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'Bildung kompakt' - Wegweiser durch statistische Indikatoren

Eine vergleichende Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die scheinbar Defizite im deutschen Bildungssystem enthüllt, hat für politische Verstimmung gesorgt. Die reinen Zahlen bedürfen indes der richtigen Interpretation.

Statistiken sind in der Schul- und Hochschulpolitik beliebt, um Aktivitäten und Versäumnisse der jeweils zuständigen Regierungen sowie Vorzüge und Mängel der verschiedenen Bildungssysteme aufzuzeigen und gegeneinander aufzurechnen. Sie verdeutlichen jedoch auch die Zusammenhänge etwa zwischen Bildungsstand und Arbeitslosigkeit oder zwischen der Belastung der Lehrer und den Unterrichtszielen beziehungsweise -resultaten. Seit 1992 stellt die in vielfältigen statistischen Erhebungen erfahrene OECD auch regelmäßig Indikatoren für internationale Vergleiche im Bildungswesen zusammen. Die nunmehr dritte Ausgabe von "Education at a Glance – OECD indicators" betrifft das Schuljahr 1991/92 und ist am 11. April erschienen (Paris, OECD 1995, ISBN 92-64-14405-6). Unter dem Titel "Bildung kompakt – OECD-Indikatoren 1995" wird die deutsche Fassung am 26. Juni veröffentlicht.

Die Medienberichte über die Präsentation der Studie in Paris haben die Verantwortlichen in Bonn aufgeschreckt und zu Stellungnahmen veranlaßt. So meldeten beispielsweise die Agenturen, die OECD-Studie zeige, daß Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig finanzielle Mittel für die Bildung bereitstelle. Am 18. April versuchte darum die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), Cornelia Yzer, in einer Pressekonferenz diesen wenig schmeichelhaften Eindruck zu widerlegen. Was zunächst nur als gezielter, aber unpräziser Versuch erschien, die Politik der Bundesregierung zu rechtfertigen, erweist sich beim Studium der Originalunterlagen – die bei der Pressekonferenz merkwürdigerweise nicht vorlagen – als in vielen Punkten stichhaltig.

Anlaß für die negative Berichterstattung war beispielsweise der in der Pariser Pressemitteilung enthaltene Satz "In Deutschland (alte Bundesländer), Italien und den Niederlanden hat der Bildungssektor (mit weniger als zehn Prozent) den geringsten Anteil am gesamten Staatshaushalt". Daß diese Aussage freilich auch anders gedeutet werden kann, belegt der nachfolgende Absatz: "Zum Beispiel nehmen sich die Bildungsausgaben der Länder, die relativ umfangreiche öffentliche Mittel für die Sozialversicherung und das Gesundheitswesen aufwenden (wie Österreich, Frankreich, Deutschland und Schweden) prozentual gesehen vergleichsweise geringer aus."

Damit befindet man sich bereits mitten in der Komplexität der Bildungsstatistik, deren Inhalte sich nur schwer veranschaulichen lassen – schon gar nicht in einer Pressekonferenz, die bereits aufgrund der Einladung als reiner Rechtfertigungsversuch erscheinen mußte. Dennoch lassen sich aus den von der OECD vorgelegten Zahlen wichtige generelle Erkenntnisse gewinnen. Jeder der OECD-Mitgliedsstaaten vermag damit seine Stellung im Bildungswesen zu bestimmen, wobei er sich aber weder von scheinbar schlechten Zahlen zur Schönfärberei noch von augenscheinlich positiven Indikatoren zum Nichtstun verleiten lassen darf.

Die zahlreichen Einzelstatistiken in der Studie gliedern sich in drei Hauptabschnitte:

- Kosten, Ressourcen und Bildungswege (Herkunft und Verwendung der Gelder, Beteiligung an den einzelnen Bildungsabschnitten wie Grundschule, Sekundarbereich, Hochschule und berufliche Ausbildungsstätten sowie Unterrichtsmethoden und Personal),

- demographisches, soziales und ökonomisches Umfeld des Bildungswesens (Ausbildungsstand der Bevölkerung mit geschlechts- und altersspezifischen Unterschieden, Anteil der Erwerbstätigen und Arbeitslosen in Abhängigkeit von Bildungsstand und Alter sowie Erwartungen an das Schulsystem) sowie

- Bildungserfolge (Leistungen von Schülern und Studenten, Abschlußquoten der einzelnen Systeme und Ergebnisse für den Arbeitsmarkt).

Die Interpretation folgt jeweils dem gleichem Muster: politische Überlegungen (der Anlaß für jede einzelne Datenerhebung), Hauptergebnisse, Beschreibung und Auswertung der Einzelresultate sowie erläuternde Definitionen zu den jeweiligen Zahlen. Für die Untersuchung wurden alle OECD-Mitgliedsländer herangezogen, also außer allen westeuropäischen Staaten auch die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan. Erstmals erlaubt die diesjährige Ausgabe von "Bildung kompakt" auch einen ersten, freilich nur andeutungsweise aussagekräftigen Vergleich mit Tschechien, Ungarn, Polen und Rußland.


Deutschland an letzter Stelle

Der Studie zufolge wendeten die OECD-Staaten 1992 im Mittel 11,3 Prozent ihrer öffentlichen Ausgaben direkt für das gesamte Bildungswesen auf. Mit jeweils 8,0 Prozent nehmen dabei Deutschland und die Niederlande gemeinsam den letzten Rang ein – weit abgeschlagen vom Spitzenreiter Ungarn mit 18,1 Prozent (Bild 1). Noch krasser erscheint der Unterschied, wenn man die öffentlichen Gelder für private Einrichtungen einbezieht. Bei einem OECD-Mittelwert von dann 12,0 Prozent kommt Deutschland mit 8,5 Prozent ganz am Ende der Skala zu liegen. Bemerkenswert ist hier zum Beispiel Dänemark, das mit 2,4 Prozent öffentlicher Gelder für private Einrichtungen den direkten Anteil seiner öffentlichen Bildungsausgaben von 10,1 auf 12,5 Prozent steigerte.

Was das tertiäre Bildungssystem – also die Hochschulen, Fachhochschulen und sonstigen Ausbildungsstätten mit berufsqualifizierenden Abschlüssen – allein betrifft, so wendete Japan mit 1,0 Prozent der Gesamtausgaben den geringsten Anteil auf, weil es sich dabei im wesentlichen auf die private Finanzierung verlasse, wie es in der Studie heißt. In Deutschland betrug dieser Wert immerhin 2,2 Prozent. Neun Staaten gaben einen höheren Anteil – bis zu 4,1 Prozent – dafür aus.

Die Untersuchung hebt hervor, daß derartige Unterschiede zwischen den Ländern zum Teil auf ein Splitting der Bildungsausgaben in eine öffentliche und eine private Finanzierung zurückzuführen ist – was man auch im BMBF besonders betont, obwohl in der Studie genaue Angaben darüber für Deutschland fehlen. Zum anderen werden sie auch davon beeinflußt, wie umfassend die öffentlichen Aufwendungen außerhalb des Bildungswesens sind. In Deutschland, Österreich, Frankreich und Schweden zum Beispiel beanspruchen die Ausgaben für Soziales und Gesundheit eben einen größeren Anteil der öffentlichen Finanzen als in anderen Ländern.


Zentrale und regionale Anteile

Des weiteren spiegeln die Zahlen die unterschiedlichen staatsrechtlichen Regelungen in den einzelnen Ländern wider. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Australien, Belgien und Japan wird der größte Anteil der Gelder für die Schulen regional aufgebracht und verwendet. Für Deutschland, Belgien und Kanada gilt dies zudem für den Hochschulbereich, der in den meisten anderen Ländern hauptsächlich von der nationalen Regierung finanziert wird – in Neuseeland sogar vollständig (Bild 2).

Besonders tückisch ist ein Vergleich der Anteile der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die OECD-Länder wendeten zwischen 4,8 (Japan) und 7,9 (Finnland), im Mittel 6,1 Prozent ihres BIP für öffentliche und private Lehranstalten auf; Deutschland steht dabei mit 4,9 Prozent nur knapp vor Japan am Ende der Rangskala. Für öffentliche Bildungseinrichtungen allein gaben Kanada, Finnland und Ungarn 7,2 oder 7,3 Prozent aus, Deutschland hingegen mit 3,7 Prozent am wenigsten. Doch sind die in der OECD-Studie verwendeten Zahlen für die Bundesrepublik unvollständig; es fehlten die Angaben zu Privat- und Krankenpflegeschulen, landwirtschaftlichen Ausbildungszentren, zur Deutschen Forschungsgemeinschaft mit ihren Beiträgen an die Hochschulen, zum Bundesinstitut für Berufsbildung und zu vielen anderen Einrichtungen. Generell räumt die Studie denn auch ein: "Der Ausgabenvergleich im Tertiärbereich wird nach wie vor durch die mit dem Thema Forschungsgelder verbundenen Probleme behindert. Einerseits lassen die Länder ihre Forschungsaufwendungen in unterschiedlichem Maße in ihre Ausgabenzahlen mit einfließen; andererseits wurde bisher noch keine zufriedenstellende Methode entwickelt, die Komponente der Forschungsausgaben aus dem Gesamtbild herauszuhalten."


Bildungsstand der Bevölkerung

Die finanziellen Indikatoren mögen in der aktuellen politischen Diskussion besonders interessant sein – wichtiger sind jedoch die inhaltlichen Angaben der Studie. Ihr zufolge gibt es zwischen den OECD-Ländern große Unterschiede im Bildungsstand. So haben in Deutschland, Norwegen, der Schweiz und den USA etwa 80 Prozent der 25- bis 64jährigen den Sekundarbereich II (schulische oder berufliche Ausbildung) abgeschlossen, in Portugal und der Türkei hingegen nur etwa 15 Prozent. Doch nach der Altersstruktur aufgeschlüsselt ergibt sich ein differenzierteres Bild: In den südlichen europäischen Ländern hat von den 25- bis 34jährigen die drei- bis sechsfache Anzahl den Sekundarbereich II abgeschlossen als von den 55- bis 64jährigen – die Jugend holt demnach auf (Bild 3). Auch der tertiäre Bildungsabschluß variiert stark: In Kanada haben 41, in den USA 31 Prozent, in Italien, Portugal, Österreich und der Türkei hingegen weniger als zehn Prozent der 25- bis 64jährigen eine weitergehende berufsqualifizierende Ausbildung durchlaufen; in Deutschland sind es 22 Prozent.

In diesem Zusammenhang ist der Anteil der Altersgruppe von fünf bis 14 Jahren an der Gesamtbevölkerung wichtig: In Deutschland ist er mit zehn Prozent am geringsten, am höchsten hingegen in der Türkei (21,6 Prozent) gefolgt von Irland (18,7), Polen (17,2), Rußland (15,5) und Portugal (15,0). Ähnlich groß ist der Anteil der 15- bis 24jährigen in diesen Ländern. Die Autoren der Studie folgern daraus: "Die weniger wohlhabenden Länder müssen einen größeren Anteil ihres ohnehin schon schwachen Bruttoinlandsprodukts aufwenden, um denselben absoluten Betrag an Bildungsausgaben zu erreichen wie die meisten wohlhabenden Länder; außerdem müssen sie diese Summe auch noch auf mehr Schüler und Studenten verteilen."

Für das Jahr der Erhebung (1992) galt, daß die Arbeitslosenquoten im allgemeinen bei Personen mit einem Primar- oder Sekundarstufenabschluß höher sind als bei denen mit einem universitären oder einem anderen berufsqualifizierenden Abschluß. Das Risiko der Arbeitslosigkeit ist besonders hoch bei Berufsanfängern mit niedrigerem Schulabschluß; und erwartungsgemäß steigt das mittlere Arbeitseinkommen mit dem Bildungsstand an.

Die Auseinandersetzung auch um diese neue Publikation von OECD-Bildungsindikatoren läßt es als höchst dringlich erscheinen, künftig auch solche Indikatoren zu erarbeiten, welche "die Diskrepanzen innerhalb eines Landes oder zwischen Ländern aufdecken sollten". Erst wenn dieses in der Einführung der Studie formulierte Ziel erreicht ist und alle Staaten ihre Daten nach einheitlichem Schema melden, ließe sich ein eindeutiges Gesamtbild gewinnen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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