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Zählt die Fische, solange es sie noch gibt!

Das Volumen der Weltmeere umfasst zwar 99 Prozent der Biosphäre, aber nur fünf Prozent dieses gigantischen Lebensraums sind auch nur einigermaßen bekannt. Solche unerforschten Weiten rufen geradezu nach einem US-amerikanischen Großprojekt - wie einst der Weltraum.

So begab es sich, dass sich auf amerikanische Initiative hin 2700 Forscher aus 82 Nationen in einem bislang einzigartigen Netzwerk zusammenschlossen: dem Census of Marine Life, einer ersten großen "Volkszählung" der Lebensformen in den Weltmeeren. Nicht alle eingebundenen Projekte sind neu, wohl aber die internationale Vernetzung sowie die Veröffentlichung der Daten samt Fotos auf einer in Teilen allgemein zugänglichen Onlinedatenbank (Teil 1 und Teil 2).

Die auf zehn Jahre angelegte Datensammlung sollte herausfinden, welche Spezies die Meere bevölkern – und das, soweit möglich, auch für die Vergangenheit und die Zukunft. Die Beantwortung dieser Fragen eilt: Es gilt einen Zustand festzuhalten, der voraussichtlich schon in naher Zukunft der Vergangenheit angehören wird. Ölkatastrophen, Übersäuerung, Überfischung, pazifische Müllstrudel, Todeszonen und Korallenbleichen sind nur einige der beängstigenden Stichwörter.

Im vergangenen Jahr ist das Projekt zu Ende gegangen. Eine zuverlässige Schätzung für die Anzahl der Arten und der Individuen, die im Meer leben, ist dabei nicht herausgekommen – aber eine geradezu überwältigende Vielfalt an Entdeckungen: Seit Beginn der Feldarbeiten wurden 28 Millionen Nachweise mariner Lebensformen gesammelt, 6000 von wahrscheinlich neuen Arten. Mehr als 2000 Publikationen sind bereits aus dem Projekt hervorgegangen. Kein Zweifel: Der Census of Marine Life schreibt derzeit Geschichte in der Entdeckung der Meere.

Das vorliegende Buch bietet einen Einstieg in die Census-Forschung und viele spektakuläre Fotos von den Forschungsarbeiten und den Meeresbewohnern. Bei manchen neu entdeckten Arten sind es die ersten Bilder, die überhaupt veröffentlicht wurden. Für die Wissenschaftsjournalistin Darlene Trew Crist sowie die Meereskundler Gail Scowcroft und James M. Harding dürfte die größte Herausforderung darin bestanden haben, aus der Flut der Daten eine sinnvolle Vorabzusammenfassung herauszufiltern.

Entsprechend den drei Fragen des Census-Projekts ist ihr Buch in drei Teile gegliedert. Der Text des ersten Teils "Was lebte im Meer?" erörtert zunächst Entstehung und Hintergründe des Projekts sowie die Schwierigkeiten bei der Erforschung des Lebensraums Meer, bevor er zum Thema kommt: Wie sah das Meer aus, bevor es wirtschaftlich genutzt wurde? Historische Referenzlinien für das, was als natürlich gelten kann, sind wichtig sowohl für die Forschung als auch für das Fischereimanagement. Wie will man sonst die seither eingetretene Änderung in Zahl und Vorkommen von Arten einschätzen oder beurteilen, ob ein Fischbestand sich tatsächlich erholt hat? Besonders schwierig war dabei die Beschaffung auswertbarer Daten aus ferner Vergangenheit. Die Forscher griffen hierzu auf Fangstatistiken, Logbücher und sogar Speisekarten zurück.

Die ersten Ergebnisse der ausgewerteten Fallstudien zwingen uns, das, was derzeit als "natürlich" gilt, zu überdenken. Das Wattenmeer, so fanden die Forscher heraus, ist bereits 1000 Jahre länger als bislang angenommen vom Menschen geprägt. Die großen Flussästuare (von den Gezeiten beeinflusste Mündungsbereiche) haben 90 Prozent ihres Artenreichtums eingebüßt. Wirtschaftlich genutzte Spezies haben in Größe und Zahl stärker abgenommen als vermutet. Der Niedergang der Kabeljau- und Tunfischbestände in den letzten Jahrzehnten ist nur ein Beispiel für das Schicksal, das wahrscheinlich auch weniger bekannte Arten bereits ereilt hat.

Im zweiten und umfangreichsten Teil "Was lebt im Meer?" stellen die Autoren zunächst die in der Census-Forschung eingesetzte Technik vor. Verschiedene Unterwasserfahrzeuge, neue Anwendungen der Sonartechnik, Rekorder, die das durch sie hindurchgespülte Plankton ablichten, während sie durchs Wasser gezogen werden, Biologger, die, einmal an einem Tier angebracht, nicht nur dessen Position, sondern ständig Daten über das umgebende Milieu an einen Satelliten übermitteln – von all dem konnten Forscher vor einigen Jahren nur träumen. Kein Wunder, dass sie heute zu neuen Ergebnissen kommen. So stellte sich unter anderem heraus, dass die Überlebensrate für flussabwärts wandernde Junglachse in hindernisreichen Flüssen genauso hoch ist wie in frei fließenden Flusssystemen. Dagegen scheint der Zustand angrenzender Meeresabschnitte viel kritischer zu sein.

In den Polarregionen, wo sich der Klimawandel besonders dramatisch auswirkt, waren 50 bis 95 Prozent aller Arten, die unterhalb 3000 Meter gefunden wurden, zuvor unbekannt. Vor allem gilt das für die antarktischen Gewässer: In den letzten Jahren erbrachten gerade mal drei Expeditionen mehr als 700 potenziell neue Arten. Moderne molekularbiologische Techniken wie die DNA-Etikettierung erlauben zwar eine schnelle Abgrenzung von bereits bekannten Spezies. Die wissenschaftliche Beschreibung neuer Arten ist aber ein zeit- und arbeitsaufwändiger Prozess - und so werden manche der Funde unbeschrieben bleiben. Zu Beginn der Zählung waren 230 000 im Ozean lebende Tierarten bekannt. Nun sind sich die Forscher sicher, dass es mindestens 250 000 sind; und verschiedenen Schätzungen zufolge warten noch zwischen 200 000 und zwei Millionen weitere Spezies von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen auf ihre Entdeckung. Allein deren Beschreibung dürfte etwa fünf Jahrhunderte in Anspruch nehmen, meint einer der beteiligten Forscher. Wenn sie denn rechtzeitig gefunden werden.

Der Census beschreibt die regional unterschiedliche Verteilung verschiedener Arten und modelliert die Auswirkungen von Fischerei, Klimawandel und anderen Schlüsselfaktoren für die Zukunft. Der Bildband greift im letzten Teil "Was wird im Meer leben?" einzelne dieser Auswirkungen heraus. Forscher gehen davon aus, dass wir derzeit Zeugen des bislang größten Massenaussterbens der Erdgeschichte sind und möglicherweise die Hälfte aller vorkommenden Arten in den nächsten 100 Jahren verschwinden wird.

Der industrielle Fischfang führt zunächst zur "kommerziellen Ausrottung" gewisser Arten: Die Restbestände schrumpfen auf eine wirtschaftlich uninteressante Größe. Darüber hinaus können sie ihre ökologische Nische nicht mehr ausfüllen, und es kommt zu Verschiebungen im gesamten Nahrungsnetz. Eine der Fallstudien dokumentiert den Niedergang der großen Haie. Durch die Ausrottung dieser top predators, Räuber an der Spitze der Nahrungskette, nahm die Zahl ihrer Beutetiere, vor allem Rochen, explosionsartig zu. Das dezimierte deren Lieblingsspeise, die Muscheln, so stark, dass die Muschelfischerei in mehreren Gegenden bereits zum Erliegen kam. Es zeichnet sich auch ab, wer in Zukunft von sauerstoffarmen und wärmeren Meeren profitieren könnte: Schon ist in einigen Meeresabschnitten eine "Verquallung" zu beobachten.

Die große Stärke des Buchs sind die fantastischen Fotos. Auch enthalten die Bildunterschriften oft interessante Details zur abgebildeten Art. Der Text folgt leider nur sehr grob der Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; stattdessen zerfällt er stellenweise in eine Aneinanderreihung von Forschungsansätzen und Ergebnissen. Angesichts der Vielzahl der Entdeckungen überrascht eine gewisse Dichte nicht. Es kommt jedoch auch relativ häufig zu Wiederholungen, was vorteilhaft ist, wenn der Leser sich nur einzelne Kapitel vornimmt, am Stück gelesen jedoch eher langweilt. Außerdem schimmern noch Amerikanismen und um Aufmerksamkeit werbende Floskeln durch, die eher in eine Pressemeldung passen. Vermutlich hätte hier eine Straffung dem Inhalt gutgetan.

Abgeschlossene Sachverhalte wie Meeresströmungen, das Leben in verschiedenen Lebensräumen wie kalten Quellen oder Tiefseebergen und der mühsame Prozess der Beschreibung neuer Arten sind dagegen interessant und gut verständlich geschildert.

Für Meermenschen ist die Beschäftigung mit den Ergebnissen des Mammutprojekts Census of Marine Life ein Muss. Das Buch bietet einen inspirierenden Einstieg. Doch macht es auch klar: Auf dem Gipfel der Erkenntnis sind die Census-Forscher noch lange nicht. Aber sie haben bereits mehr gefunden, als sie zu hoffen wagten.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2011

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