Brief an die Leser
Verehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
"Keiner gewinnt etwas, ohne daß ein anderer Schaden dabey hat", notierte der französische späthumanistische Skeptiker Michel de Montaigne (1533 bis 1592) im 21. Hauptstück des ersten Buches seiner "Essais". "Und was das schlimmste ist, prüfe nur ieder sein eigenes Herz, so wird er befinden, daß unsere geheimsten Wünsche meistentheils auf Kosten anderer entstehen und ernähret werden." Was geschieht etwa, wenn Kollegen einen Anlaß zu feiern haben und die Restaurant-Rechnung zu gleichen Teilen bezahlen wollen, aber die Speisen und Getränke ohne weitere Absprache à la carte bestellen? Siehe das – gestellte – Bild.
Indes kann es nützlich sein, alte Weisheiten unter einem neuen Aspekt zu überdenken. Unsere Autoren Natalie S. Glance und Bernardo A. Huberman haben sich des menschlichen Verhaltens angenommen, um zu untersuchen, wie bei allgemeinem Streben nach Eigennutz sich überhaupt je Gemeinsinn durchzusetzen vermag. Die Chance besteht durchaus, weil soziales Leben eben nicht nur aus einer zusammenhanglosen Folge immer gleicher Konstellationen der illustrierten Art besteht; vielmehr findet sich ein Schmarotzer alsbald in dem Dilemma, ein Schnäppchen verlockend zu finden, aber die Folgen seiner Entscheidung einkalkulieren und gewärtigen zu müssen, daß alle anderen bei nächster Gelegenheit gemäß egoistischer Maxime handeln. Wenn man in abstrahierender Analyse von beliebigen Gruppen zu Modellsystemen und vom Einzelfall zu mehreren Durchgängen des ernsten Spiels um individuellen und kollektiven Vorteil übergeht, werden auch überraschend dynamische Prozesse verständlich: Sogar unter lauter Selbstsüchtigen kann sich spontan Kooperation einstellen (Seite 36).
Die Moral von der Geschichte? Sowenig wie Montaigne heben die beiden Forscher den Zeigefinger. Sie sind Physiker und haben lediglich gerechnet – mit uns als Typus, ohne besonderen Anspruch an selbstkritische Einsicht.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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