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Sicherheitspolitik: Das Übel an der Wurzel packen

Die Sicherheitspolitik muss sich darauf einstellen, dass Terroristen versuchen werden, den "Taterfolg" von New York und Washington noch zu übertreffen.


Der Schock sitzt tief. Es wird lange dauern, bis die Bilder des 11. September verarbeitet sind. Ein beispielloser Anschlag – ein strategisch geplanter, medial inszenierter Massenmord. Diese Attacke hat die gegenwärtig größte Gefahr für unsere Sicherheit offenbart: einen "Megaterrorismus", der hinsichtlich des Schadensausmaßes und der Zahl der Opfer keine Grenzen mehr kennt. Traditionelle Konflikte treten vor dieser Gefahr zurück. Die Sicherheitspolitik muss deshalb ihr Instrumentarium neu überdenken.

Der Kampf gegen den Megaterrorismus muss damit beginnen, dass wir im eigenen Denken Klarheit und Geradlinigkeit schaffen. Die erste Reaktion nach den Anschlägen in New York und Washington war von starken Emotionen geprägt. Politiker und Kommentatoren ließen sich dadurch zu manchen unbedachten Äußerungen hinreißen. Von "Krieg" war die Rede, gar von einem "Kreuzzug". Beide Begriffe sind jedoch in diesem Zusammenhang völlig fehl am Platz. Mehr noch: Sie entspringen einem falschen Denken, das die Weichen für weitere Aktivitäten in eine äußerst bedenkliche Richtung stellen könnte.

Krieg ist stets ein politischer Akt. Er wird zwischen Staaten oder zwischen einem Staat und einer anerkannten Kriegspartei – etwa einer nationalen Befreiungsbewegung – um politischer Ziele willen geführt. Und es gibt völkerrechtliche Normen, denen er unterliegt. Nichts davon trifft auf die terroristischen Verbrechen in den USA zu. Im Übrigen wünschen sich Terroristen nichts mehr als die Anerkennung als Kriegspartei. Sie sehen sich ja selbst als "Gotteskrieger", als Soldaten in einem "heiligen" Krieg gegen die Kräfte des Bösen. Doch Terroristen sind Verbrecher, und es ist nicht zuletzt im Hinblick auf ihr sympathisierendes Umfeld bedeutsam, sie nicht als Krieger anzuerkennen.

Dieser Erkenntnis haben sich auch die mehrheitlich moslemischen Länder nicht verschlossen. Die weltweite Unterstützung beziehungsweise Akzeptanz der Militäraktion der USA, die am 7. Oktober begonnen hat, zeigt denn auch, dass es eine multikulturelle Koalition gegen den Terrorismus gibt.

Wie geht es weiter?

Die US-Militäraktion gegen Ziele in Afghanistan und möglicherweise auch in anderen Staaten kann allerdings nur ein höchst eingeschränkter Teil einer vernünftigen Anti-Terrorismuspolitik sein. Vor allem darf sie sich nicht gegen ein Land in seiner Gesamtheit richten. Die bettelarme, von zwanzig Jahren Krieg geschundene Bevölkerung Afghanistans leidet unter der fanatischen, religiös verbrämten Diktatur und hat selbst weder an der Duldung terroristischer Gruppen noch an deren Aktivitäten Anteil. Zudem sollten die Vereinigten Staaten auch nicht verdrängen, dass sie selbst in den achtziger Jahren das Netzwerk Osama bin Ladens, später auch die Taliban selbst, aktiv unterstützt haben. Den USA kommt daher eine besondere Verantwortung zu, die Zivilbevölkerung von militärischen Aktionen zu verschonen. Eine Vergeltung muss sich strikt auf Standorte der Terroristen oder militärische Ziele ihrer Schutzmacht beschränken.

Aber was soll nun nach den Militärschlägen geschehen? Es gilt, das Übel an den Wurzeln zu packen. Doch eines muss dabei klar sein: Alle Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung müssen mit dem internationalen Recht in Einklang stehen. Und weil die Bedrohung nicht in wenigen Wochen oder Monaten zu beseitigen ist, müssen zugleich Vorkehrungen gegen weitere Terroranschläge getroffen werden.

Dass sich der Anschlag auf das World Trade Center in ähnlicher Inszenierung wiederholt, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Solange die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen im Flugverkehr und in besonders gefährdeten Einrichtungen in Kraft bleiben, werden sich Attentäter eher nach anderen Möglichkeiten umsehen. Hierbei geraten fast automatisch chemische und biologische Kampfstoffe ins Blickfeld.

Um den Terrorismus in dieser Ausprägung wirksam bekämpfen zu können, ist es nötig, an seinen Ursachen anzusetzen. Vorrangig, wenn auch nur langfristig wirksam, ist die Einflussnahme auf die sozialen und kulturellen Faktoren. Terroristennachwuchs wird nämlich hauptsächlich dort rekrutiert, wo viele – vor allem junge – unzufriedene und verzweifelte Menschen ohne Perspektive leben. Auf der Suche nach einem positiven Lebensinhalt werden sie leichte Beute radikaler Gruppen, die vielleicht noch eine Rückbesinnung auf vermeintlich authentische Traditionen der eigenen Kultur mit religiösem Wahn verbinden. Wenn jemand einer göttlichen Mission dienen kann, schafft dies eine mentale Sicherheit, die jedes Hinterfragen von vornherein tabuisiert.

Von allen Maßnahmen, die dieses sozial-kulturelle Umfeld verbessern können, überragt eine alle übrigen: die Bearbeitung derjenigen Konflikte, die in der moslemischen Welt die meiste Erbitterung ausgelöst haben, der Nahe Osten und Kaschmir. Vor allem der Nahostkonflikt reizt weit über die Region hinaus den Radikalismus von Moslems an. Er hat für das Verhältnis vieler Menschen im Islam zur Weltordnung und zum Westen eine enorme symbolische Bedeutung gewonnen.

Der zweite Eckpfeiler wäre nichts weniger als die Entwicklung einer Weltsozialpolitik. Den Menschen in benachteiligten Regionen der Welt müssen glaubhafte Perspektiven geboten werden, wie sie mit den Folgen der Globalisierung fertig werden können. Seit den Berichten der Brandt- und Brundtland-Kommissionen liegen eine Reihe von guten, aber nicht verwirklichten Vorschlägen vor. Ohne den Einsatz von Ressourcen werden sich Konzepte nicht in Handlungsprogramme umsetzen lassen. Insofern erschreckt es, wenn die Politik in diesen Tagen Mehrausgaben für die Bundeswehr und die innere Sicherheit beschließt, aber keine Mittel für Entwicklungsmaßnahmen bereitgestellt werden, die Krisen vorbeugen und Terrorismus eindämmen können.

Das dritte Element in diesem Umfeld ist der interkulturelle Dialog. Nur dadurch lassen sich Differenzen, Missverständnisse, Fehlwahrnehmungen und Vorurteile im Westen wie in der islamischen Welt abbauen. Der Dialog muss auf einer möglichst breiten Basis geführt werden, um tatsächlich in die Tiefe der jeweiligen Gesellschaft wirken zu können. Dem Westen als dem stärkeren Partner fällt hier eine größere Bringschuld zu. Aber die moslemische Welt muss sich bemühen, das im Westen vorherrschende Bild des religiösen Islam, das durch militante Geistliche geprägt ist, zurechtzurücken. Eine öffentliche, unmissverständliche Kampagne, unterstützt von den besten moslemischen Autoritäten, sollte klarstellen, dass die Denk- und Handlungsweisen der Terroristen mit den Lehren des Koran unvereinbar sind und sich die Täter außerhalb der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, stellen.

Eine weitere Ebene der Terrorismusbekämpfung liegt in der Stärkung der inneren Vorkehrungen. Hierzu gehören die Beschaffung und Auswertung von Informationen, die Beobachtung verdächtiger Gruppen und Individuen sowie die konsequente Strafverfolgung. Dabei muss genau beobachtet werden, inwieweit die extremistische politische Szene auf beiden Seiten des Spektrums sich auswärtigen Terroristen als Kooperationspartner anbietet. Der Antiamerikanismus ist auf beiden Seiten reichlich ausgeprägt.

Vorbeugen mit Verstand

Wo personelle, finanzielle und technische Ressourcen der zuständigen Behörden nicht reichen, müssen sie sicherlich vermehrt werden. Maßnahmen, die wesentliche Verfassungsgrundsätze aus den Angeln heben, dürfen jetzt aber nicht überhastet in die Wege geleitet werden. Das betrifft neue innere Aufgaben der Bundeswehr genauso wie eine mögliche Aufweichung des Datenschutzes.

Selbstredend müssen die am meisten gefährdeten Objekte so gut wie möglich geschützt werden. Für Liegenschaften mit hohem Symbolwert und hohem Personalaufkommen empfiehlt es sich etwa, die Klimaanlagen und Lüftungsschächte mit Filtern in Gasmaskenqualität und mit Sensoren zu versehen, die das Auftreten ungewöhnlicher Stoffe unverzüglich melden, sodass eine Evakuierung und Dekontamination der Gebäude ohne Verzögerung eingeleitet werden kann.

Wesentlich ist auch die Bündelung der Ressourcen medizinischer Behandlung und der Dekontamination. Eine internationale Zusammenarbeit ist hierbei ein unverzichtbares Muss. Die professionelle Perfektion, mit der die US-Behörden die Folgen des Doppelschlags in New York und Washington bewältigt haben, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Staaten der Erde nicht in der Lage wären, mit einer terroristisch ausgelösten Katastrophe selbst fertig zu werden. Wechselseitige Hilfe ist umso dringlicher, als die Anstrengungen, die nötig sein werden, um die Folgen eines Angriffs mit chemischen, biologischen oder gar nuklearen Kampfmitteln zu bewältigen, noch einmal ungleich höher sind.

Das Hauptinteresse sollte aber die Vorbeugung sein. Vielleicht die dramatischste Schwäche in der Terrorismusabwehr besteht darin, dass der ungehinderten Internationalisierung des terroristischen Netzwerks keine vergleichbare Veränderung auf der Seite der Dienste gegenübersteht, deren Aufgabe das Sammeln, der Austausch und die Auswertung von Informationen ist. Die Stärkung von Europol, am 21. September beschlossen, ist daher ein höchst sinnvoller Schritt.

Die Zusammenarbeit muss sich auch auf das Aufspüren und die Strafverfolgung von Terroristen ausdehnen. Ein Entwurf für eine Internationale Anti-Terrorismuskonvention liegt bereits vor. Eine weitere Konvention, die schon 1999 von der UN-Vollversammlung verabschiedet, aber nur zögerlich ratifiziert worden ist, liefert eine brauchbare Handhabe, um die Finanzierung von Terrorismus zu unterdrücken. Beide Rechtsinstrumente müssten schnellstmöglich in Kraft gesetzt werden.

Was hat sich nun weltpolitisch seit dem 11. September verändert? Dieses Datum war sicherlich keine Zeitenwende, wie manche Kommentatoren meinten, eher eine Wasserscheide. Der Megaterrorismus ist nun unbestreitbar das größte Sicherheitsproblem. Der Unilateralismus als sicherheitspolitische Strategie hat hingegen ausgedient. Die USA brauchen die Zusammenarbeit von Staaten, auch von solchen, die als potenzielle Rivalen, ja gar als Schurkenstaaten galten: Russland, China, Pakistan, vielleicht sogar Iran und Syrien.

Das gemeinsame Interesse, der neuen Hauptgefahr zu wehren, einigt die großen Mächte der Welt, einigt die Staaten über regionale und kulturelle Grenzen hinweg eher als es sie trennt. Daraus ergibt sich zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine zweite große Chance, das Versäumte nachzuholen und die Weltpolitik auf eine kooperative Basis zu stellen, in deren Zentrum der konsequente und nachhaltige Kampf gegen den Megaterrorismus steht.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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