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Futur III: Paradiesische Postapokalypse

Botschaft an eine untergegangene Spezies. Eine Kurzgeschichte von Christian Endres
Orcas in der Monterey Bay

Vieles hat sich verändert, seitdem ihr nicht mehr hier seid.

Eure Postapokalypse ist unser Paradies.

Jetzt herrschen wir Orcas über diese neue alte Welt.

Diesen Planeten, der mehr herrliches Blau kennt als jemals zuvor. Unser Königreich erstreckt sich weiter denn je, und wenn wir Meer oder Wasser sagen, meinen wir Welt, und umgekehrt.

Das Wort für Welt ist Wasser.

Wir wandern, wohin wir wollen, sind überall, vermehren uns allerorts.

Dies ist unsere Zeit.

Unser Paradies.

Wann immer wir tauchen, erblicken wir faszinierende, wundersame Dinge, wo vorher Land war. Und was wir nicht selbst sehen, das erfahren wir durch die Gesänge unserer Brüder und Schwestern, die um die ganze Welt getragen werden – so, wie wir ihnen von unseren eigenen Erkundungen und Entdeckungen berichten. Wir erzählen einander von den Orten, die uns mit dem Versprechen auf Abenteuer locken und die uns in manchen Fällen sogar wie lebendig gewordene Träume erscheinen.

Einmal schwamm ich durch jene geflutete Stadt, die früher von den Seeleuten Venedig genannt wurde und die als eine der ersten von der Gerechtigkeit des Meeres verschlungen wurde.

Es bereitete mir großes Vergnügen, im klaren grünblauen Wasser zu tauchen, über Kanälen und Brückenbögen zu treiben und in Sälen zu tanzen, anmutig unter einem Steg aus muschelbedecktem Stein hindurchzugleiten und anschließend steil nach oben zu schießen, immer der Sonne, dem nächsten Atemzug und der nächsten Blasloch-Fontäne entgegen.

Als wäre ich noch einmal ein übermütiges Kalb, das im Schutz seiner Schule spielt und lernt, bis es von der Mutter oder einer Tante zur Ordnung gerufen wird.

Gleichzeitig kam mir der Gedanke, wie es sein konnte, dass scheinbar intelligente Wesen solch einen Ort schufen und trotzdem so viel zerstörten – oder war es ihnen vielleicht stets klar, dass lediglich ihre Schöpfungen überdauern würden?

Andere Orcas berichten von ähnlichen Erlebnissen und Empfindungen inmitten versunkener Metropolen und Monumente. Von hohen Bohrinseln und langen Hängebrücken im Wasser oder von Wolkenkratzern, von denen nur noch Fragmente wie Inseln aus dem Meer ragen, die kaum Platz für die Reste der menschlichen Zivilisation bieten.

Zum Glück gibt es nicht mehr viele.

Menschen, meine ich.

Was schert uns das Treiben oder Schicksal dieser letzten uneinsichtigen Kreaturen, die dermaßen viel Leid über alle anderen gebracht haben? Die den Ozean und sein Geschenk des Lebens so wenig verstanden, trotz der ganzen Flüssigkeit in ihrem Inneren und ihrer zahlreichen Tränen zum Schluss?

Selbst heute schwebt eine Menge Plastikmüll im Wasser an uns vorbei, wenngleich die Bakterien ihn nach und nach zerfressen.

Was schert uns das Treiben oder Schicksal dieser letzten uneinsichtigen Kreaturen?

Natürlich musste es erst noch schlechter werden, ehe es endlich wieder besser werden konnte.

Ihr solltet sie sehen, die kümmerlichen letzten Menschen, wie sie sich auf den Schrottinseln und Hausdächern abmühen, mit ihren Hydrogärten, ihren Sonnenkollektoren, ihren Windrädern, ihren Regenzisternen, ihren Segelschiffen und ihren Netzen.

Gelegentlich fällt oder springt einer von ihnen ins Wasser, doch kein Orca würde sich dazu herablassen, eines dieser traurigen Geschöpfe zu fressen. Verdient hätten sie es – sie, die sie uns als Killerwale bezeichneten, uns abschlachteten oder uns von unseren Familien trennten, verschleppten und einsperrten, bis unsere Herzen brachen und wir wahnsinnig wurden.

Ich war einmal zugegen, als ein Mensch, der auf einer Plattform an einem Mast hantierte, den Halt verlor und kreischend ins Wasser klatschte. Zusammen mit einigen anderen schwamm ich zu dem Winzling hin, der im warmen Meer strampelte. Wir umkreisten ihn, unsere schwarzen Rückenflossen schnitten elegant durch die Wellen. Hin und wieder schoss einer von uns scharf an ihm vorbei und ließ ihn unsere Macht spüren, während andere seiner Art hilflos zusehen mussten und verzweifelte Rufe ausstießen.

Einer warf sogar einen Speer, hätte damit aber fast seinen Artgenossen im Wasser getroffen, statt einen von uns.

Sie haben nicht so viel gelernt, die Menschen.

Ich tauchte und näherte mich dem im Wasser strampelnden Wesen, verspürte eher Neugierde als sonst etwas. In seinen geweiteten Augen sah ich das Schuldbewusstsein einer ganzen Spezies, eines ganzen Zeitalters – und grenzenlose Furcht vor dem Ende.

Ob sie dieses Entsetzen auch in euren Augen erblickten, bevor sie euch vor Anbruch ihrer eigenen letzten Tage ausgerottet haben?

Nach einer Weile wurde uns das Spiel langweilig, deshalb zogen wir los und verfolgten lieber eine Gruppe Tümmler, mit denen wir weit weniger Gnade zeigten.

An der einen oder anderen verwandelten Küstenlinie unterhalten einige der versprengten Menschen Aquafarmen für Fisch oder Algen. Sie haben Glück, dass es im Ozean so viel und so viel bessere Beute gibt und wir nicht ihre geliebten Käfige plündern wollen. Wieso auch, wenn wir genauso gut ein leckeres Stück Leber von einem Weißen Hai haben können?

Wir sind frei. Bloß für die Menschen ist dieser ganze Planet ein Gefängnis geworden, dessen Gitterstäbe sie nicht einmal umfassen können.

Jetzt wissen sie, wie es uns ergangen ist.

Ein paar von ihnen – das dürfte euch nicht überraschen – haben natürlich noch weniger begriffen als der Rest.

Sie segeln in großen hölzernen Schiffen, die kleinere Ruderboote tragen, übers Meer. Wenn sie einen Wal sehen, völlig egal ob Blau-, Pott-, Finn-, Buckel- oder selbst Schwertwal, lassen sie diese Fangboote zu Wasser. Dann sind sie auf Blut aus.

Als hätte sich absolut nichts geändert.

Es scheint ihnen um mehr als den Körper zu gehen, wie bei einem Opfer an die alte Ordnung des Verstümmelns und Tötens; als hofften sie, dass alles wieder wird, wie es einmal war.

Das habt ihr vermutlich ebenfalls getan, oder?

Gehofft, dass alles wieder so wird wie früher, bevor die Menschen es zerstörten?

Ich will nichts beschönigen. Die Wahrheit ist wie eine Luftblase: Sie steigt immer nach oben an die Oberfläche.

Diese Fanatiker mit ihren Harpunen aus Holz, Knochen und – hin und wieder – Metall können einem Kalb oder einem einzelnen ausgewachsenen Tier durchaus Schaden zufügen.

Deshalb jagen wir diese unverbesserlichen Monster genauso wie sie uns. Als Wächter der Meere und Hüter des Paradieses.

Wir haben uns geschworen, dass keiner von ihnen einem Orca jemals wieder ungestraft weh tun wird.

Die Geschichten der Ältesten sind uns Warnung genug.

Sowie uns Albatrosse oder Möwen von einem Walfänger berichten, prescht eine Gruppe Jäger los. Die Vögel folgen uns wie eine Wolke aus kreischender Wut und irrsinnigem Hunger.

Oft erwarten die Menschen uns schon, schleudern uns ihre Harpunen und ihren Hass entgegen.

Der heftige Kampf auf offener See dauert selten lange, und noch seltener wird einer von uns schwerer verwundet.

Wir versenken und zertrümmern die kleinen Boote; manchmal gelingt es uns sogar, die großen Schiffe mit der Kraft und Wucht unserer Leiber so weit zu beschädigen, dass sie sinken. Die Menschen, die den ramponierten Vehikeln entfliehen und uns im Wasser ausgeliefert sind, schlagen wir mit unseren Schwanzflossen bewusstlos.

Und auch auf die Gefahr hin, dass euch das verwundert: Wir fressen sie nach wie vor nicht.

Stattdessen überlassen wir sie dem Urteil unserer Welt.

Was meistens bedeutet, dass die Haie, die respektvollen Abstand zu uns halten, sie sich nach unserem Abzug holen.

Ich ziehe den Tanz in einer Unterwasserruine oder die Jagd auf einen Tintenfisch dem hässlichen Reigen mit den Menschen jederzeit vor.

Was kann ich euch noch über die heutige Welt erzählen?

Ah, natürlich, das würde euch garantiert interessieren:

An den Polen ist es längst nicht mehr so kalt, aber es wird langsam wieder besser. Besser und kälter. Auch die Bestände der Robben haben sich erholt.

Für meisterhafte Jäger wie uns ist es gar keine Herausforderung mehr.

Weil ihr vor einem Großteil der Menschheit verschwunden seid, könnt ihr das leider nicht mehr miterleben.

Nicht noch einmal die Hülle und Fülle genießen, anstatt Hunger und Leid erdulden zu müssen.

Dabei haben wir den Konkurrenzkampf mit euch immer geschätzt.

Wir denken an euch, wenn wir von unten die Eisschollen rammen, die vor lauter Futter schwer im dunklen Wasser liegen.

Ihr lebt in unseren Gedanken und Gesängen weiter.

Mehr können wir nicht tun.

Aber so ist es eben.

Das ewige Leben in Wasser und Welt, Welt und Wasser.

Die Herrschaft der Orcas nach der Ära der Menschen.

Der Lauf der Dinge in unserem Königreich.

Unser Dasein nach dem Aussterben der Eisbären – in der Polarbär-Postapokalypse.

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