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Der Golem der Forschung. Wie unsere Wissenschaft die Natur erfindet.

Berlin Verlag, Berlin 1999. 240 Seiten, DM 39,80.


Eine der bedeutendsten Arbeiten Albert Einsteins enthält an einer entscheidenden Stelle einen Fehler. Es geht um die Perihelpräzession des Merkur; das ist einer der Punkte, an denen sich Newtons klassische Gravitationstheorie und Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beobachtbar unterscheiden. Die Ellipse, auf welcher der Merkur die Sonne umläuft, rotiert ihrerseits – sehr langsam – um die Sonne. Einstein berechnet in seiner Veröffentlichung ("Erklärung der Perihelbewegung des Merkur aus der Allgemeinen Relativitätstheorie", Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1915, S. 831–839) in einer langen Herleitung die Geschwindigkeit dieser Präzession; dabei ist ein Integral falsch berechnet. Schulkenntnisse in Integralrechnung und eine übliche Formelsammlung reichen aus, das zu bestätigen.

Wenn die langjährige Beobachtung der Merkurbahn mit diesem falschen theoretischen Wert in Einklang steht, dann ist offensichtlich die Beobachtung oder die Theorie falsch – oder beides. Gleichwohl wird diese Beobachtung in den Büchern als das entscheidende Indiz gefeiert, das Einsteins Theorie gegenüber der Newtonschen zum Sieg verhalf.

Das vorliegende Buch belehrt uns nun, dass alles noch viel schlimmer ist. Eine von Einsteins Vorhersagen war, dass die Sonne das dicht an ihr vorbeistreifende Licht ferner Sterne ablenke. Nach der offiziellen Geschichte der Physik wurde diese Prognose durch Beobachtungen des Briten Arthur Eddington (1882–1944) bei der Sonnenfinsternis von 1919 glänzend bestätigt. Harry Collins und Trevor Pinch haben nachgesehen und festgestellt, dass Eddington seine Ergebnisse sehr heftig zugunsten dessen, was herauskommen sollte, interpretiert hat. In einem Doppelblindversuch wäre Einsteins Theorie mit Sicherheit nicht bestätigt worden.

Weitere sechs Geschichten zeichnen ein gleichermaßen unschmeichelhaftes Bild von den vermeintlich exakten Wissenschaften. Louis Pasteur (1822–1895) wird gerühmt als derjenige, der 1860 mit wenigen brillanten Experimenten die Theorie von der Urzeugung (der fortdauernden Entstehung von Lebendigem aus unbelebter Materie) widerlegte. Aber heute wissen wir, dass er einfach Glück gehabt hat: Unter etwas anderen Bedingungen wäre bei seinen Experimenten das Falsche herausgekommen, und sie bezogen ihre Beweiskraft aus Schlussfolgerungen, die alles andere als zwingend sind.

Es ist auch nicht so, dass aktuelle Streitfragen durch das berühmte experimentum crucis entschieden würden. Joseph Weber von der Universität von Maryland glaubte, 1969 große Mengen von Gravitationsstrahlung aus dem Weltraum nachgewiesen zu haben. Sein Experimentaufbau war so kompliziert und die Interpretation der Ergebnisse so schwierig, dass über Jahre hinweg sowohl Weber als auch seine Kritiker genügend Gründe für ihre jeweiligen Standpunkte fanden. Heute ist man sich darüber einig, dass Weber auf einem Irrweg war – aber nicht neue Daten haben diese Einigkeit herbeigeführt, sondern "die beißende Kritik, die sorgfältige Analyse und der kämpferische Stil Richard Garwins …, eines einflussreichen Mitglieds der physikalischen Gemeinde". Sein Auftreten – und nicht etwa seine Experimente – hat die anderen überzeugt.

Im Verein mit weiteren Kapiteln zum chemischen Gedächtnistransfer, zur kalten Kernfusion, zum Liebesleben der Rennechsen (Bild unten) und zu den fehlenden Sonnenneutrinos erzeugt das Buch einen ziemlich vernichtenden Gesamteindruck: Wenn die Wissenschaftler ihre Experimente nicht sauber durchführen, blind auf irgendwelche Autoritäten vertrauen und gelegentlich vor handfestem Betrug nicht zurückschrecken – wo bleibt da die gerühmte Exaktheit der "exakten" Wissenschaften? Haben etwa jene missgünstigen Soziologen Recht, die den Naturwissenschaften den Anspruch auf Erkenntnis der Realität bestreiten und ihnen allenfalls den Rang einer kulturellen Konvention einräumen?

Die Autoren haben denn auch für die erste Auflage ihres Buches ("The Golem. What everyone should know about science", 1993) mächtig Prügel von den Naturwissenschaftlern bezogen. In der zweiten Auflage (die der Übersetzung zu Grunde lag) setzen sie sich in einem Resümee mit dieser Kritik auseinander – in meinen Augen der interessanteste Teil des Buches.

Harry Collins ist Wissenschaftssoziologe in Cardiff (Wales), Trevor Pinch Wissenschaftshistoriker an der Cornell-Universität in Ithaca (New York); aber in ihrem Herzen sind beide richtige Physiker, die sich gegen Feuer aus den eigenen Reihen verteidigen müssen. Ja, es stimmt, 99,99 Prozent aller Physiker haben die Allgemeine Relativitätstheorie nicht selbst experimentell überprüft – noch nicht einmal die alten Arbeiten gelesen –, sondern vertrauen ihr vom Hörensagen. Das heißt, ihr Vertrauen gründet nicht auf Kenntnis der Natur, sondern der Gesellschaft. "Die Leute, für die Enterprise und Star Trek ebenso gültig sind wie die Spezielle Relativitätstheorie, haben nicht die falsche Physik – denn sie wissen nichts oder praktisch nichts von Physik –, sondern sie missverstehen die Art, wie die Gesellschaft organisiert ist."

Aber die Allgemeine Relativitätstheorie steht nicht im Zweifel, Einstein hat seinen Ruhm verdient, der Name Pasteurs (jedenfalls der seines Konservierungsverfahrens) ziert zu Recht jede Milchtüte, und Joseph Weber hat wirklich alles Mögliche gemessen, bloß keine Gravitationswellen. Nur ist es in jedem Fall nicht die Heldentat eines einzelnen, die uns diese Gewissheit verschafft, sondern ein langsames Anhäufen vieler schwacher Indizien, die erst in ihrer Gesamtheit stark genug sind.

Der wesentliche Punkt der Autoren ist ein anderer: Man soll sich von den Heldengeschichten verabschieden, denn an ihnen hängt ein Unfehlbarkeitsanspruch für die Wissenschaft, den sie nicht einlösen kann – und besser nicht erheben sollte, will sie sich nicht unglaubwürdig machen. "Keinesfalls vermag die Naturwissenschaft komplexe Meinungsverschiedenheiten durch rasche experimentelle Überprüfungen oder theoretische Offenbarungen beizulegen." Diese Haltung könnte in der Tat helfen, manchen Gutachterstreit richtig einzuschätzen.

Der Fehler in Einsteins Artikel ist übrigens ein schlichter Schreibfehler. Einstein hat offensichtlich in der Eile der Veröffentlichung – nur eine Woche zwischen öffentlichem Vortrag und Drucklegung – seine korrekte Berechnung so schlampig und fehlerhaft niedergeschrieben, dass die Fachkollegen damit nicht zu Rande kamen und das Ergebnis auf völlig anderem Wege nochmals herleiteten. Aber bis auf ein paar Physikhistoriker kümmert das keinen. Die Relativitätstheorie steht auf so vielen – zugegeben: dünnen – Beinen; da ist es ziemlich belanglos, wenn eines davon wegzuknicken scheint.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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