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Tagebuch: Rechnen mit Tröpfchen

Reinhard Breuer
Wissenschaftsjournalisten in Deutschland lesen, darüber wird in der Branche nicht groß gesprochen, vieles, vor allem aber wöchentlich „Science“ und „Nature“. Für die Reputation der darin schreibenden Forscher, aber eben auch für die globale Wissenschaftskommunikation spielt dieses Duopol eine erstaunliche Rolle. Am besten liest man beide Blätter gleich in ihrer Online-Vorabversion, damit man dann synchron mit ihrem Erscheinen im Internet schon die prickelndsten Themen im eigenen Tagesblatt abfeiern kann, das Ganze sogar noch Tage, bevor das Heft gedruckt vor einem liegt.

Ich mache es natürlich genauso, und das kostet Zeit. Aber wer nicht liest, bleibt dumm und verliert. Ziemlich nützlich sind in beiden Magazinen neben den Fachartikeln die Kommentare und beinahe journalistischen Features, geschrieben für fast jedermann, der mal in der Forschung einen Griffel gehalten hat.

Beeindruckend fand ich kürzlich in „Nature“ die Berichterstattung zum 4. Klimareport des CPCC – inklusive der doch noch offenen Probleme in der Klimaforschung (im April-Heft von „Spektrum“ publizieren wir auch einen Beitrag zu diesem Aspekt). Und in „Science“ fiel mir gerade eine kuriose Überschrift auf: „Can Droplets and Bubbles Think?“ (Science, Bd. 315, S. 775, 828 und 832). Also: Können Tröpfchen und Bläschen denken? Oder, um nicht gleich über wässrige künstliche Intelligenzen zu fabulieren, etwas bescheidener: Lässt sich mit Tröpfchen rechnen? Das wird sich weisen müssen. Was heute kurios erscheint, braucht es ja nicht immer zu bleiben.

Ich muss dabei an ein anderes Rechengerät denken, das einst genau den umgekehrten Weg ging: vom beliebten Universalgerät zum heutigen Kuriosum: der Rechenschieber (im April-Heft von Spektrum setzen wir dem vergessenen Instrument ein kleines Denkmal). Meinen Großvater, einen gestandenen Elektroingenieur in Regensburg, kann ich mir ohne diesen stummen Helfer gar nicht vorstellen. In Debatten zog er alle Augenblicke sein kleines Taschenmodell von Faber-Castell heraus, um mir, der ich gerade das Bruchrechnen übte, einen besonders kniffligen Sachverhalt zu erläutern. Mit Multiplikation, Division und dreistelliger Genauigkeit hatte er so eine Erklärung für fast alle (seine) Weltprobleme parat. Und in seiner Welt, dem Bayerischen Wald, war er damit allemal erfolgreich. Wie er einmal seinem staunenden Enkel erklärte, hatte er dort in den 1930er Jahren geholfen, etliche Gemeinden zu „elektrifizieren“, also mit Strom zu versorgen. Ja, auch in diesen, damals noch abgeschiedenen Hinterwaldgegenden gab es einst ein Leben vor dem elektrischen Strom. Und an der Wand in meines Großvaters Wohnzimmer, zwischen allerlei selbst erlegtem Rehgeweih, prunkte eine Urkunde: Ehrenbürger der Gemeinde Soundso, in Anerkennung für die Elektrifizierung.

Aber zurück zu den rechnenden Tröpfchen. Wie soll das gehen? Das führt auf das delikate Feld der Mikrofluidik, wo schon seit den 1990ern die Forscher mit winzigsten Tröpfchen hantieren. Im Bereich von Nanolitern verhalten sich Wasser oder ähnliche Chemikalien doch reichlich anders als Regentropfen. Adhäsionskräfte werden so stark, dass Nanotröpfchen etwa auf Oberflächen frei entlang Leiterbahnen geführt werden können, getrieben von elektrischen Feldern.

Wirkstoffe für Pharmazeutika lassen sie so im kleinsten Maßstab effizient mischen. In engsten Kanälen, nicht breiter als ein Zehntel Millimeter, lassen sich nun auch Tröpfchen (alternativ auch Bläschen) hindurchdrücken. An Verzweigungen „entscheidet“ sich das Nanogebilde, ob es nach links oder nach rechts weiter schwimmt, je nach dem, wo sich der Strömung gerade der geringste Widerstand entgegenstellt. Und da ein Tröpfchen selbst den Widerstand in dem gewählten Kanalzweig erhöht, wird sich ein nachfolgendes Tröpfchen in den anderen Kanal begeben.

In winzigen Ringkanälen lassen sich so auch ganze Tröpfchen serienweise durchschicken (und so Informationen speichern) und in andere Kanäle zurückführen (und so andere Infos verändern). Mit einiger Raffinesse lassen sich so die Booleschen Grundoperationen AND, OR, und NOT darstellen – der Tröpfchenrechner ist geboren. Reaktionszeiten im Millisekundentakt scheinen realisierbar. Der Chemiker Irving R. Epstein fragt an dieser Stelle in „Science“: „Kann in fluido mit in silico oder in cerebro konkurrieren?“

Zumindest für einfachere Steuerungs- und Speicherfunktionen scheinen sie geeignet, meint der Fachmann, auch Labyrinthrätsel habe man damit ja schon gelöst. Höhere Komplexitäten versprechen Zutaten aus der nichtlinearen Chemiedynamik. Dann wäre es vorbei mit dem Kuriosum. Vielleicht nutzen wir in wenigen Jahrzehnten auch solche Flüssigkeitsrechner, vermutlich ohne das überhaupt zu merken. Zum „denken“ wird es, vermute ich, aber wohl doch nicht ganz reichen.

Reinhard Breuer

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