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Morgenröte der Demokratie

»Wir wollen mehr Demokratie wagen«, versprach Willy Brandt (1913 – 1992) in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 im Deutschen Bundestag. Mehr Mitbestimmung, mehr Mitverantwortung – ein politisches Konzept, das vierzig Jahre später immer noch eine große Aufgabe darstellt. Erfunden hat es der antike Politiker Kleisthenes (570 – 506 v. Chr.). Mit seinen Reformen der athenischen Verfassung begann »die Weltgeschichte den Weg nach Europa einzuschlagen«, wie es der Philosoph Friedrich Hegel (1770 – 1831) formulierte.
Diesen langen und verschlungenen Weg des Abendlands zum heutigen politischen Gebilde Europa zeichnet jetzt „epoc“, das Magazin für Geschichte, Archäologie und Kultur in einer zehnteiligen Serie nach. Ausgabe 2/2008 erzählt von Geburt und Ende der attischen Demokratie. Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. waren Hunderte autonomer Stadtstaaten in Griechenland entstanden, der Handel gedieh, es herrschte Wohlstand, Homer schrieb seine „Ilias“ und die „Odyssee“.

Dennoch: Jene, die diesen Aufschwung maßgeblich voran gebracht hatten, nämlich Handwerker und Händler, gingen politisch leer aus, denn nach wie vor bestimmten adlige Grundbesitzer die Geschicke. Athen, mit seinem Umland Attika einer der größten Stadtstaaten, stand um 600 v. Chr. am Rand eines Bürgerkriegs. Einen ersten Schritt in Richtung Demokratie wagte der Politiker Solon 594/93 v. Chr. Mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattet erließ er verarmten Bauern ihre Schulden und organisierte den Zugang zur Macht neu: Nicht mehr die familiäre Abstammung sollte zählen, sondern das Vermögen. So blieben Bauern und Lohnarbeiter weiterhin außen vor.

Erst Kleisthenes gelang die radikale Entmachtung des Adels, nicht zuletzt mit Hilfe einer scheinbar bürokratischen Maßnahme. Indem er Verwaltungs- und Wahlbezirke neu aufteilen ließ, zerbrach er die Bindungen der Bürger zu den Großgrundbesitzern und Adelsfamilien. Bald durfte jeder Athener, ob reich oder arm, stolz von sich behaupten, an der Regierungsgewalt teil zu haben.

Ein äußerst komplexes politisches System entstand, in dem Volksversammlungen und Volksgerichte über die große Politik ebenso entschieden wie über das Schicksal des Einzelnen. Um Korruption und Dominanz einzelner zu verhindern, wurden diese Gremien immer wieder neu durchmischt, wobei sogar Losmaschinen zum Einsatz kamen.

Und dennoch gelangten Populisten, die dem Volk nach dem Mund redeten, zu dauerhafter Macht. So führte Perikles (490 – 429 v. Chr.) Athen wohl auch deshalb in den katastrophalen Bruderkrieg gegen Sparta, weil er seine Wahlbasis, die kostspieligen Rudermannschaften der Flotte, beschäftigt und bei Laune halten musste. Schon Zeitgenossen erkannten diese Schwäche des Systems. Sie hätten vermutlich Winston Churchill (1874 – 1965) zugestimmt, der 1947 pointiert formulierte: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind"

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: epoc, 2/2008
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