmeerraum importiert werden mussten. Doch die Römer waren bekanntlich Meister der Logistik und des Transportwesens. Da sei ein Vergleich mit dem amerikanischen Militär nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubt. "Auch die brachten mit, was sie zu Hause gewohnt waren zu essen", meint Rupprecht.

Die Ausübung des Kultes dauerte vom späten ersten bis ins vierte Jahrhundert nach Christus. Doch wie sah der heilige Bezirk aus, und wie lief der Opfervorgang ab? Nach der Vorstellung des Ausgräbers führte der Zugang zu dem Bezirk über eine Straße, die mit Läden gesäumt war. Dort konnten die Gläubigen rituelle Utensilien für ihren Kultvorgang erwerben – beispielsweise kleine Öllämpchen, Terrakotten und Ähnliches.

Den heiligen Bezirk selbst unterteilte ein Gewirr von brust- bis kopfhohen Umfriedungsmauern in abgegrenzte Areale mit Zugang an einer Seite. Sie waren nach oben hin offen und enthielten teilweise einen Altar. Pfostenlöcher, die verschiedentlich im Gelände nachgewiesen wurden, legen Fachwerkbauten nahe.

Zwiegespräch mit den Göttern


Was den Kultvorgang angeht, kann man sich den Ablauf etwa folgendermaßen vorstellen: Der Kultanhänger hebt eine Erdmulde für den Opfervorgang aus. Er umgibt sie mit Begrenzungssteinen oder formt darin eine kleine Herdplatte. Dann zündet er Lampen und Weihrauch an. Vor der Feuerstelle kniend stimmt er Gesänge oder Gebete an. Um sich die Gottheit gewogen zu machen, bringt er verschiedene Brandopfer aus Getreide, Früchten oder Fleisch dar. Das Zwiegespräch mit dem Gott kann beginnen ...

Der heilige Bezirk lag an einer wichtigen Verkehrsachse des römischen Mainz. Gleich südlich verlief die Straße vom Legionslager am Kästrich hinab zur Rheinbrücke. Dass in dieser prominenten Lage nicht gesiedelt wurde, sondern ein Heiligtum entstand, könnte auf einen besonderen Umstand zurückzuführen sein. Im Ausgrabungsareal stießen die Archäologen nämlich auch auf zwei keltische Hügelgräber aus der Zeit um 500 vor Christus. Wahrscheinlich waren sie in der römischen Zeit noch sichtbar und wurden respektiert.

"Bislang mussten wir davon ausgehen, dass die Römer die ersten waren, die in Mainz siedelten", sagt Rupprecht. Mit den Hügelgräbern kam jetzt eindeutig Keltisches zu Tage. Doch für die 500 Jahre zwischen den Hügelgräbern und den Römern fehlt jede archäologische Spur – zeitlich gibt es da einen blinden Fleck.

Konserviert werden die Hinterlassenschaften der Vergangenheit nicht – alles weicht der Baugrube des neuen Kaufhauses. "Immer fragen die Leute: Ihr grabt und grabt – warum gebt Ihr dann alles, was Ihr frei gelegt habt, wieder auf?", sagt Rupprecht lächelnd und gibt sogleich die Antwort: "Täten wir es nicht, würden wir Mainz in ein Freilichtmuseum verwandeln. Ein normales Stadtleben wäre nicht mehr möglich."

Aber natürlich dokumentieren die Archäologen akribisch alle ausgegrabenen Objekte mit den jeweiligen Fundumständen, sodass sich auf dem Schreibtisch oder am Computer alles rekonstruieren lässt. Dazu Rupprecht: "Wir stehen hier vor der großen Herausforderung, das alles zu erfassen. Wir sind die ersten und einzigen, die dies so ,lesen‘ können. Danach ist alles weg."

Inzwischen ist alles weg. Die Bagger der Baugesellschaft haben den Grabungsplatz von den Archäologen übernommen. Doch die Auswertung der Befunde aus dem Zentrum von Mainz wird die Wissenschaftler noch einige Zeit beschäftigen.


Mogontiacum – das römische Mainz


Unter Kaiser Augustus (27 vor Christus bis 14 nach Christus) drangen die Römer bis über den Rhein nach Germanien vor. Zur Sicherung ihrer Eroberungen stationierten sie zwei Legionen an einem strategisch wichtigen Platz: gegenüber der Stelle, wo der Main in den Rhein mündet. Die geballte Käuferschaft von 12000 Soldaten lockte bald zahlreiche Zulieferer und Dienstleister wie Bäcker, Händler, Kneipenwirte und Prostituierte an: Mogontiacum war geboren. Der Name hängt wohl mit dem keltischen Gott Mogons zusammen. Die Bevölkerung der neuen Stadt setzte sich aus einheimischen Kelten, ein paar Germanen und einem bunten Gemisch von Soldaten und Händlern aus den verschiedenen Teilen des römischen Reiches zusammen.

Die konzentrierte Macht von zwei Legionen an einem Ort erwies sich allerdings als gefährlich für Rom. Im Winter 88/89 nach Christus erhob sich der Statthalter Gaius Antoninus Saturninus gegen den Kaiser Domitian. Der Aufstand wurde zwar schnell niedergeschlagen, doch hinterließ er beim Herrscher einen gehörigen Schrecken. Die in Mainz stationierten Legionen wurden an die unruhige Donaufront strafversetzt, und eine andere Legion bezog am Rhein Quartier. Die "Legio XXII Primigenia Pia Fidelis" avancierte zur Mainzer "Hauslegion", bis sie in den Wirren Mitte des vierten Jahrhunderts aus einem Feldzug im Balkan nicht mehr zurückkehrte.

Schon während des dritten Jahrhunderts hatte der Druck der Germanen auf den römischen Limes stark zugenommen. Beim Alemanneneinfall von 259/260 nach Christus ging das rechtsrheinische Gebiet für Rom verloren. Mainz wurde Frontstadt. Als Vandalen, Sueben und Alanen in der Neujahrsnacht 406/407 nach Christus bei Mainz den Rhein überquerten, leitete dies das Ende der römischen Macht über den gesamten Nordwesten des Reiches ein.

Vom einstigen Mogontiacum ist aus archäologischer Sicht her wenig bekannt. Die dichte moderne Bebauung lässt nur sporadische Einblicke in die Vergangenheit zu. In den achtziger Jahren machten die Archäologen allerdings einen sensationellen Fund. Sie stießen auf eine Flotille von mindestens sieben römischen Militärschiffen. Es war der bedeutendste Schiffsfund nördlich der Alpen. Nach ihrer Restaurierung sind fünf der Römerschiffe heute in einem eigenen Museum zu bewundern.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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