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Miniaturisierte Fertigung: Chemieanlage aus Silizium

Ganze Chemie- und Pharmafabriken sollen bald auf einem Labortisch Platz finden: Dank Mikrotechnik werden Rohre und Kessel zu haarfeinen Kanälen und winzigen Mischern.


Früher füllte ein Computer eine ganze Halle, heute passt er in die Westentasche. Eine ähnliche Entwicklung dürfte sich in der chemischen Industrie wiederholen – zwar nicht für die gesamte Produktion, doch gehen Experten davon aus, dass viele Grund- und Feinchemikalien in einigen Jahren in miniaturisierten Anlagen produziert werden: Mikrometergroße Mischer und Reaktionskammern sollen einmal dicke Rohre und Rührkessel ersetzen. Solche Miniaturfabriken ließen sich aus handlichen, modularen Einheiten aufbauen, könnten also auch schnell neu konfiguriert werden. Heute dauert der Umbau einer Anlage noch mehrere Stunden. In einer Minifabrik wären Reaktor und Chemikalienzuführung mit einem Handgriff auszutauschen, die Produktion liefe nach wenigen Minuten weiter.

Eine Reihe weiterer Vorteile versprechen die Fabriken im Chipformat. So lässt sich Reaktionswärme aus Mikroreaktoren leichter ableiten, da ihr Volumen klein, ihre Oberfläche aber in der Relation sehr groß ist. Vor allem aber: Die Ausbeute des gewünschten Produkts dürfte meist höher sein, Nebenprodukte fallen vermutlich wesentlich weniger an. Denn Reaktionsbedingungen wie Druck und Temperatur sind in diesem Maßstab sehr viel exakter einzustellen, die Ausgangsstoffe vermischen sich extrem rasch, der Prozess ist insgesamt besser zu steuern.

"Vor allem Hersteller von Spezialchemikalien signalisieren Interesse", verrät Professor Wolfgang Ehrfeld, langjähriger Leiter des Instituts für Mikrotechnik in Mainz (IMM) und inzwischen im Vorstand der Ehrfeld Mikrotechnik. Er präsentierte auf der diesjährigen Hannover-Messe ein Gerät zur Herstellung von Duftstoffen, das Grundoperationen der Verfahrenstechnik beherrschte: Mischen, Wärmetauschen, Trennen und Extrahieren. Ein Komplettsystem soll demnächst auf den Markt kommen und je nach Ausstattung einen fünf- oder sechsstelligen Eurobetrag kosten.

Deutschland ist in der Mikrotechnik zurzeit weltweit führend. Unternehmen, Institute und Universitäten haben eine Vielzahl von Mischern und Wärmetauschern mit Kanälen von 3 bis 300 Mikrometern aus verschiedensten Materialien wie Silizium, Stahl, Glas oder Keramik entwickelt. So laufen beim Chemieunternehmen Merck seit August 1998 mehrere Mikroreaktoren für die Produktion einer Feinchemikalie. Derzeit setzt die Darmstädter Firma diese Technik unter anderem bei der Herstellung von Flüssigkristallen für LCD-Bildschirme ein. Das Interesse an der neuen Technologie ist groß, da flexible Produktion bei Merck zum Alltag gehört: Von mehr als zwei Dritteln der über 10000 verschiedenen Produkte werden weniger als zehn Kilogramm pro Jahr hergestellt.

Die BASF hat gleichfalls Interesse signalisiert und erprobte mit Mikroreaktoren etwa die Umwandlung von Alkohol zu einem Aldehyd durch Wasserstoffentzug. Solche Moleküle werden oft in Duftstoffen verwendet. Die Erfahrungen halfen, Prozesse im Großmaßstab zu optimieren. Der Konzern will selbst keine Mikroreaktoren bauen. "Aber wir verfolgen sehr aufmerksam vor allem solche Entwicklungen, die hohe Mengendurchsätze ermöglichen", sagt Ralf Böhling, der Leiter des Kinetiklabors in der Verfahrenstechnik.

Einige Fachleute warnen, dass die winzigen Kanäle und Zuführungen der Reaktoren keine Feststoffe zulassen – sie würden sofort verstopfen. Doch dieses Problem lässt sich umgehen, indem Chemikalien in gelöster Form verwendet werden. Im kontinuierlichen Betrieb können dann etwa durch einen würfelförmigen Reaktor mit drei Zentimeter Kantenlänge des Forschungszentrums Karlsruhe 7000 Liter pro Stunde gepumpt werden – im Jahr sind das 60000 Tonnen. Und wenn mehr gebraucht wird, lässt man einfach mehrere solcher Systeme parallel laufen.

Mitunter genügen aber auch kleinste Mengen. Brennstoffzellen verbrauchen Wasserstoff. Statt diesen energieaufwendig aus Wasser herzustellen, bauen die Entwickler einen so genannten Reformer in den Prozessablauf ein, der das begehrte Gas aus Methanol gewinnt. Das IMM hat diesen Schritt miniaturisiert. Ihr Reformer besteht aus Edelstahl und hat 300 Mikrometer dünne Kanäle. Eine Beschichtung aus Zinkoxid und Kupferoxid wirkt als Katalysator und setzt bei 280 Grad Celsius ein Gemisch aus Methanol und Wasserdampf in Wasserstoff und Kohlendioxid um. Bei einem Reformervolumen von nur acht Kubikzentimetern erzeugt das Gerät Brennstoff für eine Polymerelektrolyt-Brennstoffzelle mit 30 Watt Leistung.

Ein Nachteil der meisten heute existierenden Mikroreaktorsysteme ist, dass sie bislang nur für spezielle Prozesse gebaut wurden und nicht mit anderen Systemen kompatibel sind. Außerdem können sie nicht vollautomatisch betrieben werden. Neben der Ehrfeld Mikrotechnik arbeitet daher auch die Automatisierungssparte von Siemens an einem integrierten Ansatz. Mit Merck, dem Anlagenbauer Siemens Axiva, dem Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT) in Pfinztal bei Karlsruhe und unternehmenseigenen Forschern in Berlin arbeitet in einem Förderungsprojekt des Bundesforschungsministeriums (BMBF), das Mikroreaktionssysteme reif für die industrielle Praxis machen soll. Der Clou des Systems ist die Vernetzung des Chemikalienflusses mit der elektronischen Steuerung.

"Das System soll bis Mitte 2003 gebaut werden und eine modulare Mikrofluidik für die Versorgung mit Ausgangsstoffen, für die Produktaufbereitung sowie für Sensorik, Analytik und Prozessleittechnik enthalten", erklärt Astrid Lohf, die das Projekt bei betreut. Die Abmessungen werden so gewählt, dass es für die Verfahrensentwicklung und die kontinuierliche Produktion geeignet ist. Die Partner wollen dabei die Einführung der Nitrogruppe (-NO2) in organische Verbindungen, die Nitrierung, untersuchen: eine wichtige Reaktion in der Chemie, da diese funktionelle Gruppe leicht in andere Gruppen umgewandelt werden kann. Nitrierungen verlaufen oft unter großer Wärmeentwicklung und unspezifisch. Sie eignen sich daher sehr gut als Testfall für die Mikroreaktionstechnik im Industrieumfeld.

Um einen chemischen Prozess exakt zu regeln, müssen Druck, Temperatur, Massenfluss und auch die Dichte des Gemisches stets bekannt sein. Herkömmliche Sensoren sind zu groß für die Minianlagen, und die bisher verwendeten Mi-krodrucksensoren haben Ritzen, in denen Chemikalien haften bleiben können. Siemens-Forscher in Berlin bauten daher einen kombinierten Druck-Temperatur-Sensor aus Silizium. Darin fließen die Stoffe an einer Membran vorbei, die den Druck über einen Stempel an eine elektrisch leitende Struktur weitergibt. Deren Widerstand verändert sich und dient als Maß für den Druck. Hinter der Membran befindet sich zusätzlich ein Thermosensor.

Darüber hinaus ist es den Wissenschaftlern gelungen, den wohl weltweit kleinsten Sensor für Wärmeleitfähigkeit zu bauen. Dessen Messkammer ist einen Millimeter lang und enthält einen 0,3 Mikrometer dicken Golddraht – 200-mal so dünn wie ein Haar. Ändert sich seine Temperatur, variiert auch sein elektrischer Widerstand. Wird der erhitzte Draht nun von einem Medium umströmt, ergibt sich aus der Widerstandsänderung die Fähigkeit dieses Mediums, Wärme abzuleiten. Der Sensor eignet sich beispielsweise zur Analyse von Gasgemischen. Denn wenn sich deren Zusammensetzung ändert, variiert auch die Wärmeleitfähigkeit. Das Messprinzip ist seit langem bekannt, revolutionär ist indes die extreme Miniaturisierung.

Klassische Anlagenbauer dürften sich noch eine Weile schwer tun, solche Winzlinge ernst zu nehmen. Sie sind schlichtweg andere Dimensionen gewohnt und müssen umdenken. Doch laut einer Studie des IMM wird die große Zeit der Mikroreaktoren schon in drei Jahren beginnen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 80
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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