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Bionik: Auf dem Weg zu intelligenten Prothesen

Fluidhände
Immer wieder verlieren Menschen durch Unfälle, Krankheiten oder Krieg ihre Gliedmaßen. Und erst in jüngerer Zeit ist der Ersatz gelegentlich so gut, dass die High-Tech-Prothesen ihren Besitzern sogar Bergbesteigungen oder das Durchschwimmen des Ärmelkanals erlauben. Lange Zeit jedoch konnten die Opfer allenfalls auf Krücken hinken. Im Mittelalter ermöglichten Holzbeine den Beinamputierten die Fortbewegung, und "eiserne Klauen" anstelle von Händen sollten im Kampf von Nutzen sein. Solch starre Prothesen waren jedoch von sehr begrenztem Wert. Später erlangte dann die eiserne Hand des Ritters Götz von Berlichingen Berühmtheit. Erstmals konnte er damit – Anfang des 16. Jahrhunderts! – Gegenstände greifen und festhalten, wenn auch nur unter Mithilfe seiner gesunden linken Hand. Die ungewöhnlich komplexe Konstruktion blieb indessen für lange Zeit einmalig.

Eiserne Hand | Die eiserne Hand des Götz von Berlichingen, die er nach einer Verletzung im Jahr 1504 benötigte, bestand aus mehr als 200 Einzelteilen und war ihrer Zeit weit voraus. Er konnte sie mit der gesunden Hand schließen und auf diese Weise Gegenstände greifen oder festhalten.
Im 20. Jahrhundert entwickelte sich die Prothesentechnik angesichts der vielen Verstümmelten des Ersten und Zweiten Weltkriegs rasant weiter. Etwa mit Hilfe von Sprungfedern bemühten sich Handwerker, die ursprüngliche Funktion der Körperteile immer besser nachzuahmen. Die Zahl der Gelenke in den Prothesen nahm zu; Seilzüge und Bolzen übertrugen die Kraft der verbliebenen Muskeln auf einfache Greifer. Der erste Versuch, den Patienten eine Prothese willentlich steuern zu lassen, war der so genannte Sauerbruch-Arm, den der deutsche Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875 – 1951) entwickelte. Der Arzt legte dafür einen Stift aus Elfenbein durch einen Hauttunnel an den Oberarmmuskel des Versehrten an. Spannte dieser seinen Bizeps an, wurde der Stift gehoben und schloss die Hand der Prothese zu einem Griff. Die Kosten des Systems und das Entzündungsrisiko waren allerdings so hoch, dass es sich nicht durchsetzte; als richtungweisend gilt es gleichwohl.

Treppensteigen mit dem C-Leg | Das kommerziell vertriebene C-Leg ermöglicht Beinamputierten problemloses Treppensteigen sowie Laufen auf Kopfsteinpflaster oder Schnee.
Noch später im 20. Jahrhundert ermöglichten es dann aufeinander abgestimmte Federn, dass künstliche Knie- und Knöchelgelenke eine Laufbewegung simulierten, wenn es beim Aufsetzen einer Beinprothese auf den Boden zu einer Schwerpunktverlagerung kam. Erst in den 1980er Jahren wurde es möglich, Prothesen aktiv mit Motoren zu bewegen; so musste die verbliebene Muskelmasse weniger Kraft aufbringen. Auch die Informatik hielt Einzug in die Prothetik, dank ihrer ließen sich den motorisierten Ersatzgliedmaßen verschiedene Bewegungsmuster wie etwa das Treppensteigen einprogrammieren. Auch ein gegenwärtig kommerziell vertriebenes Beinprothesensystem namens C-Leg verfügt über Mikroprozessoren, die aus den Daten zahlreicher Drucksensoren die aktuelle Gangphase ermitteln. Daraufhin öffnen oder schließen sie Ventile, welche eine Hydraulik für das Beugen des Kniegelenks steuern.

Kontrolle musste mühsam erarbeitet werden

Das größte der Ziel der Forscher ist es aber, den Patienten die volle Kontrolle über ihre Extremität zurückzugeben. Zeit also für neue Durchbrüche: Prothesen sollen vom zentralen Nervensystem aus gelenkt werden – und umgekehrt sollen sie Reize registrieren und an das Gehirn zurücksenden. Die ersten Versuche, Patienten die neuronale Steuerung ihrer Prothese zu ermöglichen, basierten auf Sensoren, die am verbliebenen Stumpf angebracht wurden. Dort registrierten sie bestimmte Muster der Muskelkontraktion und steuerten daraufhin die Motoren der Prothesen an. Leider waren die Patienten gezwungen, sich die Kontrolle über ihre künstlichen Gliedmaßen mühsam zu erarbeiten, da sie meist Muskeln anspannen mussten, die in keinerlei Zusammenhang mit der natürlichen Bewegung der verlorenen Extremität standen. So konnten sie die motorischen Abläufe nur grob koordinieren, und auch die Anzahl der Freiheitsgrade der Bewegung war eingeschränkt. Nicht zuletzt bestand die Gefahr von Unfällen – dazu konnte es schon reichen, dass ein Patient seine Muskeln unwillkürlich anspannte.

Armbewegung per Gedankensteuerung | Der beidseitig amputierte Christian Kandlbauer gehört zu den Ersten, die mit einer "gedankengesteuerten" Armprothese ausgestattet waren. Gemeinsam mit einer weiteren Prothese ermöglichte sie dem Österreicher das Autofahren, Kochen, Essen mit Besteck und die Rückkehr an seinen Arbeitsplatz in einer Kfz-Werkstatt. Im Oktober 2010 starb Kandlbauer bei einem Verkehrsunfall am Steuer seines Wagens; die Prothesen sollen zu dem Unfall nicht beigetragen haben.
Doch die Entwicklung ist noch nicht am Ende. So verfolgt etwa das orthopädische Unternehmen Otto Bock HealthCare seit einigen Jahren die Entwicklung einer "gedankengesteuerten" Armprothese. Dafür werden die Überreste von vier Armnerven, die bei Patienten zuvor die Bewegung dieses Körperteils steuerten, gezielt in die Brustmuskulatur eingebettet. Wenn der Patient sich nun die Bewegung seines Arms im dreidimensionalen Raum vorstellt, spannen sich durch die von den Armnerven ausgehenden Impulse die betreffenden Brustmuskeln an. Elektroden auf der Haut messen die Nervensignale und übertragen sie nach ihrer Verrechnung in Mikrochips direkt auf die Motoren der Prothese. Dadurch bewegt sich der Ersatzarm mit hoher Präzision und fast wie gewünscht; die Patienten müssen die Prothese nicht einmal mehr bewusst steuern. Ein Unfallopfer, das gleich beide Arme verloren hatte, lernte mit Hilfe zweier Prothesen sogar Auto zu fahren.

Die Prothese "versteht", was ihr Träger will

Der neueste Entwurf von Grundlagenforschern klingt indessen fast wie Sciencefiction: Glasfasern sollen künstliche Gliedmaßen direkt mit dem zentralen Nervensystem verknüpfen. Wissenschaftler der Southern Methodist University in Dallas (USA) arbeiten an winzigen Sensoren, die abhängig von einem einwirkenden elektrischen Feld ihre Form ändern. Diese Messfühler sollen Signale der nach einer Amputation verbliebenen Nerven auffangen und als Lichtsignale in eine Glasfaser einspeisen. Die wiederum leitet sie dann zu einer Prothese weiter.

Gelangt also ein Impuls vom Gehirn zu den Nervenenden, verformt er durch sein elektrisches Feld die Miniatursensoren. Dadurch verändert sich auch die Form der Lichtpulse, die durch die Glasfaser wandern. Diese Information wird schließlich von den Mikroprozessoren in der Prothese "verstanden" und in entsprechende Steuersignale an deren Motoren umgewandelt. Ziel des noch in seinen Anfängen befindlichen Vorhabens ist es, zahlreiche Glasfasern mit jeweils Tausenden von Sensoren auszustatten und in den Körper des Patienten zu implantieren. Dort sollen sie mit sämtlichen verbliebenen motorischen Nerven verbunden werden, die früher den amputierten Körperteil gelenkt haben, und so die Feinmotorik optimieren.

Zudem wollen die Forscher die Information auch in entgegengesetzte Richtung fließen lassen: Detektoren auf der Oberfläche der Prothese sollen Temperatur oder Druck registrieren und entsprechende infrarote Lichtsignale aussenden. Weitere Glasfaserkabel transportieren die Signale dann zu den entsprechenden sensorischen Nerven des Amputierten, die sich durch Infrarotlicht aktivieren lassen. Auf diese Weise könnte der Patient sogar sensorische Rückmeldungen von seiner Prothese erhalten.

Zurzeit stehen die SMU-Forscher, deren Arbeit von Fördergeldern des US-Militärs unterstützt wird, allerdings noch vor einigen Problemen. Jedem einzelnen Freiheitsgrad, den die verlorene Extremität besaß, müssen sie nun die entsprechenden Nervenfasern zuordnen. Gelingen könnte die erforderliche Kartierung der Nerven, indem Mediziner den Patienten auffordern, sich systematisch ganz bestimmte Bewegungen des nicht mehr vorhandenen Körperteils vorzustellen, und sie dann die Impulse am durchtrennten Nerv messen.

Keine schnellen Erfolge

Doch es bleibt noch viel mehr zu tun. Das SMU-Team muss die Verbindung von Glasfaser und Nerv optimieren; die Software auf den Chips muss die in Lichtsignale umgewandelten Befehle des Gehirns präzise unterscheiden lernen; die verschiedenen Motoren in der Prothese müssen mit exakter Kraftdosierung und Geschwindigkeit angesteuert werden. Nicht zuletzt müssen die Forscher die neuartigen Sensoren von mehreren hundert Mikrometer Durchmesser auf nur noch 50 Mikrometer verkleinern.

Bis die Fortschritte dort ankommen, wo sie gebraucht werden, wird ohnehin noch viel Zeit vergehen. Unterdessen werden durch Kriege, Minenfelder oder Naturkatastrophen wie das Erdbeben auf Haiti ständig neue Amputationen erforderlich. Selbst in Deutschland nehmen Ärzte – häufig an Diabetespatienten – jährlich Zehntausende solcher Operationen vor.

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