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Der kreative Faktor. Kleine Kritik der kreativen (Un-)vernunft


Was geschieht eigentlich, wenn man in künstlerischer, schriftstellerischer oder schlicht korrespondierender Absicht am Schreibtisch sitzt und auf den erlösenden Einfall wartet? Der niederländische Publizist Sybren Polet vergleicht es mit dem Flattern einer Fledermaus: "Die Fledermaus (der erteilte Auftrag, der empfangene Impuls) streift in einem dunklen Raum hin und her, auf der Suche nach verwendbaren oder entfernt verwandten Inhalten, Bildern, Worten (der Auftrag ist vage), und nimmt, unentwegt flatternd, auf, was aus dem immensen Innenraum zu ihrer Mission paßt; es gibt unterschiedliche Grade der Verwendbarkeit, über die nicht gleich entschieden werden muß, das geschieht später: um den Bruchteil einer Sekunde später und fast simultan oder in einem bewußteren Stadium, zum Beispiel in der Phase der Feinabstimmung, Reflexion, ,Verifikation'."

Diese Vorstellung gleicht einer Einteilung in Stadien, die G. Wallas 1926 in "The art of thought" in Anlehnung an das Werk "Science et méthode" (1909) des französischen Mathematikers und Physikers Henri Poincaré (1854 bis 1912) vornahm: Präparation (die oft lange Vorbereitung), Inkubation (das Fermentieren und langsame Reifen des Gedankens), Illumination (die blitzartige Erleuchtung, der Einfall, die Auflösung des Problems) und Verifikation (die bewußte Kontrolle). Die Stadien müssen nicht strikt der Reihe nach durchlaufen werden; chaotische Vernetzungen und Verirrungen sind vorstellbar.

Polet gilt als Mitbegründer der modernen Literatur in seinem Land. Er hat Romane, Lyrik, dramatische Werke und theoretische Schriften verfaßt, kann also auf reichhaltige eigene Erfahrungen zurückgreifen. Überdies hat er zusammengetragen, was geniale Dichter und Gelehrte über den Entstehungsprozeß von Sprachschöpfungen in ihrem Hirn geäußert haben. Damit übermittelt Polet dem Leser eine Ahnung von dem, was sich mehr oder weniger unbewußt in der Gedankenwelt eines produktiv denkenden Menschen abspielt. Bonmots wie "Bevor ,gedacht' wird, muß schon ,gedichtet' worden sein" (Friedrich Nietzsche) oder "The poet does not know what he has to say, until he has said it" (T. S. Eliot) stellt er seinen Ausführungen voran. Aus der Synopsis relativ willkürlicher Beispiele wird deutlich, daß ein Grundmuster intellektueller Aktivität wirksam ist, ob es sich nun um mathematische Geistesblitze, musikalische Einfälle, Metaphern oder Reime, um kreatives Kochen oder inspirierte Formen des Zusammenlebens handelt. Zwischen dem Prozeß der Sprachproduktion und dem des Erfindens besteht demnach kein wesentlicher Unterschied.

Es geht Polet darum, der zivilisierten Rationalität ihren Rang als Maßstab kreativen Tuns zu nehmen: "Für jemanden, der mit einer gehörigen Portion Rationalismus oder wissenschaftlicher Skepsis ausgestattet ist, wird es anfangs nicht leicht sein, sich blindlings dem kreativen, für irrational gehaltenen Impuls zu überlassen, selbst wenn man weiß, daß während des Prozesses alle Eingriffe und wiederholte ,Verifikation' möglich sind. Doch jeder kreative Denker wird – und zwar meist recht schnell – einsehen, daß sich alle aufgeworfenen Schwellen antiproduktiv auswirken und daß ein allzu frühes Evaluieren, Rationalisieren und Eingrenzen das spontane Denken blockiert und den inventiven Strom abbremst" (Seiten 30 und 31).

Die Künstler verfügen über Tricks, den "Flug der Fledermaus" in Gang zu halten. Dafür gibt Polet, in Anlehnung an das Buch "Der Menschenzoo" des Verhaltensbiologen Desmond Morris, instruktive Spielregeln an für das, was er "ästhetische Erforschung" nennt (Seite 184): "1. Man muß das Unbekannte erkunden, bis es bekannt geworden ist. 2. Man muß dem Bekannten rhythmische Wiederholung auferlegen. 3. Man muß diese Wiederholung auf so vielfache Art und Weise variieren wie nur möglich. 4. Man muß die zufriedenstellendsten Variationen auswählen und sie auf Kosten der anderen weiterentwickeln. 5. Man muß diese Variationen miteinander kombinieren und neukombinieren, und: 6. Man muß all dies um seiner selbst willen tun, als Selbstzweck."

Polet versteht das Schöpferische wesentlich als Selbsthervorbringung, als Möglichkeit, Abstand zu sich selbst zu schaffen. In diesem Kontext verwundert, daß er kaum mehr als fünf Prozent der Menschen zu ausgesprochenen Begabungen zählt (Seite 39). Gibt es gegenwärtig nicht bereits mehr Kreativitätslüsterne, aber weniger Aufnahmewillige als je zuvor?

Im einzelnen wirken mehrere Passagen, als wäre die letzte Stufe des kreativen Prozesses, die bewußte Kontrolle, zu kurz gekommen. Polets Überlegungen zu den Motiven der Dichter gleiten mitunter in klinisch-psychologische Abgründe, wenn er "selbstvernichtenden Narzißmus mit hysterischem Einschlag" (Seite 225), Depressivität und "schizoides Gefühl der Sinnlosigkeit", psychosomatische Krankheitssymtome wie Atemnot sowie Gicht, schlechte Augen und "kompensatorische orale Befriedigung durch übermäßiges Essen" (Seite 221) am Einzelfall überbetont. Im sechsten Kapitel verweist er auf die Charakterisierung des Menschen als "animal ludens" (spielendes Tier) - ohne Zusammenhang mit dem Gesamtthema, obwohl sich eine Gedankenbrücke zum Schöpferischen in Kunst, Literatur, Zeitungslektüre, Spiel, Sport als "supernormalen Sti-mulanzien" (Seite 183) anbietet. Einige ausufernde Exkurse wie die Kapitel "Der Sprachhöcker" und "Kreieren heißt Spielen" wirken merkwürdig funktionslos.

Das Buch läßt sich insgesamt als die Aufforderung verstehen, der eigenen Phantasie mehr zu vertrauen – und der Wirksamkeit von sprachlich formuliertem Gedankengut, wofür Polet etliche treffsichere Beispiele bietet. Verbündet im Geiste mit Platon gibt er zu bedenken: "Worthaß hat denselben Ursprung wie Menschenhaß." In der Quintessenz lernt der Literat, der Welt "Widerworte": "AntiWorte" zu geben, und übt subversiven Sprachgebrauch (Seite 159). "Wirklichkeit ruft Wirklichkeit hervor, Wirklichkeit ruft Sprache hervor. Sprache ruft Sprache hervor, Sprache ruft Wirklichkeit hervor" (Seite 195). "Realismus ist eine Idee der Realität, die Realität einer Idee ist ein Realismus" (Seite 194). Last but not least: "Wirklichkeit ist hier vor allem das, was als solche bezeichnet wird. Realismus ist die Verwirklichung dieser Wirklichkeit" (Seite 296).

Mit dieser Kunst des Aufschreibens und Mitteilens von Gedanken, so scheint die Botschaft herauslesbar, muß Geschichte nicht wie bisher ein "Friedhof der Träume" bleiben, wie der Soziologe Norbert Elias sie beschreibt, sondern Gedanken können Ereignisse bewirken, durch die sich die Ideale bewahrheiten.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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